| # taz.de -- Eine Erzählung von Katrin Seddig: Glitzer, Feen und saure Kotze | |
| > Christine ist allein: weil sie verlassen wurde und weil sie allein sein | |
| > will. Und sie trifft die Antifa-Fee. Ein Weihnachtsmärchen zwischen den | |
| > Jahren. | |
| Bild: Christine in der Stadt | |
| Ein feiner Tropfennebel durchweicht jede Haut, jedes Fell und den | |
| dunkelgrünen Schlafsack des Obdachlosen, der unten im S-Bahnhof an die Wand | |
| gepresst schläft. Der Himmel leuchtet orange, die Stadt ist eine ewig | |
| geöffnete, schmutzig schillernde, kalte Kneipe. Böller zerfetzen die Nacht, | |
| verfrühte Raketen pfeifen in den Himmel, blühen prächtig, vergehen, stürzen | |
| ab. | |
| Feuchte Kälte kriecht in Christines Mantelärmel. Sie trägt ihre gelben | |
| Stiefel, den flusigen Wollmantel, auf dem Kopf eine Strickmütze. Menschen | |
| ziehen an ihr vorbei, Sektflaschen in den Händen, aufgekratzt, albern, die | |
| Alten haben sich untergehakt, ziehen den Kopf ein, Schildkröten ohne | |
| Gehäuse. Jungs in aufgepumpten Steppjacken schubsen sich, spielen sich auf, | |
| mit ihrer Böllermunition. Christine ist unsichtbar. Alt, allein, | |
| uninteressant. Das ist, was sie über sich denkt. Vielleicht nicht gerade | |
| immer, aber jetzt denkt sie das, in der letzten Stunde des alten Jahres. | |
| Sie sieht die Lichter in den Fenstern, brennende Weihnachtsbäume neben | |
| riesigen Fernsehern, es kommt ihr alles übertrieben vor, der ganze Schmuck, | |
| das Blinken und Leuchten, auf das sie dieses Jahr verzichtet hat. Zwei | |
| große Kisten Weihnachtsschmuck stehen in ihrem Keller. Den hatte sie | |
| mitgenommen, als sie – überraschend schnell hatte das geklappt – ausgezogen | |
| war. Aber sie hat ihn nicht gebraucht. | |
| Ihre erwachsenen Kinder wunderten sich: „Du hast gar nicht geschmückt?“ | |
| Eine einzige Kerze brannte auf dem Tisch. „Ich konnte mich nicht | |
| entschließen“, hatte Christine gesagt. „Ich weiß noch nicht, wie ich jetzt | |
| leben will.“ | |
| Anfang Dezember hat Peter sie verlassen. „Ich liebe dich nicht mehr“. | |
| Eine Frau war im Spiel, natürlich, auch wenn er behauptete, dass das keine | |
| Rolle gespielt hatte, für Christine hatte es eine gespielt. | |
| Die Grausamkeit dieses Vorganges ließ sie erstarren. Obwohl sie redete und | |
| weinte und alles Mögliche versuchte, um ihn zu überzeugen, ihm sogar | |
| großmütig die Frau verzieh, war sie erstarrt, wie der kleine Peter im | |
| Palast der Eiskönigin, aber der war wenigstens zufrieden. Sie saß viel und | |
| starrte. Manchmal schrak sie auf und dann wurde ihr ihr Zustand bewusst. | |
| Die meiste Zeit aber nicht. Die meiste Zeit verbrachte sie damit, um ihr | |
| altes Leben zu ringen, es zurückzugewinnen. Es gelang ihr nicht, es war | |
| vorbei. Und sie wusste es, auch wenn sie es nicht glauben wollte. | |
| Weihnachten lag hinter ihr. Sibylle hatte gesagt, „Komm zu uns, wir freuen | |
| uns!“ Sie hatte auch eine Einladung an die Nordsee erhalten, von Britta, | |
| und hätte sogar eine Reise mitmachen können, in den Schnee. Sie hätte bei | |
| Frank feiern können, oder bei Daniel und Silke. Aber sie wollte nicht. | |
| „Du kommst mir irgendwie trotzig vor“, hatte Sibylle gesagt. | |
| „Es fühlt sich auch so an“, hatte Christine geantwortet. „Ich kann es ni… | |
| ändern.“ | |
| Was war das für ein Trotz? Sie konnte nicht glauben, dass sie Weihnachten | |
| nicht mit Peter feiern würde, in ihrem Wohnzimmer, mit demselben | |
