# taz.de -- Grüner Bütikofer zur Wahl in Hessen: „Übermut ist nicht angebr… | |
> Nach dem Wahlerfolg in Hessen mahnt der Europachef der Grünen | |
> Bescheidenheit an. Die Partei müsse über ihre Kernthemen hinaus kompetent | |
> werden. | |
Bild: „Gewiss ‚müssen‘ wir nicht konservativ koalieren“, sagt Reinhard… | |
taz: Herr Bütikofer, die Grünen sind offenbar nicht zu stoppen. [1][Starke | |
Siege in Bayern] und [2][Hessen], auch der Bundestrend ist respektabel. Ist | |
das noch stabiles Wachstum oder schon ein Hype? | |
Reinhard Bütikofer: Jeder Trend ist solange stabil, bis er an sein Ende | |
kommt. Wenn man sich auf ihn verlässt, endet er schneller. Wir sollten uns | |
selbst gerade im großen Erfolg zur Bescheidenheit anhalten. Im Römischen | |
Reich war es Brauch, dass der Senat erfolgreichen Feldherren einen | |
Triumphzug durch die Stadt gewährte. Dabei lief ein Sklave hinter dem | |
Feldherren, der ihm zurief: Denke daran, dass du ein Mensch bist! Keine | |
schlechte Idee. Bei Erfolgen ist es immer klug, auf die eigenen Schwächen | |
zu schauen, zu prüfen, was man besser machen will. | |
Welche Schwächen meinen Sie? | |
Wir haben in Hessen wieder wie in Bayern in den Städten sehr gut | |
abgeschnitten, haben dort 26 Prozent erreicht. Auf dem Land ist dagegen | |
bundesweit durchaus noch Luft nach oben. Im Osten sind wir insgesamt recht | |
schwach. Dann kam in einer Wahlanalyse heraus, dass uns ein Viertel der | |
Befragten Zukunftskompetenz zuweist. Das ist ein Riesenfortschritt, mehr | |
als derzeit bei SPD oder CDU, aber dennoch kein berauschender Wert. | |
Außerdem haben wir die SPD in ihren Kompetenzfeldern keineswegs | |
überflügelt. | |
Die BürgerInnen hielten die Grünen vor allem bei Verkehrs- und Umweltthemen | |
für kompetent. In der Wohnungs- oder Bildungspolitik schnitten sie viel | |
schlechter ab. | |
Wir waren erfolgreich bei unseren Kernthemen, in denen wir Ministerien | |
führten – und in der Familienpolitik. Das ist kein schmales Profil, aber | |
weniger, als man braucht, wenn man eine Orientierungsfunktion für die ganze | |
Gesellschaft ausfüllen will. Und diese sehe ich auf uns zukommen. Deshalb | |
liegt viel inhaltliche Arbeit vor uns. Übermut ist nicht angebracht. | |
Dieser Appell kommt zu spät. Robert Habeck ist nach dem Sieg in Bayern | |
erstmal [3][von der Bühne in die Arme seiner Fans gesprungen]. | |
Ich bitte Sie! Stage diving ist ein unschuldiges Vergnügen! Ich sehe die | |
Gefahr nicht, dass wir überschnappen. Und in Hessen wirkt mit Tarek | |
Al-Wazir einer unserer umsichtigsten Köpfe. Übermut ist ihm nicht gegeben. | |
Das ist eine große Gnade. | |
Die hessischen Grünen haben fast genauso viele Wähler von der CDU gewonnen | |
wie von der SPD. Begründen die Grünen gerade eine neue bürgerliche Mitte? | |
Mit dem Begriff der Mitte bin ich lieber vorsichtig. Jeder, der ihn in den | |
vergangenen Jahren für sich reklamiert hat, hat angefangen zu verlieren. | |
Aber tatsächlich findet eine Neusortierung der politischen Landschaft | |
statt. Es geht nicht nur um einen Austausch innerhalb der | |
Mitte-Links-Parteien, wie es konservative Kommentatoren uns weis machen | |
wollen. Die Grünen sind offenbar für viele Milieus attraktiv, weil die | |
Menschen bei uns Orientierung suchen und finden. Wenn man denn von Mitte | |
sprechen will, würde ich sagen: Sie bewegt sich auf uns zu, weil wir etwas | |
bieten, was anderen Parteien abgeht. | |
Bei SPD und CDU wird nun gesagt, der Streit innerhalb der Großen Koalition | |
in Berlin sei schuld an den Verlusten in Hessen. Stimmen Sie zu? | |
Es wäre zu eindimensional, so zu tun, als habe die Negativwirkung der | |
Berliner GroKo nur an dem Streithansel Seehofer oder anderen Personalien | |
gelegen. Es ist zum Beispiel interessant, wie stark der Dieselskandal im | |
Wahlkampf eingeschlagen hat. Dieses Thema bewegt viele Menschen. Das | |
spricht dafür, dass anscheinend der mangelnde Wille, Interessen der | |
BürgerInnen gegen die Autokonzerne durchzusetzen, eine Rolle gespielt hat. | |
