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# taz.de -- Griechischer Doku-Film „Kaliarda“: Der Code der schwulen Subkul…
> Die Dokumentation „Kaliarda“ von Regisseurin Paola Revenioti gibt
> Einblick in die Verständigung queerer Griechen in früheren Zeiten.
Bild: Das Interesse an der eigenen queeren Geschichte wächst. Filmstill aus �…
Die Zeiten ändern sich langsam auch in Griechenland. Im von der orthodoxen
Kirche noch immer stark geprägten Thessaloniki, der Hafenstadt im
nördlichen Zentralmakedonien, mit rund 325.000 Einwohnern die zweitgrößte
Stadt nach Athen, fand gerade die 59. Ausgabe des [1][Internationalen
Filmfestivals] statt. Dank der neuen Leitung unter Orestis Andreadakis und
Yorgos Krassakopoulos und engagierter Kuratoren wurde nicht nur zum ersten
Mal ein queerer Filmpreis, der Mermaid Award, verliehen, sondern es gab
darüber hinaus auch eine aufsehenerregende Retrospektive über griechische
Queerfilme von 1967 bis heute.
Viele der gezeigten Beiträge, oft noch [2][zur Zeit der Militärdiktatur]
unter widrigen Umständen entstanden, waren selbst in Griechenland oft seit
Jahrzehnten nicht zu sehen. Einer der thematisch interessantesten Filme der
Sektion war die Dokumentation „Kaliarda“ von Paola Revenioti über die
gleichnamige Geheimsprache der Schwulen und Transsexuellen in
Griechenland.
Für die Transaktivistin und ehemalige Prostituierte war es keine Frage,
einen Dokumentarfilm über den vom Aussterben bedrohten Slang zu machen.
„Ich fühlte mich geradezu verpflichtet dazu, weil es sonst niemanden gab,
der diesen Film hätte machen können. Und ich hatte den Eindruck, dass sich
die jüngere Generation nicht für die Vergangenheit interessierte.“ Mit
ihren alten Weggefährt_innen spricht sie noch heute Kaliarda und kennt
durch ihre jahrelange Arbeit die relevanten Zeitzeugen.
Die Sprache entwickelte sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts, wurde zum Teil
auch von Klienten und anderen Personen der Unterwelt verstanden und
gesprochen, wie der junge Linguistikwissenschaftler Eugene Tsakos betont.
Er nennt Kaliarda einen „Kryptolekt“, also einen codierten Dialekt, den nur
Eingeweihte entschlüsseln können. Das Wort selbst bedeute „hässliche,
vulgäre Wörter“. Es ist, das wird im Film und in den Gesprächen mit Tsakos
und Revenioti deutlich, kein in sich geschlossenes Sprachsystem mit eigener
Grammatik, sondern ein Vokabular von rund 6.000 Begriffen, die nur einer
Minderheit zugänglich waren. Diese konnte damit auch in einer feindlich
gesinnten Öffentlichkeit Informationen austauschen, ohne befürchten zu
müssen, von Autoritäten wie Staat, Polizei und Kirche oder von der meist
homophoben Mehrheit verstanden zu werden.
Die am meisten verwendeten Wörter sind dabei Bezeichnungen aus dem Bereich
sexueller Kontakte, etwa „tsoli“ für einen aktiven Heterotypen, der Sex mit
Transen oder passiven Schwulen sucht, ob er „latso“ (gut) oder „koulo“
(gefährlich) ist. Es gibt Begriffe für Diebe unter den Klienten
(„tzournevei“) ebenso wie für Polizei („rouna“).
Wie der Dichter George La Nonce erklärt, hatte Kaliarda zwei Funktionen: Es
ging darum, sich gegenseitig zu erkennen und zu verständigen und
gleichzeitig das feindlich gesinnte Umfeld auszuschließen. Sie wurde von
sexuellen Minderheiten gesprochen, die sich dadurch ihrer gegenseitigen
Zugehörigkeit versicherten. An öffentlichen Orten wie Parks und Klappen, wo
sich in Zeiten lange vor Dating-Apps und Internet ein Großteil des queeren
Lebens abspielte, war so schnell klar, wer ein sicherer Kontakt war. Und
gleichzeitig konnten alle, die des Codes mächtig waren, im Vertrauen über
die anderen reden, die nicht dazugehörten.
Das Erstaunliche ist, dass es neben all den Restriktionen und Verfolgungen
sexueller Minderheiten durch Staat, Polizei und Kirche auch offensichtlich
einen erstaunlich lässigen Umgang zwischen den Minderheiten auf der einen
und zumindest öffentlich hetero lebenden Männern auf der anderen Seite gab.
