# taz.de -- In der neuen Nachbarschaft: Menschenliebe und Wohlwollen sind nicht… | |
> Schreie hinter Wänden, Pakete an der Tür und Müll vor den Fenstern: | |
> Unsere Kolumnistin macht sich mit der noch immer neuen Wohnsituation | |
> vertraut. | |
Bild: Hinweise auf menschliches Leben nebenan: Pakete im Treppenhaus | |
Ich wohne noch nicht lange [1][in meinem Haus] und kenne die Nachbarn | |
nicht. Zweimal nahm ich ein Paket an, das in beiden Fällen von den | |
jeweiligen Nachbarn nicht bei mir abgeholt wurde. Nach einigen Tagen machte | |
ich mich selbst auf dem Weg, klingelte mehrmals vergeblich, lief einmal | |
sogar Leuten auf der Treppe hinterher. Ich überlege, keine Pakete mehr | |
anzunehmen, weil ich nicht für sie verantwortlich sein will. Aber kann ich | |
alle Leute in meinem Haus bestrafen, weil zwei ihre Pakete nicht abgeholt | |
haben? Und weiß ich, warum sie es nicht getan haben? Kenne ich ihre | |
Beweggründe, Ängste und Probleme? Menschenliebe und Wohlwollen sind nicht | |
immer einfach. | |
Über mir schreit oft eine Frau, manchmal täglich. Sie schreit so sehr, als | |
würde jemand sie töten. | |
Anfangs habe ich überlegt, die Polizei zu rufen, aber das Geschrei ändert | |
mit der Zeit seinen Charakter. Dann schreit sie jemanden an, mit Worten. | |
Diesen anderen Menschen kann ich niemals hören. Ich weiß nicht, ob er sich | |
wehrt oder ob er Ursache dieses Geschreis ist. Langsam klingt es alles ab, | |
wird der Wortschwall leiser. Ich kann mir darauf keinen Reim machen, | |
begreife aber, dass dies ihr Leben ist, ihre Normalität. | |
Lärm im Treppenhaus, Poltern, gepresste Rufe, ich sehe aus dem Fenster, | |
zwei Männer schieben ein Sofa in einen Transporter. Als ich später das Haus | |
verlasse, sehe ich die abgeschraubten Seitenteile und zwei Rückenkissen am | |
Gehweg liegen. Die Teile liegen da jetzt schon seit Wochen, sind inzwischen | |
nass und schwarz. | |
Jeden Tag, wenn ich diese Sofateile sehe, sind sie mir ein Ärgernis. Ich | |
verstehe Menschen nicht. Warum tun sie mir das an? | |
Und natürlich wissen sie gar nicht, dass sie mir etwas antun, das ist nicht | |
ihr Gedanke dabei, aber jeden Tag, wenn ich diese Sofateile sehe, fühlt es | |
sich so an, dabei hat es mit mir gar nichts zu tun. | |
Es hat etwas mit ihnen zu tun, wie sie fühlen und denken, aber sie sind | |
Teil meiner Welt, meine Welt greift mich an, ohne es zu wissen, ohne es zu | |
wollen. Mit Geschrei, mit Sofas. Sie erschüttert mich, verlangt mir etwas | |
ab. | |
Aber sie schenkt mir auch etwas. | |
Ich fahre in der S-Bahn nach Bergedorf. Zu mir setzen sich zwei Frauen und | |
zwei Kinder, Ukrainerinnen, wie ich ihrer Sprache entnehme. | |
Die Frau mir gegenüber ist die Mutter, das kleinere Kind sitzt auf ihrem | |
Schoß, daneben das Ältere. Sie essen Pommes, und der Geruch steigt mir in | |
die Nase. Das Kind auf dem Schoß stößt mit seinen Stiefeln an mein Knie. | |
Ich ärgere mich über sie, fühle mich eingeengt. Ich verurteile meinen | |
Ärger, kann ihn aber nicht abstellen. Ich bin missmutig. | |
Bevor wir alle aussteigen, setzt die Mutter dem kleinen Kind seine Mütze | |
auf, eine kleine Tschapka. Ich setze ebenfalls meine Mütze auf, eine große | |
Tschapka. Ich habe sie seit einigen Jahren, es ist die beste Mütze, die es | |
gibt. | |
Das kleinere Kind sieht mich an, sieht seine Schwester an und dann seine | |
Mutter. Die Mutter lächelt, alle lächeln sie jetzt, strahlen mich an. | |
Sie strahlen mich so sehr an, dass ich schon glühe, von dieser so offen | |
bekundeten Zuneigung. Das ältere Kind spricht mich auf Deutsch an: Meine | |
Mutter hat auch so eine Mütze. Ich nicke, sage: „Das sind die Besten.“ Alle | |
nicken und strahlen. | |
Eben noch war ich missmutig, jetzt bin ich bis oben hin voll Zuneigung. | |
Draußen ist es dunkel und kalt, aber ich bin warm. Menschen. Sie sind so | |
voller Überraschungen. Ich selbst so schwierig. Es gibt so viel Liebe. | |
18 Dec 2024 | |
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## AUTOREN | |
Katrin Seddig | |
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