| ausgefransten, künstlichen Baum, den sie schon seit Jahren benutzten, über | |
| den sie sich immer zusammen lustig machten. Dass sie sich nicht auf dem | |
| Sofa an ihn kuscheln und Krokantkugeln in sich hineinstopfen würde, während | |
| er die nächste Flasche Sekt öffnete. Wenn sie eine der Einladungen | |
| angenommen hätte, wäre es ihr so vorgekommen, als ob sie es akzeptiert | |
| hätte, und das hatte sie nicht, das konnte sie einfach nicht. Bis spät am | |
| Heiligabend hatte sie sich den Rest des Glaubens bewahrt, dass er sie | |
| anrufen, dass er vor der Tür stehen und alles bereuen würde. So etwas kommt | |
| doch vor? In Weihnachtsfilmen? | |
| Sie hatte ihre Irrationalität reflektiert. Aber sie konnte sich dennoch | |
| nicht von ihrem Trotz befreien. Blieb sie halt allein. Sollte er mal sehen! | |
| Dabei sah er nichts, konnte es nicht sehen. Oder konnte er? Weihnachten | |
| ging vorüber, ohne, dass es sie tötete, auch wenn es sich so anfühlte. | |
| Silvester ist ihr nie so wichtig gewesen wie Weihnachten, aber auch zu | |
| diesem Anlass hatte sie die Einladungen ignoriert, mit einer durchdacht | |
| formulierten Begründung: „Es erscheint mir konsequent und richtig, die | |
| Feiertage allein zu verbringen. Im nächsten Jahr kann ich es dann anders | |
| machen“. | |
| „Das ist doch dumm“, sagten ihre Freund*innen. Es war vielleicht dumm, aber | |
| sie wollte es so. Auch wenn sie alles, wie es jetzt war, ganz und gar nicht | |
| wollte. | |
| Jetzt hat Christine das Fernsehen satt, jetzt macht sie einen Spaziergang. | |
| Das neue Jahr wartet schon am Horizont, wo die Stadt heute so glüht, mehr | |
| als sonst glüht die Stadt, die auch, aber größer und fremder, ihr Zuhause | |
| ist. Diese reiche, glitzernde Stadt, arm und bitterarm, feist, | |
| vollgefressen, so ekelhaft vollgefressen. Christine geht jetzt diesen Weg | |
| entlang, ganz zufällig geht sie diesen Weg entlang, aber es ist der Weg zu | |
| ihrem alten Zuhause. Sie ist wie magisch angezogen von diesem Weg, aber das | |
| ist keine Magie, es ist Schwäche und Sehnsucht. Sehnsucht zieht Christine | |
| zu ihrem alten Zuhause, maximal will sie den Schmerz auskosten, ein | |
| schwelgerischer Masochismus hat sie gepackt. | |
| Christina steht vor dem Haus, vor seiner Wohnung. Die Fenster sind dunkel. | |
| Sie starrt auf die dunklen Fenster, fühlt den Schlüssel in der | |
| Manteltasche. Ist es Zufall, dass sie ihn mitgenommen hat? Der Schlüssel | |
| liegt schon lange in ihrer Manteltasche, seit dem letzten Winter, sie trägt | |
| ihn jetzt schon seit einigen Wochen mit sich herum, hat ihn einfach nicht | |
| herausgenommen, ist es also wirklich Zufall? Als er die Schlüssel von ihr | |
| zurückbekam, hatte er – und auch sie – vergessen, dass sie einst einen hat | |
| nachmachen lassen. | |
| Sie schließt die Haustür auf, steigt die Treppe hoch, legt das Ohr an die | |
| Wohnungstür: Stille, steckt den Schlüssel in das Schloss, schließt auf und | |
| steht auch schon in der Wohnung. Licht brennt, Peter kommt ihr mit einer | |
| Schüssel Rosenkohl entgegen. | |
| „Sie hatten noch Appetit.“ | |
| Sein Gesicht ist gerötet, aus dem Wohnzimmer hört sie Stimmen. Angelika und | |
| Magdalena und Jochen. | |
| Peter stellt die Schüssel ab, hilft ihr aus dem Mantel, er ist aufgekratzt, | |
| voller Charme, wie immer, und in guter Stimmung. Christine sollte sich | |
| wundern, aber sie tut es nicht, denn was ihr gerade geschieht, ist das, was | |
| sie sich seit Wochen so wünscht, dass alles andere in ihrem Leben ohne | |
