| # taz.de -- Spielfilm „Sauvage“: Die warmen Farben der Einsamkeit | |
| > In Camille Vidal-Naquets Film geht es um Sexarbeit und einsame Nächte. | |
| > Und um Stricher Léo, der dem Ganzen schutzlos ausgeliefert ist. | |
| Bild: Anders als anderen Strichern geht es Léo nicht wirklich ums Geld. Er seh… | |
| Einen Monsterkeil in den Arsch zu bekommen ist kein Spaß, Gleitgel hin oder | |
| her. Aber Léo (Félix Maritaud) ist Stricher, und wenn der Freier anders | |
| keinen hochkriegt, macht er das mit, wie er, eine Seele von Mensch, | |
| eigentlich alles widerstandslos mitmacht, was man von ihm so verlangt. | |
| Nur einmal, da taucht ein Neuer auf, der nur fünf Euro nimmt dafür, den | |
| Freiern einen zu blasen. Die Konkurrenten verprügeln ihn, er bekommt eine | |
| Flasche an den Kopf, geht zu Boden. Léo schreitet, wenn auch zögerlich, | |
| ein, bringt ihn ins Krankenhaus, rettet ihm womöglich das Leben. | |
| Zweiundzwanzig ist Léo, einen festen Wohnsitz hat er nicht, gesund ist er | |
| auch nicht, ein Husten quält ihn. Er geht zu einer sehr freundlichen | |
| Ärztin, die ihn nach seinem Drogenkonsum befragt, Crack, Kokain, Heroin nur | |
| ganz selten, eine Frau, die ihm keine Vorwürfe macht, sie horcht seine | |
| Lunge ab, da umarmt er sie, lange, sie widersetzt sich nicht. | |
| ## Weil Léo es will | |
| Anders als andere Stricher hat er, ganz im Gegenteil, kein Problem mit dem | |
| Küssen. Anders als anderen Strichern geht es ihm nicht wirklich ums Geld. | |
| Wonach Léo sich sehnt, so, wie eine Katze sich nach der Wärme des Ofens | |
| sehnt, ist Nähe. Einen alten Mann, der auch keinen hochkriegt, streichelt | |
| er zärtlich und nimmt ihn im Bett in den Arm. Nicht weil der danach fragt, | |
| sondern weil Léo es will. | |
| Es gibt einen Mann, den er liebt: Ahd (Éric Bernard), Stricher auch er, | |
| aber nicht schwul. Er haut Léo raus, wenn es sein muss, sie teilen sich gar | |
| das Bett, aber dass Léo sich neben ihm einen runterholt, das will er dann | |
| doch nicht. Es gibt aus diesem Leben nicht viele Auswege, einen älteren | |
| Mann mit Geld zu finden, das ist der eine, auf den Ahd es ganz gezielt | |
| anlegt. Und tatsächlich findet er einen solchen Mann, damit ist er für Léo | |
| verloren. | |
| Léo ist ein eigentümlicher Mann, mit dem dieser Film, das Debüt von | |
| Vidal-Naquet, eigentümlich verfährt. Man erfährt biografisch fast nichts | |
| über ihn. Über die Eltern – die Ärztin fragt danach –, seine Herkunft gi… | |
| er nicht Auskunft. Auch seinen Namen gibt er nicht preis, als ihn Claude | |
| (Philippe Ohrel), der sich in ihn zu verlieben beginnt, danach fragt, sagt | |
| er nur: „Such dir was aus.“ | |
| Zart, wild, schutzlos ist Léo, und dass das funktioniert, dass ein Porträt | |
| dieser Szene, das auf soziale Verortung fast völlig verzichtet, das die | |
| Gesellschaft nur im Kontakt der Stricher mit ihren Freiern irgendwie in den | |
| Blick nehmen will, dass ein solches Porträt nicht reduktiv wirkt, das liegt | |
| zu einem nicht geringen Teil an Félix Maritaud, dem Darsteller des Léo. | |
| Maritaud überlässt sich dieser Figur mit Haut und Haar, nackter als nur bis | |
| auf die Haut, ein Schauspieler, der nicht viele Worte braucht, der ganz | |
| körperlich spielt, aber mit einer sanften, entschiedenen Körperlichkeit, | |
| zärtlich oder sachlich beim Sex, ekstatisch im Tanz, einsam in der Nacht, | |
| die trotz dieser Einsamkeit oft in sehr warmen Farben gefilmt ist. (Andere | |
| Szenen sind dann sehr kühl, es ist ein Film der Temperaturen und | |
| Atmosphären.) | |
| Und es funktioniert auch deshalb, weil Camille Vidal-Naquet die Welt der | |
| männlichen Prostituierten, in der sein Film spielt, so spürbar und | |
| offensichtlich gut kennt. Er hat drei Jahre lang recherchiert, viel Zeit | |
| mit den Männern verbracht. Sein Blick auf sie und ihr Leben ist einerseits | |
| hart, sachlich, nüchtern, beschönigt an der Sexarbeit nichts, es gibt | |
| schwer zu ertragende Szenen in diesem Film. Aber er ist andererseits ebenso | |
| entschieden solidarisch mit diesen Männern, der Härte dieses Lebens und mit | |
| den basalen Sehnsüchten, die es erlaubt. Und er gibt dieser Welt mit der | |
| Figur des Léo ein Zentrum, das Schwäche und Kraft, Zärtlichkeit und | |
| Wildheit auf die erstaunlichste Weise verbindet. | |
| 29 Nov 2018 | |
| ## AUTOREN | |
| Ekkehard Knörer | |
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