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# taz.de -- Kieler Matrosenaufstand 1918: Auf der Suche nach der Revolution
> 2007 beschäftigte sich Robert Habeck in einem Theaterstück mit dem
> Matrosenaufstand. Unterwegs mit dem Grünen-Chef in Kiel.
Bild: Habeck auf dem Kieler Nordfriedhof, wo Opfer der Demonstration vom 3. Nov…
Kiel taz | Die Tür springt auf, eine Frau mit Goldrandbrille schaut heraus.
„Mit O oder U?“, fragt sie das Grüppchen vor der Tür. „Wir suchen die
Probe, es geht um den Matrosenaufstand“, sagt Robert Habeck. Die
Goldrandbrille blitzt: Probe? Matrosenaufstand? Hier, im Kieler Finanzamt,
wo kein Kundenverkehr zugelassen ist? „Fragen Sie in der Geschäftsstelle“,
sagt die Beamtin und klappt die Tür wieder zu.
Habeck grinst unwillkürlich, die Szene hat etwas Kafkaeskes. Auf dem Weg
hinaus schüttelt er den Kopf: „Wenn damals der Artelt hergekommen wäre, um
Revolution zu machen, hätte sie ihm bestimmt auch gesagt, er soll erst mal
eine Nummer ziehen.“
Karl Artelt, der „Lenin von Kiel“, wie Habeck ihn nennt, war eine der
zentralen Figuren [1][des Kieler Matrosenaufstands im November 1918]. Und
Artelt ist unter dem Namen „Fritz“ der Held eines Theaterstücks, das Robert
Habeck, der heutige Bundesvorsitzende der Grünen, und seine Frau und
Schriftstellerkollegin Andrea Paluch 2007 geschrieben haben.
Das Stück wurde zum 90. Jahrestag des Aufstands in Kiel uraufgeführt.
Jetzt, zum 100. Jahrestag, plant das Theater Kiel eine Wiederaufnahme. Das
Besondere: Es findet an den historischen Orten des Aufstands statt. So auch
in der damaligen Marine-Kommandantur in einem Nebengebäude des heutigen
Finanzamts.
Dort wird gerade umgebaut, Gerüste stehen im Weg, Staub bedeckt das dunkle
Parkett. In einem Eckraum führt Regisseur Michael Uhl seine
SchauspielerInnen durch eine Stellprobe: Offiziere berichten dem Gouverneur
von Kiel, Admiral Wilhelm Souchon, und dem in Kiel weilenden Prinzen
Heinrich, dem Bruder des Kaisers, von Unruhen. „Ich werde für Disziplin
sorgen“, beruhigt einer der Offiziere. Souchon dagegen sieht Unheil voraus:
„Eine ganze Stadt können Sie nicht erschießen.“
Habeck lehnt an einer Wand, schaut aufmerksam zu. [2][Nach Tagen in Berlin
und im hessischen Wahlkampf] ist dies ein Wohlfühltermin für ihn, aber auch
eine Chance, über Grundsätzliches nachzudenken: Wie beginnen politische
Bewegungen, wie lassen sie sich organisieren? Wie wird aus Unruhe eine
Revolte, und wie erlischt das revolutionäre Feuer wieder?
Diese „Kipp-Punkte“ hätten ihn interessiert, als er für das Stück
recherchiert habe, sagt Habeck. Und sie interessieren ihn in der Jetztzeit,
wenn es darum geht, Politik zu gestalten: „Die Umstände waren damals krass,
und heute ist eine bewaffnete Revolte höchst unwahrscheinlich – zum Glück.
Heute gilt es ja, das, was zum Beispiel in der Revolution von 1848 erkämpft
wurde – Freiheitsrechte, Gleichheitsrechte, Rechtsstaat –, vor Populisten
zu schützen. Und zwar friedlich mit den Mitteln des Rechtsstaats. Das ist
der Maßstab. Aber was aktuell ist, ist die Suche nach dem Spirit, wie sich
Strömungen in der Gesellschaft bündeln lassen.“
## Stimmung auf dem Siedepunkt
Die Orte, an denen sich damals der Funke entzündete und wieder erlosch,
lassen sich heute noch in Kiel besuchen. In einem Saal im Gewerkschaftshaus
– heute noch ein Ort für Versammlungen und Parteitage – berieten die
Werftarbeiter und Matrosen am 1. November, wie sie ihre gefangenen Genossen
befreien sollten. Auf der historischen Versammlung Anfang November gelang
es dem Heizer und Maschinenbauer Karl Artelt, die Stimmung auf den
Siedepunkt zu bringen.
Artelt war Matrose, Werftarbeiter, Gewerkschafter und Mitglied der
Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei. Der damals 28-Jährige hatte
bereits Streiks organisiert und wegen politischer Umtriebe in Haft
gesessen. Mit dem Schlosser Lothar Popp bildete er das Zentrum der Revolte
und des Kieler Arbeiter- und Soldatenrats.
