| # taz.de -- Die Verhältnisse sind eben so: Die Wahl. Und dann ist da ja auch n… | |
| > Das System meint nicht dich, und es kann dich auch nicht hören: | |
| > Erkenntnisse bei einer Busfahrt durch Hamburg. | |
| Bild: Was im Bus passiert, passiert überall | |
| Montagmorgen, die Wahlergebnisse stehen fest und es fällt mir schwer, über | |
| etwas anderes als das nachzudenken. Es lässt sich nicht ignorieren, es ist | |
| immer da, wie eine stark gemusterte Tapete im Raum, aber ich kann mir auch | |
| die Möbel ansehen, den Teppich, kann mich Besuch zuwenden, die Tapete ist | |
| da, die Tapete geht nicht weg, ich muss mich an die Tapete gewöhnen, auch | |
| wenn ich mich an die Tapete nicht gewöhnen kann. | |
| Meine Schwester schickt mir einen Link zu den Wahlergebnissen in Darmstadt. | |
| Hier kommen die Grünen auf dreißig, SPD und CDU auf ungefähr zwanzig, AfD | |
| um zehn und die Linke auf knapp zehn Prozent. Hier lebe sie gern, schreibt | |
| meine Schwester, und ich sehe mir die Wahlergebnisse in Hamburg an. | |
| Ein vielleicht besseres Bild noch als die Tapete: Ich fahre mit dem Bus, | |
| die Leute stehen in den Gängen, alle Plätze sind besetzt. Ich sitze ganz | |
| hinten und die Tür öffnet und schließt sich, öffnet und schließt sich, | |
| irgendwas ist mit der Tür, das hat man schon an der vorherigen Haltestelle | |
| beobachten können, als die Tür die gleichen Schwierigkeiten hatte. | |
| „Treten Sie bitte aus der Tür!“, sagt der Busfahrer durch die Sprechanlage, | |
| er ist erbost, man hört es. | |
| ## Die erboste Stimme des Busfahrers | |
| Da steht ein Junge, vielleicht siebzehn, aber nicht in der Tür, sondern im | |
| Gang, ordnungsgemäß weit von der Tür entfernt, das immer noch unentwegte | |
| Öffnen und Schließen der Tür hat mit ihm gar nichts zu tun. Aber da nun die | |
| – erboste – Stimme des Busfahrers wiederholt durch den Bus schallt, und da | |
| es seine Tür ist, die Tür, vor der er als nächster Mensch steht, fühlt er | |
| sich angesprochen, ermahnt, zurechtgewiesen. „Ich stehe nicht in der Tür, | |
| du Hund!“, ruft der Junge und sieht sich um. Die Leute sehen weg. Niemand | |
| will Blickkontakt mit einem Menschen, der zu einem anderen Menschen „Du | |
| Hund“ sagt. | |
| „Du Hund!“, wiederholt der Junge und starrt jetzt auf den Boden, rückt aber | |
| auch gleichzeitig noch mehr von der Tür ab, die unentwegt sich öffnet und | |
| schließt. Weiter kann der Junge von der Tür nicht mehr abrücken, denn im | |
| Gang ist es voll. Ich denke, der Busfahrer hat den Jungen doch gar nicht | |
| gemeint, er kann den Jungen auch gar nicht sehen – oder gibt es eine Kamera | |
| in dem Bus? | |
| Und wenn er doch durch eine Kamera den vollen Bus bis ganz nach hinten | |
| übersehen kann, dann erkennt er, dass der Junge eben nicht in der Tür | |
| steht. Dass es nicht seine Schuld ist, dass die Tür sich nicht schließen | |
| lässt und wir alle nicht weiterfahren können, denn das können wir nicht, | |
| wenn die Tür nicht zu ist. Der Busfahrer hat die Person angesprochen, die | |
| den Schließmechanismus der Tür stört, und diese Person gibt es nicht. | |
| Es liegt am System, und nicht an dem Jungen, er ist nicht gemeint und muss | |
| das auch wissen. Er muss auch wissen, dass der Busfahrer ihn nicht hören | |
| kann, durch den vollen Bus hindurch, bis ganz nach vorne und während der | |
| Motor läuft. | |
| ## Warum hat er das getan? | |
| Der Busfahrer kann nicht hören, dass der Junge ihn „Hund“ nennt. Warum hat | |
| der Junge das dann getan? Für uns? Für mich, die ihm am nächsten sitzt? Hat | |
| er es getan, damit wir sehen, dass er sich zu wehren weiß, wenn es | |
| zumindest so scheinen mag, als würde er eines Vergehens beschuldigt werden? | |
| Ich möchte ihm sagen, dass man einen Menschen nicht Hund nennt, nicht | |
| jedenfalls aus solch einem schwachen Grund, aber ich fühle mich selbst | |
| schwach, ich will in diesen Konflikt, der vollkommen aneinander | |
| vorbeiläuft, nicht einsteigen. Und dann bleibt die Tür zu, der Bus fährt | |
| an. | |
| Zu verschenken: FDP und BSW. | |
| 1 Mar 2025 | |
| ## AUTOREN | |
| Katrin Seddig | |
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