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# taz.de -- Neuer Spielfilm von Ulrich Köhler: Willkommene Einsamkeit
> „In My Room“ zeigt eine Realitätsflucht per Zeitreise. Die Menschenleere
> bietet dem teilnahmslosen Protagonisten einen Neuanfang.
Bild: Kirsi trägt bunte Leggins und fährt Laster. Sie fordert die Lebensweise…
Armin taucht aus dem Wasser auf und lacht. Der erste frohe Moment kommt
spät in Ulrich Köhlers neuem Film „In My Room“. Erst als bereits alle
Menschen von der Erde verschwunden sind. Es blieben nur Armin, seine tote
Oma und die Tiere, die fortan orientierungslos durch die leer gefegte
Landschaft streichen. Totale Menschenleere: Ein Szenario, was in der
Science-Fiction und im Horror-Kino Tradition hat und immer wieder für
Angstzustände sorgt, verwandelt sich in Köhlers Film zur unrealistischen
Chance eines Mannes, seinen Platz in Deutschland zu finden.
Und Armin findet nicht nur seinen Platz, sondern vor allem seinen
titelgebenden Raum: Denn als er wie von Zauberhand alle Freiheiten der Welt
erteilt bekommt, beginnt er zu bauen. Es entsteht ein schmuckes Eigenheim
mitten in der Pampa. Und er baut nicht nur, sondern er baut sich auch etwas
auf. Er hält sich Tiere und ist Landwirt geworden, inmitten der Region
seiner Kindheit. Armin bestellt sozusagen die Felder seiner Heimat. Dass
ihm dabei niemand Konkurrenz macht und überhaupt niemand mehr an ihm
zweifelt, das genießt er ausgiebig. Auch Allmachtsfantasien kennt das Kino
zur Genüge.
Im ersten Teil seines Films zeigt Köhler, dass früher alles anders war,
geradezu ohnmächtig. Armin verweigert sich seinem Beruf als Kameramann und
drückt aus Desinteresse die falschen Knöpfe in wichtigen Situationen. Er
soll politische Reden filmen, doch landet in seinen Aufnahmen nur
Belangloses.
In der Familie gibt es Streit und Plattitüden über Ausländer. Die
Großmutter liegt ohne Bewusstsein im Nebenraum. Der trauernde Vater sitzt
weinend am Küchentisch und schickt Armin weg, weil er ihm seine Gefühle
erst gar nicht zeigen will. Armin sucht Zuflucht vor seinem Leben in langen
Nächten. Auf Techno steht er ziemlich. Köhler zeigt ihn in nahen, anonymen
Einstellungen isoliert im Club und dann zu Hause, als er mit einem
widerlich-gleichgültigen Tonfall die junge Tochter seiner Exfreundin
abschleppen will.
## Vom Unsympath zum Naturburschen
Die große Veränderung in der Welt geschieht vor diesen Hintergründen wie
beiläufig, aus einer gewissen Lethargie und Apathie heraus, zeitgleich mit
dem Herzstillstand der Oma. Armin schläft besoffen und mit verheulten Augen
im Auto ein, nachdem er aus der Ferne junge Menschen beim Tanzen auf einem
Partyboot betrachtet hat. Sein Erwachen dauert. Denn mit oder ohne
Menschen, er hat der Welt nichts entgegenzusetzen. Zunächst entlarvt die
neue Leere noch drastischer, was er für ein Typ ist: Er hat nicht den Mumm,
dem verletzten Nachbarshund zu helfen und lässt ihn elendig verbluten.
Zurück zum Fluss: Als der erst scheintote Armin wie ein Neugeborener aus
dem Wasser taucht, ist spürbar Zeit vergangen. Aus dem Winter ist Sommer
geworden. Köhler kommentiert nicht, wie lange Armin im Niemandsland gelebt
hat, sondern zeigt ihn als Menschen, der sich sichtbar verändert hat. Der
speckige Unsympath ist zum muskulösen Naturbuschen geworden und zelebriert
förmlich seine neu entdeckte Vitalität. Und das alles, wie sich zeigen
wird, um sich der letzten großen Prüfung zu stellen: der Liebe.
Nur einmal entzieht Köhler seinem Protagonisten drastisch den Blick: Als er
bewusstlos im Fluss liegt, beobachtet ihn, aus der einzigen Subjektive des
Films, eine Frau, die kurz darauf in sein Leben treten wird. Kirsi (Elena
Radonicich) wird zur Eva in Armins Welt – besser gesagt in der Welt, die
Armin für seine hält. Und sie droht, seine neu gewonnene Freiheit wieder zu
einer Abhängigkeit zu machen. Sie erscheint als Nomadin, die eindringt in
Armins neues, selbstgerechtes Wohlgefühl.
## „Berliner Hipster-Landurlaub“
Bald wird sie einen riesigen Laster fahren und es werden nicht mehr nur
Menschen aufeinandertreffen, sondern auch deren Räume. Die Nomadin, die
kurz zuvor Syrien besuchte, und der Teilnahmslose, der seine Heimat um sich
herum als Festung errichtet hat. Armin und Kirsi schaffen sich in der Weite
eines neuen Lebens unabhängig voneinander Strukturen, die miteinander nicht
vereinbar scheinen.
Oder doch? Kirsi trägt Space-Leggins und schwärmt von Berlin. Wenn beide
auf dem Traktor fahren, schaut das aus wie ein Shot aus einem Berliner
Hipster-Landurlaub. Doch nur scheinbar können sie sich miteinander
arrangieren. Wenn Armins Techno-Begeisterung zurückkehrt, als Erinnerung an
seine frühere Einsamkeit, tanzt er alleine und schert sich nicht mehr um
die Loyalität zu seiner neuen Lebensgefährtin: „I like this world“, meint
er. „No, you like to fuck“, meint sie. Und dann droht der Bruch.
Neben einigen eleganten Allegorien auf das Dasein und deutschen
Politprovinzialismus entpuppt sich Köhlers hervorragend komponierte
Zeitreise eines tristen Typs aus der Mitte der Gesellschaft in seine
wohlige Abgeschiedenheit doch als unangenehm sture Abarbeitung an einem
verwundeten Männerherz. Der Chauvinist bleibt ein Antiheld, doch möchte
Köhler ihm nachdrücklich vergeben und ihm den Kopf streicheln in seiner
tragischen Trauer. So schlimm ist er doch gar nicht, unser Armin.
8 Nov 2018
## AUTOREN
Dennis Vetter
## TAGS
Dystopie
Spielfilm
Schwerpunkt Filmfestspiele Cannes
Deutscher Film
Apokalypse
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taz.gazete
Christian Petzold
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