| Bedeutung geworden war. Ist es ein Traum? Oder ist die Trennung und ihr | |
| neues Leben in der neuen Wohnung der Traum? | |
| „War es kalt draußen?“, sagt Peter. „Sind die Kopfschmerzen ein bisschen | |
| besser geworden?“ | |
| Im Wohnzimmer hängen sie jetzt schon ein bisschen durch: Angelika hat | |
| glänzende Augen und einen Rotweinmund, ihr großer Zeh hat ein Loch in die | |
| Strumpfhose gebohrt. Jochen sitzt auf dem Fußhocker, der zum Ohrensessel | |
| gehört, das Hemd aufgeknöpft, die Unterarme lässig auf den Oberschenkeln | |
| abgelegt. Magdalena trägt ihr goldenes Silvesterkleid, riesige, künstliche | |
| Perlen und lacht ein bisschen zu laut über irgendwas, das Jochen gerade | |
| gesagt hat. Die Szene ist Christine vertraut, aber nicht so, als würde sie | |
| sich wiederholen. Es ist Vergangenheit, die gerade stattfindet. Sie will | |
| den Traum nicht auflösen und sich nicht vergewissern, sie will es alles | |
| schätzen, wie sie es nie geschätzt hat, als sie noch nicht wusste, dass es | |
| eines Tages vorbei sein würde, obwohl sie doch hätte wissen müssen, dass | |
| alles irgendwann vorbei ist, dass nichts bleibt, wie es ist, wirklich gar | |
| nichts, nicht einmal sie selbst. Aber wissen und erfahren sind zwei | |
| verschiedene Dinge. | |
| Sie schätzt es so sehr. Jeden Unsinn, den Jochen, der lässige und schöne | |
| Jochen, von sich gibt, schätzt Christina. | |
| Jochen sagt, „Ich wünschte, ich könnte auch kochen.“ | |
| „Jeder kann kochen“, sagt Angelika, „man muss es nur wollen.“ | |
| „Dann will ich es nicht.“ | |
| „Aber du hast doch gerade gesagt, dass du dir wünschst, du könntest | |
| kochen?“ | |
| „Das ist einfach nur dummes Gerede, in Wirklichkeit wünscht er sich das gar | |
| nicht. Er will nur sagen, schön, dass ihr es könnt, aber mir ist das zu | |
| bürgerlich“, sagt Magdalena. | |
| „Wieso bürgerlich?“, sagt Peter. | |
| „Na ja, das ist eben so.“ | |
| „Arbeiter, kochen die nicht?“, sagt Peter, „Bäuerinnen? Die kochen doch.… | |
| „Darum geht es nicht“, sagt Magdalena, „nicht um diese Art zu kochen. | |
| Nicht, weil man es muss.“ | |
| „Sondern?“ | |
| „Dieser Rosenkohl zum Beispiel, aus dem Bioladen, oder? Wochenmarkt? In | |
| Riesling gegart und mit Pfefferkuchenbröseln kandiert.“ | |
| „Warum?“ | |
| „Es ist trendy. Die Leute bleiben zu Hause und kochen.“ | |
| „Ist das schlimm?“ | |
| „Die Kultur hat das Nachsehen, die Kultur geht flöten.“ | |
| „Kochen ist Kultur“, sagt Peter und schenkt Wein nach. | |
| „Nein“, sagt Magdalena. „Du weißt ganz genau, was ich meine. Christine?�… | |
| Christine ist so damit beschäftigt, es alles aus vollem Herzen zu schätzen, | |
| dass ihr gar nicht bewusst ist, dass sie Teil des Ganzen ist. Ist sie | |
| überhaupt hier? | |
| „Christine?“ | |
| „Kochen …“, sagt Christine, die anderen sehen sie an. | |
| „Christine hat dazu keine Meinung“, sagt Peter. | |
| „Woher willst du das wissen?“, sagt Angelika. | |
| „Du siehst es doch.“ | |
| „Ich habe eine Meinung“, sagt Christine. | |
| „Ja?“ | |
| „Es ist nicht so wichtig“, sagt Christine. | |
| „Klar“, sagt Peter. Und sie fühlt, dass er verärgert ist. Dass es nicht | |
| wegen dieses Satzes ist, sondern wegen anderer Dinge, die sich in ihm | |
| angesammelt haben. Dass er sie ablehnt. Es macht sich körperlich bemerkbar, | |
| als Rumoren in Christines Magen, beklemmender Enge in ihrer Brust, | |
| schmerzhaftem Druck auf ihre Schläfen. | |
| Jochen sagt, „Ich sehe das wie Christine. Essen muss man, sich ernähren, | |
