Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Dreimal Schimmelreiter im Norden: Der Jesus vom Deich
> Hauke Haien als Bücherwurm, Dorfschullehrer oder Heiland: In
> Wilhelmshaven, Bremen und Hamburg kommt Storms „Der Schimmelreiter“ auf
> die Bühne.
Bild: Bilderrausch, der Assoziationen zur Verschmutzung der Meere eröffnet: Am…
Schaufeln für Dämme – das gehörte früher mal zum naturgemäßen und
gottergebenen Überlebenskampf der Nordseeküsten-Bewohner*innen. Heute ist
die Pflege, Stabilisierung und Erhöhung der Wälle wider die Gewalten des
Meeres eine logische Folge der menschengemachten Erderwärmung. Der
Weltklimarat legte dazu gerade ein Alarm-Update vor sowie der
Wissenschaftliche Dienst des Bundestages eine Ausarbeitung mit üppigen
Überflutungsszenarien in Norddeutschland.
Und die sonst immer etwas behäbige Bühnenkunst meldet sich auch kunstsinnig
zu Wort in dieser erhitzten Atmosphäre. In Wilhelmshaven, Bremen und
Hamburg wurde dem Klimatheater das Spielplanrecht auf ästhetisch betörend
beiläufige Art eingeräumt – mit dem Schimmelreiter Hauke Haien.
Der Mathe-Freak kämpft in Theodor Storms naturalistischer Novelle als
einsamer Pionier der rationalen Naturwissenschaftsmoderne gegen den
Aberglauben und die kleinmütige Trägheit der Masse. Sein Ziel: die
wachsende Bedrohung durch Sturmfluten zu bannen. Noch heute ist Haiens Plan
lebendige Praxis, mit flach zur See hin abfallenden Wellenbrechern vor der
Küste den heranbrausenden Fluten die elementare Kraft zu rauben, bevor sie
auf die Deichlinie treffen.
Der Bühnen-Hauke hinterm Deich des Jadebusens, am Stadttheater
Wilhelmshaven, ist der Jüngste der drei Produktionen. Julius Ohlemann gibt
einen eigenbrötlerischen Bücherwurm, der aber auch als gedankenklarer
Springinsfeld draußen zu Hause ist als Nordseegucker. Nie fühlt er sich
wohl in der argwöhnisch dumpfen Dorfgesellschaft, will auch dem Rampenlicht
der Bühne am liebsten entfliehen. Da bleibt er vor allem wegen Elke, liebt
sie glaubwürdig unbedingt. Und leidet glaubwürdig hilflos, die geistigen
Provinzler seiner Heimat nicht mitreißen zu können, wenn er so fleißig wie
unbeirrt mit technischem Sachverstand seine Küstenschutzmaßnahmen
realisiert. Wilhelmshavens Hauke ist ein tatkräftiger, sympathischer Held
der Aufklärung.
## Hochnäsiger Pragmatiker
In Bremen wiederum verleiht ihm Alexander Swoboda einen drögen
Dorfschullehrercharme, konterkariert durch rasenden Ehrgeiz. Höchst
verbissen und zunehmend hochnäsig erledigt er seinen Deichgrafenjob,
verweigert sich dabei empathischen Regungen und provoziert Neid, da er
übermäßig vom neu dem Meer abgerungenen Land profitiert.
Seine Beziehung zu Elke ist eher von praktischer Vernunft denn sinnlicher
Anziehung geleitet. In einer herzglühenden Szene beglaubigt Bremens Hauke
aber die Liebe zu seiner Tochter Wienke. Herzbrennend gar der Versuch, an
Gott zu zweifeln. In Hamburg schließlich erscheint der Herr der Dämme von
vornherein als Tragöde erster Ordnung. Jens Harzer trägt das Leid der Welt
auf seinen Schultern, was das melancholische Fabulieren in Sphären der
Depression treibt.
Von den drei Hauke-Entwürfen gelingt Harzer aber der differenzierteste.
Lässt er doch die fortschrittgläubige Emphase des Wilhelmshavener Kollegen
spüren, kämpft wie sein bremisches Pendant auch mit der Idee eines
gottlosen Universums, lotet seine Existenz daraufhin gedankenschwer aus und
wandelt geradezu in Erlösermanier übers Nordseewasser. Dieser Hauke Haien
hat sich geopfert für seine Ideen – ein nordfriesischer Jesus. Regisseur
Johan Simons zelebriert eine theatral zeitlose Meditation, die
Interpretationsoptionen in Richtung Klimawandel mitdenkt, aber nie explizit
betont.
Die beiden anderen Versionen suchen dezent direktere Anbindung an die
politische Aktualität. In Wilhelmshaven leugnen die Dörfler nicht nur
mangelnden Deichschutz und die vom Meer heranbrausenden Gefahren, sie
nehmen auch Fake News wie Geistersichtungen für wahr, wenn sie ins
Denkschema passen, für das die Pflege der Tradition weitaus wichtiger ist
als Erkenntnisse der Wissenschaft.
