# taz.de -- Leben in Widersprüchen: Ich bin nicht unglücklich | |
> In der Regionalbahn spricht ein Junge am Handy laut über intime Dinge, | |
> und alle hören mit. Auch unsere Kolumnistin. | |
Bild: In Zügen wird mitunter sehr laut telefoniert, und alle hören mit | |
Ich sitze im Zug von Hamburg nach Kiel und schreibe meine Kolumne. Es ist | |
keine glamouröse Reise. Der Alltag rast an mir vorbei. Die Sitze haben | |
keine Tische vor sich, ich muss auf meinen Knien tippen. Es gibt auch keine | |
Steckdosen, die Ladung meines Handy-Akkus geht dem Ende entgegen. Das sind | |
so die Probleme heute, morgen wird es andere geben, und dann werden mir | |
diese lächerlich vorkommen und sie kommen mir jetzt schon lächerlich vor. | |
Auf dem Weg von der Holstenstraße bis zum Dammtor haben mich drei | |
Bettler*innen angesprochen. Zwei Männer, sie waren ziemlich erledigt, | |
man sah es ihnen an. Am Dammtor eine Frau, ich war einigermaßen überrascht, | |
denn ich hätte sie nicht als Bettlerin erkannt. Nicht an ihrer Kleidung, | |
ihrer Frisur und ihrer Haltung. Und warum soll man das auch können? Sie | |
hatte einen schmutzigen Verband um die Hand gewickelt, das hätte ein | |
Hinweis sein können. | |
Ich sagte, „ich weiß gar nicht, ob ich Kleingeld habe“. Sie sagte, „das … | |
heute doch kaum noch jemand“ und lächelte. Ich dachte, das könnte ich sein. | |
Ich gab ihr was. Den Männern in der S-Bahn hatte ich nichts gegeben. So | |
wähle ich aus, jeden Tag, und es geht auch nicht anders. | |
Mein Einkommen ist so gering, dass ich davon meine Kosten nicht decken | |
kann, aber ich laufe in einem schicken Mantel herum und ich habe ja | |
Kleingeld in meinem Portemonnaie. Ich habe. | |
## Ich bin mir selbst unsicher über mich | |
Das sind diese Widersprüche. Ich bin mir selbst unsicher über mich und | |
meine Lage. Jetzt sitze ich im Zug nach Kiel, die Sonne scheint, wir haben | |
eben Elmshorn verlassen, Leute sind eingestiegen, ein Junge telefoniert mit | |
einem Kumpel. Das Telefon ist laut gestellt, deshalb kann ich sagen, es ist | |
ein Kumpel, mit dem er spricht. Das ganze Gespräch ist mithörbar, von | |
allen. Sie reden über eine junge Frau, die offenbar ein Kind von diesem | |
Jungen bekommen hat. | |
„Ich hab sie getroffen, Alter, ich geh da so die Straße lang, da geht sie | |
mit ihrer Mutter und mit X (das Kind offensichtlich), und sagt mir nicht | |
‚Hallo‘, nix. Geht einfach vorbei, als ob sie mich nicht kennt, Alter, das | |
ist mein Kind, Alter!“ | |
Alter, der Kumpel, stimmt ihm zu. Sie scheinen beide kurz betrübt. Der | |
Junge redet weiter, über eine andere Frau jetzt, nennt ihren Namen (ich | |
nicht), sagt, „ich hab mit der geschlafen, aber sie war voll schlecht, | |
Alter.“ | |
Ich denke, er denkt wahrscheinlich, dass er voll gut ist. Dann geht das | |
Gespräch so weiter und ich denke, das ist ein Regionalzug nach Kiel, so ist | |
das, so geht das hier. Leute packen ihre Stulle aus, reden öffentlich über | |
Geschlechtsverkehr. | |
## Er weiß vielleicht nicht, wie er anders sein soll | |
Als der Junge aussteigt, an mir vorbeigeht, kann ich ihn mir ansehen, er | |
ist kein Mann, er ist ein Junge, er hat etwas nach innen Gedrücktes an | |
sich, seine Kleidung ist ein Witz, sicherlich hat er viel Zeit darauf | |
verwandt, sie auszusuchen, aber sie ist ein Witz, er ist ein Witz und | |
vielleicht weiß er es nicht, aber er ahnt es. Und er hat ein Kind und das | |
Kind soll ihn nicht kennen. Er trifft es auf der Straße, sieht es, aber er | |
darf es nicht kennen. Draußen Lärmschutzwände, ein beschrankter | |
Bahnübergang. Wrist. Er ist er und er weiß vielleicht nicht, wie er anders | |
sein soll, ob er das überhaupt will und wie es richtig wäre, dabei geht es | |
ihm nicht anders als mir. | |
Ich habe meinen schönen Mantel und kann einer Frau, die ich sein könnte, | |
ein Geldstück schenken. Es scheint mir nichts weiter zu sein und nichts zu | |
bedeuten. Es ist Ungerechtigkeit, es ist Traurigkeit und die Sonne scheint, | |
es ist Mai. Ich bin nicht unglücklich. | |
18 May 2025 | |
## AUTOREN | |
Katrin Seddig | |
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