| das ist alles. Kochen ist o. k., aber es ist nicht so wichtig.“ | |
| „Was ist denn wichtig?“, sagt Angelika. | |
| „Wie jetzt, in welchem Zusammenhang?“, fragt Magdalena, „das kann man doch | |
| so gar nicht sagen.“ | |
| „Liebe“, sagt Christine. Sie wollte es nicht sagen, es ist passiert, bevor | |
| sie darüber nachdenken konnte. | |
| „Mein Gott!“, sagt Peter, er schämt sich für sie. Seine Scham erreicht sie | |
| jetzt als aufsteigende Übelkeit, Sodbrennen im Hals. Und während er ihr | |
| Sekt nachschenkt und sie dabei anlächelt, fühlt sie – als stechenden | |
| Schmerz in den Nieren –, dass sie ihn abstößt, ja anwidert. | |
| „Liebe“, wiederholt Christine, obwohl sie jetzt schon darüber nachgedacht | |
| hat, dass sie nicht darüber nachgedacht hat, es lässt sich einfach nicht | |
| unter Kontrolle bringen, nichts mehr, und es kommt ihr hoch. Sie | |
| verschluckt sich, hustet, würgt. | |
| Sie hastet ins Bad, hält sich am Waschbecken fest, betrachtet sich im | |
| Spiegel. Wer ist denn diese neurotische Frau? Was sind das für fremde | |
| Augen? Sie verlässt die Wohnung, ohne sich zu verabschieden, läuft den Weg | |
| zurück, den sie gekommen ist. Die Schmerzen haben sie immer noch fest im | |
| Griff, der Tropfennebel legt sich erneut auf ihr Gesicht, ihren Hals, ihren | |
| Mantel, weicht sie vollkommen auf. Es böllert um die Ecke, in einer | |
| Seitenstraßen, in den Höfen. | |
| Auf dem Glascontainer an der Straßenecke sitzt eine kleine Fee, sie hat die | |
| Größe eines Gartenzwerges, ist kugelrund und wunderschön. Sie trägt ein | |
| hellblaues, um sie herumschwebendes Gewand und in der rechten Hand einen | |
| flimmernden Zauberstab, an dessen Spitze ein flimmerndes Anarcho-A steckt. | |
| „Wo kommst du denn her?“, fragt die Fee, mit einer Stimme, die das Glas im | |
| Container zum Sirren bringt. „Von deinem Ex?“, flötet die Fee. | |
| „Vielleicht.“ | |
| „Lüg nicht“, sagt die Fee. „Er ist bei dieser Barbara.“ | |
| „Interessiert mich nicht“, sagt Christine, „und außerdem war er da.“ | |
| „Das glaube ich kaum“, sagt die Fee, „weder das Erste noch das Letzte.“ | |
| „Was willst du, wer bist du?“, fragt Christine und übergibt sich in einem | |
| Schwall vor den Glascontainer. Magensäure tropft ihr aus dem Mund. Tränen | |
| stehen ihr in den Augen. | |
| „Ich bin die kleine Antifa-Fee“, sagt die Fee und hüpft und schwenkt ihren | |
| Stab, „siehst du nicht das Zeichen an meinem Zauberstab, das ist ein | |
| Anarcho-A, daran erkennst du mich.“ | |
| „Was ist eine Antifa-Fee?“, sagt Christine und würgt noch ein bisschen was | |
| hoch, putzt sich den Mund mit einem Taschentuch ab. | |
| „Bist du dumm? Eine Antifa-Fee ist gegen Faschismus, Kapitalismus, Trump, | |
| Putin, gegen die AfD, Pick-up-Artists, Tradwifes, Investmentgurus und | |
| vieles mehr, aber das sind die Basics“, sagt die kleine Fee. | |
| „Ich bin maximal anarchistisch und kann tun, was ich will, aber alles, was | |
| ich tue, ist antifaschistisch, feministisch und antikapitalistisch. Also, | |
| wünsche dir kein Geld von mir, denn das bekommst du nicht. Keinen Reichtum, | |
| keine materiellen Güter.“ | |
| „Oh, alles klar“, sagt Christine, „Ich habe keinen Wunsch, ich will nur | |
| nach Hause.“ | |
| „Ich begleite dich“, sagt die Fee und schwebt um Christine herum, das | |
| hellblaue Kleid leuchtet von innen, der Zauberstab glimmert und glitzert. | |
| „Frag ihn doch, was er sich wünscht“, sagt Christine, denn inzwischen sind | |