Vielleicht ist das überhaupt ein wesentlicher Grund für die Erosion der | |
Volksparteien: Sie sind unwillig oder unfähig, Interessen des Gemeinwohls | |
gegen privilegierte Gruppen durchzusetzen – obwohl sie, das Gemeinwohl | |
quasi im Namen tragen, wenn sie sich zu Volksparteien erklären. | |
Regierende Grüne sind leider nicht mutiger. Kretschmann fasst den | |
Daimler-Konzern nur mit Samthandschuhen an – und hat eine harte | |
Erbschaftsteuer sogar bekämpft. | |
Bei der Erbschaftsteuer bin ich anderer Meinung als er. Wo es aber um den | |
Umbau der Automobilindustrie geht, damit sie im wachsenden internationalen | |
Wettbewerb auch in Zukunft gute Chancen hat, tut kein Ministerpräsident | |
mehr als Kretschmann. Nur kann kein einzelnes Bundesland bei der | |
Rahmensetzung für den Bund einspringen. | |
Sie erklären Ihre Partei mit einer Drei-Phasen-Theorie. Anfangs, noch neu | |
in Parlamenten, mussten die Grünen lautstark zuspitzen, um gehört zu | |
werden. Dann kam die Phase vorsichtiger Mitgestaltung, als kleinerer | |
Partner in einem Zweierbündnis. Zum Schluss könnten die Grünen | |
Orientierungspartei werden. Haben Sie diesen Schritt geschafft? | |
Nein, aber wir machen Fortschritte. Wir können jetzt in vier Ländern diese | |
Rolle für uns beanspruchen – in Baden-Württemberg, Schleswig-Holstein, | |
Bayern und nun Hessen. Vier Länder von sechzehn. Aber die Richtung stimmt. | |
Es hieß lange, Baden-Württemberg sei ein Ausnahmefall – mit sehr speziellen | |
Milieus und dem Staatsphilosophen Winfried Kretschmann. Inzwischen ist | |
klar: Der Schritt aus der Nische gelingt auch in anderen Situationen mit | |
anderen Personen. | |
Im kommenden Jahr wird in drei ostdeutschen Ländern gewählt, dort | |
schwächeln die Grünen. Welche Strategie empfehlen Sie? | |
Wir haben auch dort gute Sachthemen, doch das reicht nicht. Wenn | |
beispielsweise die sächsischen Grünen so sächsisch zu den Menschen in ihrem | |
Freistaat reden, wie die bayrischen Grünen zu den Bayern bayrisch, dann | |
kommen sie voran. Glaubwürdig das, was die Menschen bewegt, zum Thema zu | |
machen, das ist eine Frage der Sprache und natürlich des Zuhörens. Man soll | |
dem Volk aufs Maul schauen, heißt es, aber nicht nach dem Munde reden. Wir | |
müssen, um den Osten stärker zu bewegen, als Bundespartei demonstrieren, | |
dass uns der Osten bewegt. | |
Das könnte interessant werden. Viele Menschen in Ostdeutschland halten den | |
grünen Kurs in der Flüchtlingspolitik für blauäugig. | |
Sicher. Aber die, die uns am fernsten stehen, werden wir natürlich nicht | |
als erste gewinnen. Doch darf es keine Gegenden geben, die wir aufgeben, | |
weil wir dort schwach sind. Da werden wir uns im Europawahlkampf | |
anstrengen. | |
Die Grünen hatten nach Fukushima schon einmal eine Hochphase, sie standen | |
2011 bei bis zu 28 Prozent in Umfragen. Was macht sie optimistisch, dass | |
der Absturz dieses Mal ausbleibt? | |
Bei aller Freude über die großen Wahlerfolge in Hessen und Bayern dürfen | |
wir nicht übersehen, wie instabil die politische Gesamtlage ist. Erfolg | |
kann schnell verwehen. Trotzdem bin ich optimistisch. Weil die Partei heute | |
mit der Chance, die sich uns bietet, besser umgehen kann. Das liegt an der | |
Führung und an der Einigkeit auch zwischen den Flügeln, die größer ist als | |
früher. Gemeinsam betonen wir den starken Dreiklang: Menschenwürde, Klima, | |
Europa. | |
[4][In Hessen sieht es nach Schwarz-Grün oder einer Jamaika-Koalition aus], | |
in Bayern wäre nur ein Bündnis mit der CSU gegangen. Die Grünen müssen | |
konservativ koalieren, weil sie die SPD kannibalisieren. Ist das ein | |
Problem? | |
Wie es in Hessen ausgeht, weiß ich nicht. Aber gewiss „müssen“ wir nicht | |
konservativ koalieren. Sondern wir tun es gegebenenfalls dort, wo sich | |
damit möglichst viele Grüne Ziele verwirklichen lassen. Wenn wir in Hessen | |
noch 1-2 Prozent stärker geworden wären, hätten wir vier verschiedene | |