„Hatten sie eigentlich eine Agenda?“ – diese Frage habe ihn beim Schreiben
bewegt, sagt Habeck. Die anfänglichen Forderungen der Revolutionäre waren
„Kraut und Rüben“, es ging um die Abdankung des Kaisers wie um die
Freilassung der Matrosen, die als Meuterer eingesperrt waren, [3][um das
Frauenwahlrecht wie um die Freiheit], beim Landgang auf Rangabzeichen zu
verzichten.
Seinen gewaltsamen Höhepunkt erlebte der Aufstand am Sonntag, 3. November.
Nach einer Protestveranstaltung zogen mehrere Tausend Menschen – Soldaten
wie Zivilisten, darunter viele Frauen – in die Innenstadt. Am Bahnhof gab
es ein erstes Opfer, als eine Demonstrantin unter eine Straßenbahn geriet.
Am frühen Abend kam es nahe der Arrestanstalt, in der die als Rädelsführer
festgesetzten Matrosen einsaßen, zu einem Feuergefecht. Sieben Männer
starben, 29 wurden verletzt.
Die Opfer des Aufstands liegen auf dem Militärfriedhof am Stadtrand von
Kiel. Nur die Daten verraten, wer dazugehört haben könnte. Habeck geht die
Reihen der Grabsteine ab. Einer der Toten hat nicht einmal seinen 18.
Geburtstag erlebt. Einen Moment bleibt Habeck stehen, hält inne.
Kiel hat sich mit dem Matrosenaufstand lange schwergetan. „Die Marine war
da gar nicht cool“, sagt Habeck. Als 1982 auf einer Grünfläche im Zentrum
das wuchtige Denkmal „Wik“ zur Erinnerung an die Novembertage enthüllt
wurde, blieben Ratsmitglieder von CDU und FDP demonstrativ fern. Aber zum
100. Jahrestag feiert die Stadt ihre historische Stunde mit einer
Ausstellung und zahlreichen Veranstaltungen unter der Überschrift
„Aufstehen für die Demokratie“.
Menschen, die auf die Straßen gehen für ihre Anliegen, die Gesicht zeigen –
solche analogen Formen politischen Engagements schienen noch vor wenigen
Jahren wie aus der Zeit gefallen. Das ändert sich gerade: Rechte wie linke
Politik findet Widerhall auf der Straße. „Ich stelle fest, dass Menschen
wieder Lust auf Begegnungen haben“, sagt Habeck. In Bayern, in Hessen, in
Berlin: „[4][Leute gehen demonstrieren und besuchen politische
Veranstaltungen]. Live und analog.“
## Wendepunkt der Revolte
Nach den ersten Toten heizte sich die Stimmung weiter auf. Am 4. November
traten ganze Werftbelegschaften in den Streik, weitere Matrosen schlossen
sich den Aufständischen an. Souchon musste eine Abordnung des Arbeiter- und
Soldatenrats empfangen und deren Forderungen anhören. Doch am selben Abend
begann mit dem Eintreffen des Berliner Abgeordneten Gustav Noskes die
„Sozialdemokratisierung der Revolte“, so nennt es Habeck.
Noske ließ sich zum Vorsitzenden des Arbeiter- und Soldatenrats wählen,
übernahm faktisch und einen Tag später auch nominell die Macht in der
Stadt. Und trat den roten Funken aus. Auch wenn die Revolutionsfahnen statt
der Reichskriegsflagge über dem Hafen wehten, „die Matrosen kehrten auf die
Schiffe zurück, Offiziere befahlen wieder“, sagt Habeck.
Die 14 „Kieler Punkte“, die der Rat unter Noske beschloss, forderten zwar
auch die Freilassung aller Gefangenen und wollten ein Auslaufen der Schiffe
zum Kriegseinsatz verhindern. Aber die radikalen Forderungen des ersten
Rats – Abdankung des Kaisers und Frauenwahlrecht – fehlten.
Wieder so ein Kipp-Punkt: Artelt und Popp, die gewählten Führer des Rats,
übergaben die Macht offenbar bereitwillig an den Berliner Abgeordneten. Und
Noske, der „Bluthund“, der einige Monate später den Spartakusaufstand mit
Waffengewalt niederschlagen ließ, half der alten Macht zurück in den
Steigbügel. Doch da war der rote Funke aus Kiel bereits auf andere Städte
übergesprungen.
Noske habe sicher die Folgen seiner Entscheidung in letzter Konsequenz
nicht absehen können, vermutet Habeck. Es gab Hunger in der Stadt, es waren
bereits Menschen erschossen worden – die Revolte anstacheln hätte geheißen,
mehr Tote zu riskieren. „Eine Entscheidung treffen, wenn die Alternativen
aus schlecht und noch schlechter bestehen, das nennt man wohl
Realpolitik“, sagt Habeck.
10 Nov 2018
## LINKS
[1] /November-Revolution-1918/!5545002
[2] /Gruene-nach-Hessen-Wahl/!5543645
[3] /Ausstellung-zu-1918-in-Berlin/!5507829
[4] /Zum-AfD-Einzug-in-bayerischen-Landtag/!5548073
## AUTOREN
Esther Geißlinger
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