| sie am S-Bahnhof angelangt, da liegt noch der Mann, in seinem dunkelgrünen | |
| Schlafsack. | |
| „Was wünschst du dir, mein Lieber?“, fragt die kleine Antifa-Fee den | |
| Obdachlosen. | |
| „Echt jetzt?“, der Mann setzt sich auf, kratzt sich mit beiden Händen durch | |
| seine Mütze hindurch am Kopf, „Willst du mich verarschen? Verarsch mich | |
| nicht!“ | |
| „Echt“, sagt die Fee. „Total echt.“ | |
| „Fünf Euro“, sagt der Mann. | |
| „Geld ist nicht drin“, sagt Christine. | |
| „Das stimmt leider“, sagt die Fee, schwebt hin und her, und das Anarcho-A | |
| leuchtet und glitzert in der feuchten und grau-orangefarbenen Nacht. | |
| „Penner!“, sagt der Mann, schließt die Augen, legt sich wieder hin. | |
| „Sie ist eine anarchistische Fee“, sagt Christine. | |
| „Der Mann öffnet die Augen wieder, überlegt: „Schnaps?“ | |
| „Auch das ist … „ | |
| „Jetzt mach aber mal ’n Punkt“, sagt Christine. „Wir haben Silvester, d… | |
| Läden sind zu, und jetzt zauber’ ihm was. Das ist nicht materiell, das ist, | |
| damit er sich freut, damit es ihm ein bisschen gut geht heute, unterste | |
| Stufe.“ | |
| „Eine Ausnahme“, sagt die kleine Antifa-Fee, kneift die Augen zusammen, | |
| wackelt mit ihrem Stab und zaubert dem Mann ein bisschen was: Zigaretten, | |
| Schnaps, Würstchen und belegte Brötchen, Süßkram, ein kleines, braunes | |
| Portemonnaie, Hundertfünfzig Euro sogar. | |
| „Mensch“, sagt der Mann, schraubt die Flasche auf. „Ihr seid ja richtig | |
| gute Menschen.“ | |
| „Sie ist ’ne Fee“, sagt Christine. | |
| „Vielleicht noch ’n Wohnmobil, muss jetzt nicht das neueste Modell sein? | |
| Ich würd gerne so durch die Welt fahren und Influencer werden.“ | |
| „Das ist der letzte Scheiß“, sagt die kleine Fee. „Da muss ich jetzt mal | |
| hart bleiben.“ | |
| „Frieden?“, sagt der Mann rasch und kaut schon auf einer Wurst herum. | |
| „So große Sachen kann ich nicht“, sagt die Fee. „Ich bin klein und kann … | |
| kleine Sachen.“ | |
| „Was zum Beispiel?“, sagt Christine, sie sind inzwischen weitergegangen und | |
| schon fast bei Christines neuer Wohnung angelangt. | |
| „Ich könnte dir die Liebe wegzaubern? Dann tut es nicht mehr weh. Was | |
| hältst du davon?“ | |
| Christine zögert. | |
| „Na?“ | |
| „Na?“ | |
| „Na?“ | |
| Christine schüttelt den Kopf. | |
| Ein Böller explodiert direkt hinter ihnen. Sie zucken zusammen, Christine | |
| und die Fee. | |
| „Es wird besser werden“, sagt die Fee, „nicht alles, das mit dem | |
| Klimawandel ist ein Super-GAU, da sollten wir uns nichts vormachen.“ | |
| Sie berührt Christine mit dem Stab. Es wirbelt nur so um Christine herum, | |
| ganz viel Glitzer und Musik. Was für eine Musik? The Flaming Lips: Feeling | |
| Yourself Disintegrate. | |
| Und schon ist das neue Jahr da. Es ist nicht perfekt, es nicht mal | |
| besonders schön, zitternd und nackt wie ein Babyhamster, man weiß noch | |
| nicht, ob die Katze es frisst, ob es sich auswächst und schönes braunes | |
| Fell kriegt, abwarten. | |
| Christines Handy summt ohne Pause, alle rufen sie an, die Kinder und | |
| Sibylle, Britta, Magdalena, Jochen, Frank, Daniel und Silke, und wer noch | |
| alles. | |
| Christine glitzert, von Kopf bis Fuß glitzert sie. | |
| Katrin Seddig ist Schriftstellerin und Kolumnistin in der wochentaz. 2023 | |
| erschien ihr jüngster Roman „Nadine“ (rowohlt). | |
| 25 Dec 2024 | |
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| Katrin Seddig | |
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