Koalitionsoptionen haben können, davon zwei mit der SPD. Das Problem der | |
SPD sind nicht wir; sie ist gegenwärtig ihr eigener Feind. | |
Kommen die sich radikal gerierenden Grünen nicht auf Dauer in Widersprüche, | |
weil mit CDU und FDP eben keine sozialökologische Wende zu machen ist? | |
Zur notwendigen sozialökologischen Wende ist die Nahles-SPD leider auch | |
nicht bereit. Stichwort Kohle. In jeder Koalition geraten wir damit in | |
Widersprüche. Einen Ausweg nach vorne gibt es da nur, wenn die | |
verschiedenen Bewegungen für diese Wende weiter Druck machen und die | |
Wählerinnen und Wähler uns weiter stärken. | |
Beide Volksparteien haben in Hessen dramatisch verloren. Erleben wir das | |
Ende dieses Modells? | |
Die CSU ist mit 37 Prozent noch Volkspartei, die SPD in Niedersachsen mit | |
ebenfalls 37 Prozent auch. Aber solche Ergebnisse werden seltener. Ja, das | |
Modell Volkspartei hat seine Zukunft zunehmend hinter sich. | |
Welche Auswirkungen auf die Große Koalition sagen Sie voraus? | |
Ich erwarte keine kurzfristige Neuwahl. Seehofer wird nicht mehr lange zu | |
halten sein. Die CDU bekommt einen Parteitag maximalen Missvergnügens. | |
Merkel und Nahles wursteln weiter. Einstweilen. Aber sie werden gezwungen | |
sein, auf unsere Erfolge zu reagieren. Wie sie's tun, wird spannend. | |
29 Oct 2018 | |
## LINKS | |
[1] /Gruene-nach-der-Wahl-in-Bayern/!5540544 | |
[2] /Kommentar-Wahl-in-Hessen/!5546195 | |
[3] /Nach-dem-Bayern-Wahlerfolg-der-Gruenen/!5539653 | |
[4] /Moegliche-Koalition-nach-Hessenwahl/!5546219 | |
## AUTOREN | |
Ulrich Schulte | |
## TAGS | |
Landtagswahl in Hessen | |
Hessen-Wahl | |
Hessen | |
Grüne | |
Reinhard Bütikofer | |
Volkspartei | |
Hessen-Wahl | |
Hessen-Wahl | |
Andrea Nahles | |
Landtagswahl in Hessen | |
Kevin Kühnert | |
CDU/CSU | |
Schwerpunkt Angela Merkel | |
Landtagswahl in Hessen | |
Hessen-Wahl | |
Hessen-Wahl | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Kommentar Höhenflug der Grünen: Sagen, wo sie stehen | |
Die Grünen locken mit ihrem linken Sound auch frustrierte SPD-WählerInnen | |
an. Aber wie ernst ist es ihnen wirklich mit der Sozialpolitik? | |
Koalitionsgespräche in Hessen: Die Ampel ist aus | |
Schon nach der ersten Sondierungsrunde ist klar: Die Grünen stellen nicht | |
den Ministerpräsidenten. Sie regieren wohl weiter mit der CDU. | |
Kommentar SPD nach der Hessenwahl: Los, raus da! | |
Für die SPD führt kein Weg um die Erkenntnis herum: Sie muss die Regierung | |
verlassen. Der Schritt in die Große Koalition war von Anfang an ein Fehler. | |
Mögliche Koalition nach Hessen-Wahl: Grüne und FDP umfahren die Ampel | |
Rechnerisch wäre auch eine hessische Landesregierung unter Tarek Al-Wazir | |
möglich. Doch weder Grüne noch Liberale scheinen interessiert. | |
SPD und Groko nach der Hessen-Wahl: Jetzt bloß keine Panik | |
Nach der Hessen-Wahl ist SPD-Chefin Andrea Nahles wild entschlossen, | |
weiterzumachen. Andere Stimmen fordern ein Groko-Ende – nur wie? | |
Merkels geplanter Ausstieg aus der Politik: Ein Abgang mit Würde | |
1999 hat Angela Merkel die CDU in die Befreiung von Kohl geführt. 2018 | |
befreit sie ihre Partei von sich. | |
Merkel nach der Hessenwahl: Letztes Mal Kanzlerin | |
Nach der Landtagswahl in Hessen will Angela Merkel auf den | |
CDU-Parteivorsitz verzichten. Auch als Kanzlerin will sie nicht erneut | |
antreten, bis dahin aber weiterregieren. | |
Kommentar CDU bei der Hessenwahl: Jetzt mit offenem Streit beginnen! | |
Merkel soll angekündigt haben, auf den CDU-Vorsitz zu verzichten. Das wäre | |
nach den Verlusten in Hessen ein guter Schritt, um die Debatte zu starten. | |
Mögliche Koalition nach Hessenwahl: Schwarz-Grün hauchdünn vorne | |
Nach dem vorläufigen amtlichen Endergebnis kann Schwarz-Grün mit knapper | |
Mehrheit weiterregieren. Möglich sind aber auch andere Konstellationen. | |
Kommentar Wahl in Hessen: Die grüne Dauerparty | |
Die Grünen punkten mit Professionalität im Land und Einigkeit im Bund. Bei | |
CDU und SPD schlägt der GroKo-Malus voll durch. |