## Sturm-Schauermärchen
Auf der Bühne ist das Volk ein Chor der Erzähler und Kommentatoren, aus dem
sich immer wieder agierende Individuen herauslösen. Wie in der antiken
Tragödie. Zusätzlich hat Regisseur Gernot Plass den elegischen Sprachfluss
Storms zu lyrisch kantigen Blankversen verdichtet, sodass aus der
Beschreibungsprosa dialogisches Miteinander wird. Beeindruckend, wie sich
dabei ständig Erzähl- und Spielhaltung ändern. Beeindruckend auch die
artikulatorische Präzision und feine Instrumentierung des Textes für sieben
Schauspielerstimmen: Aus Sprache wird Musik.
Überzeugend auch, wie zielsicher die Komik der Vorlage herausgearbeitet und
zu einer Typenkomödie stilisiert wird. Das scheue Aufeinanderzu von Hauke
und Elke ist hingegen als zarte Romanze formuliert. Die kaum variierte
Tempovorgabe, presto!, hilft vor allem den Andeutungen neurechter Tendenzen
im Dörfler-Personal, da diese so nicht als plumpe Regiegeste ausgestellt,
sondern im Sturm der Worte en passant serviert werden.
Sehr präsent, aber nie ins Spiel integriert ist die Bremer Aktualisierung:
War die Natur bei Storm noch demütig geachteter Gegner, mit dem es sich zu
arrangieren galt, ist sie heute verachteter Müllabladeplatz und die Bühne
daher mit Plastikabfall geflutet. Aus dem Unrat erhebt sich die Fantasie
der starrköpfigen Spökenkieker-Gesellschaft. Ballons aus Plastikfolien in
Pferdeform werden zu Boten des Teufels aufgeblasen. Alize Zandwijk
inszeniert in der wüsten Dämmerung einer apokalyptischen
(Seelen-)Landschaft ein Schauermärchen – über dem ein riesiger Mond wacht
als Chef der Gezeiten. Mit Wattmatsch beschmiert umschleicht sich das
Ensemble, anfangs noch mit teils grotesk überzeichneten Masken.
Haukes Gegenspieler Ole ist mit ein paar Comicstrichen sofort als Bösewicht
kenntlich und der Gespensterseher kommt mit leuchtendem Christenkreuz statt
einer Nase daher. Nach und nach demaskiert, formulieren die Darsteller den
Charakter ihrer Figuren psychologisch aus für eine Inszenierung im
Bilderrausch, der Assoziationen zur Verschmutzung und Erwärmung der Meere
eröffnet. Live liefert Maartje Teussink düster romantische Balladen,
klagende Klarinettenmelodien und einen Soundtrack dazu, indem sie ihre
Saiteninstrumente streichelt, zupft, schlägt, kitzelt oder daran herumsägt.
Wird die Wilhelmshavener Aufführung aus dem Rhythmus der neuen Textfassung
entwickelt, geschieht dies in Bremen aus der unheilschwangeren Atmosphäre
und in Hamburg mit der Tiefenbohrung durch Storms Sprache. So
unterschiedlich, so sehenswert sind alle drei Produktionen. Schimmelreiter
kann Norddeutschland.
12 Oct 2018
## AUTOREN
Jens Fischer
## TAGS
Thalia-Theater
Theater Bremen
Theater
Wochenendkrimi
Thalia-Theater
Bremer Theater
Grau
Klima
## ARTIKEL ZUM THEMA
TV-Schimmelreiter goes Klimakrise: Durchtherapierte Schnippigkeit
Viel Bohei wird gemacht, weil Robert Habeck, Ehemann der Schriftstellerin
Andrea Paluch, an der Romanvorlage zu dem Film mitgewirkt hat. Alles
umsonst!
Kleists „Amphitryon“ in Hamburg: Gott als Erdenkloß
Leander Haußmann gelingt am Thalia-Theater ein ebenso lustiger wie
vielschichtiger Abend. Nicht mal die Kleist’schen Frauenrollen fallen in
den Objektstatus zurück.
Bremer Tanztheater-Stück „Hiatus“: Zuckungen im Menschenknäuel
Die erste Inszenierung der frisch umformierten Tanzkompanie Unusual
Symptoms am Bremer Theater erzählt vom Risiko, in der Gruppe unterzugehen.
An der Nordseeküste: Husum, Du schöne Stadt am Meer
Theodor Storm hat seiner Heimat Husum ein Denkmal gesetzt, nun wird sie auf
ewig die graue Stadt sein. Sie hat Besseres verdient. Ein Spaziergang.
Deichbau und Größenwahn: Der Mythos vom Schimmelreiter
Der Husumer Theodor Storm schrieb mit dem „Schimmelreiter“ eine Deichbau-
und Gespensternovelle, die schnell zum friesischen Nationalepos verklärt
wurde.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.