| # taz.de -- Spuren von Glück: Ein schöner Sommerabend | |
| > Der Sommer ist da, die Stadt wird zum Wohnzimmer und alle sind draußen. | |
| > Auch die, die nur das Draußen haben. | |
| Bild: Ist eine Schnecke glüklich, einfach weil sie ist? | |
| Es ist Mitte Juni, und am Morgen flimmert das Licht auf dem Beton. Am Abend | |
| haben die Menschen nackte Beine und Arme, und diese nackten Arme und Beine | |
| sind so schön. Ich denke: Sieh nicht so hin, man starrt nicht auf die | |
| Nacktheit anderer Menschen! | |
| Aber diese ganze Haut kommt mir plötzlich so schön vor. Und ich denke: | |
| Warum ist mir das sonst nicht aufgefallen? Warum ist es manchmal ganz | |
| anders, warum ist an manchen Tagen die Haut der Menschen so mangelhaft, so | |
| hässlich? Liegt es vielleicht daran, dass diese Haut, die ich jetzt gerade | |
| überall sehe, jung ist? | |
| Aber dann sehe ich eine alte Frau, und auch ihre alte Haut kommt mir so | |
| schön vor. Es gibt nur schöne Haut an diesem Abend. Es ist ein Ereignis, | |
| einfach ein Ereignis. | |
| Später komme ich aus dem Theater, es ist gegen halb elf und immer noch | |
| nicht dunkel, die Luft immer noch warm, und plötzlich weiß ich, jetzt ist | |
| es Sommer. Das ist jetzt der Anfang. Die Stadt ist ein Wohnzimmer, die | |
| Türen stehen auf, alle gehen raus und finden sich draußen zusammen. | |
| Dieser einigermaßen romantische und mein Herz öffnende Gedanke wird, wenn | |
| auch nicht entkräftet, so doch anders eingefärbt, als ich zur | |
| Bushaltestelle Gerhart-Hauptmann-Platz laufe. Überall hocken Menschen, die | |
| sich für die Nacht niedergelassen haben. Sie sitzen auf den Bänken | |
| zusammen, kauern in den Eingängen, manche liegen auch schon ausgestreckt, | |
| es sind viele und die Stimmung ist aufgekratzt. | |
| ## In seinem Wohnzimmer | |
| Einige haben Flaschen und Essen, sie unterhalten sich, lachen, Musik ertönt | |
| aus verschiedenen Quellen. Ein Mann hockt rhythmisch nickend auf dem | |
| Bürgersteig neben seinem Kassettenrekorder (Er hat doch tatsächlich einen | |
| richtigen Kassettenrekorder dabei, als wäre es 1987) und ich schäme mich, | |
| in seinem Wohnzimmer herumzulaufen. | |
| Wie schön diese Nacht ist, denke ich und schäme mich jetzt auch noch dieses | |
| Gedankens, weil die ganzen Menschen offenbar kein anderes Zuhause haben als | |
| dieses hier. Manche feiern zusammen eine Party, der Kassettenrekordermann | |
| feiert allein mit sich selbst. Alles scheint von innen, aus sich heraus, zu | |
| leuchten, es ist das magische Licht der Dämmerung, bevor die Nacht sich | |
| herabsenkt. Wärme steigt von der Straße auf, die Häuserwände sind | |
| Zimmerwände eines großen, intimen Raumes, ein Eindringling bin ich. | |
| Auf der Bank im Bushäuschen schläft ein Mann im Sitzen an die Wand gelehnt, | |
| sein Körper bewegt sich im Rhythmus seines Atems. Ich denke: Wie kann die | |
| Nacht schön sein, wenn man kein Zuhause hat? Ich denke: Wie kann die | |
| Schönheit der Nacht von einem Zuhause abhängen? Ich denke, auch für diese | |
| Menschen ist die Nacht schön, denn die Schönheit verteilt sich gleichmäßig | |
| auf alle und alles. Ist das wahr? | |
| ## Das Glück der Schnecken | |
| Gerade habe ich im Theater einen Text über Schnecken vorgelesen, einen | |
| Text, den ich selber geschrieben habe. Ich bin noch immer mit den Schnecken | |
| beschäftigt. Ich habe mich in diesem Text gefragt, ob Schnecken glücklich | |
| sein können und, wenn ja, was für ein Glück das sein soll. | |
| Ich nehme an, dass sie glücklich sind, indem sie sind. Wir, als Menschen, | |
| können das nicht. (Wirklich nicht? Vielleicht passiert Glück gerade? | |
| Vielleicht hier, auf der Mönckebergstraße?) Wir glauben, wir könnten | |
| vielleicht glücklich sein, wenn irgendwelche Voraussetzungen erfüllt wären. | |
| Und dann haut es doch nicht hin. | |
| Der schöne Abend, und dann werde ich traurig. Die ganzen Ungerechtigkeiten | |
| und die Schnecken, es vermischt sich alles, in meinem Bus nach Hause, | |
| Unsicherheit, Angst und Spuren von Glück. | |
| 21 Jun 2025 | |
| ## AUTOREN | |
| Katrin Seddig | |
| ## TAGS | |
| wochentaz | |
| Schwerpunkt Stadtland | |
| Kolumne Zu verschenken | |
| Sehnsucht Sommer | |
| Glück | |
| Kolumne Zu verschenken | |
| Schwerpunkt Stadtland | |
| Fernsehen | |
| Kolumne Zu verschenken | |
| Kolumne Zu verschenken | |
| Schwerpunkt Bundestagswahl 2025 | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| In schlechten Zeiten: Die Lüge vom Ende, das ein Anfang sein soll | |
| In der Trauer bleiben manchmal nur Phrasen, die Mut machen sollen. Unsere | |
| Kolumnistin ist aber nicht bereit, den Tod als einen neuen Anfang zu sehen. | |
| Zu Hause bleiben: In den Urlaub sollen ruhig die anderen fahren | |
| Im Sommer fahren viele weg in den Urlaub, unsere Autorin nicht. Sie | |
| verspürt keinen Drang dazu woanders zu sein. Wo ist er nur hin? | |
| Erinnerung an „Löwenzahn“: Peter Lustig als Coping-Strategie | |
| Vor 45 Jahren kam unser Kolumnist aus Kabul nach Berlin, im Fernsehen | |
| startete „Löwenzahn“. Dessen Titelmelodie, meint er, kann in schweren | |
| Zeiten helfen. | |
| Leben in Widersprüchen: Ich bin nicht unglücklich | |
| In der Regionalbahn spricht ein Junge am Handy laut über intime Dinge, und | |
| alle hören mit. Auch unsere Kolumnistin. | |
| Über den Frühling in Hamburg: Wenn einen was wirklich glücklich macht | |
| Es sind die kleinen Dinge, die im Alltag für Freude sorgen. Unserer | |
| Kolumnistin reicht ein schönes Erlebnis pro Tag. Doch das Leben bietet | |
| mehr. | |
| Die Verhältnisse sind eben so: Die Wahl. Und dann ist da ja auch noch der Nahv… | |
| Das System meint nicht dich, und es kann dich auch nicht hören: | |
| Erkenntnisse bei einer Busfahrt durch Hamburg. |