„In der Generation der heute über 50-, 60-jährigen Männer, die sich als
straight identifizieren, hatte fast jeder seine erste sexuelle Erfahrung
non-hetero“, behauptet Revenioti. Die strikte Sexualmoral galt auch und vor
allem für Frauen, Geschlechtsverkehr vor der Ehe war Tabu. Also gingen die
Männer zu denen, die außerhalb der Moral standen. Schwule, Stricher,
Transen.
## Abwandlungen aus vielen Sprachen
Anders als die in Großbritannien von Homosexuellen, Theaterleuten und
Schaustellern vor allem in den 1940er und 1950er Jahren verwendete
Geheimsprache Polari, die auf einem Mix aus italienischen Begriffen und
Cockney-Slang basierte, sind Wörter in Kaliarda, wenn sie nicht gleich von
einzelnen Personen frei erfunden und nur im engsten Freundeskreis verwendet
wurden, Abwandlungen aus einer Vielzahl von Sprachen, vor allem aber aus
dem Romani. Tsakos sieht das in der gemeinsamen Erfahrung der Homosexuellen
und Roma als sozial marginalisierte Gruppen begründet.
Paola Revenioti ist selbst eine wichtige Figur der frühen LGBT-Bewegung,
brachte in den achtziger Jahren das trans-anarchistische Fanzine Kraximo
heraus und organisierte 1992 die erste CSD-Parade in Athen. Es ist also
durchaus gerechtfertigt, dass sie als Protagonistin und Interviewerin immer
wieder in ihrem eigenen Film auftaucht. Sie spricht mit Schriftstellern wie
Thanasis Skroubelos, der die Wurzeln von Kaliarda in der Kommunikation von
Gefängnisinsassen sieht, die damit verhindern wollten, dass die Aufseher
mitbekommen, worüber sie sprechen. Aber er macht auch deutlich, dass es
sich dabei um keine einheitliche Sprache handelte, sondern es in jeder
Community und vom sozialen Status abhängig Unterschiede gab.
Es kommen auch Linguisten zu Wort wie Kostas Kanakis, der Kaliarda als
„Antisprache“ definiert, die bewusst ausschließt, oder Szenegrößen wie
Herakles Doukas, Betreiber der legendären Bar Banal, und Transfrauen wie
Nana, die Revenioti noch als Mann vom Militär kennt und bis heute viele
dieser Begriffe ganz selbstverständlich verwendet. So entsteht ein
schillerndes Bild einer Undergroundszene, die sich vor allem zur Zeit der
Militärdiktatur bis 1974, aber auch noch lange danach gegen Schikanen zur
Wehr setzen musste. Und eine ihrer stärksten Waffen war die verbale.
Von den Achtzigern an haben manche Begriffe Eingang in die Popkultur
gefunden, wurden im griechischen TV in Sitcoms und Satiresendungen ebenso
verwendet wie in Klatschkolumnen, auch die nichthomosexuelle Umgangssprache
hat einige Slangwörter absorbiert, inzwischen ist sogar ein Sprachlexikon
mit den wichtigsten Begriffen veröffentlicht.
Wie es so oft mit subkulturellen Phänomenen geschieht, bedeuten
gesellschaftliche Akzeptanz und kommerzielle Aneignung oft deren Tod. Durch
das Ankommen der LBGTQI-Community im Mainstream stirbt der Sprachcode als
solcher aus, weil er als Mittel des Zusammenhalts und der Abschottung an
Bedeutung verliert. Paola Revenioti bedauert nicht nur das, sondern auch
die allgemeine Assimilation. „Früher haben sie dich angespuckt und
beschimpft, aber danach wollten sie mit dir vögeln. Heute sind wir ihnen
einfach egal.“
Sie glaubt nicht daran, dass es eine Renaissance von Kaliarda geben wird,
aber sie könnte sich irren. Die Vorstellung ihres Dokumentarfilms im Rahmen
der Queer-Retro des Thessaloniki Filmfestivals war restlos ausverkauft. Und
das Publikum in der Mehrzahl unter 30 Jahre alt, also zu einer Zeit
geboren, als der Szenejargon bereits vom Verschwinden bedroht war. In der
griechischen Queer-Community erwacht gerade ein Interesse an der eigenen
Geschichte, vieles ist bislang, wenn überhaupt, nur mündliche
Überlieferung, weil die Erfahrungen sexueller Außenseiter kaum Teil des
offiziellen Kanons waren und nun aufwendig recherchiert werden müssen.
Kaliarda, so viel ist klar, wird dabei eine wichtige Rolle spielen.
19 Nov 2018
## LINKS
[1] /Filmfestival-in-Thessaloniki/!5462266
[2] /Griechenland-zur-Zeit-der-Militaerdiktatur/!5356952
## AUTOREN
Thomas Abeltshauser
## TAGS
Queer
Griechenland
Schwerpunkt Gender und Sexualitäten
Spielfilmdebüt
Polizei
Spielfilm
Dokumentarfilm
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