| # taz.de -- Deichbau und Größenwahn: Der Mythos vom Schimmelreiter | |
| > Der Husumer Theodor Storm schrieb mit dem „Schimmelreiter“ eine Deichbau- | |
| > und Gespensternovelle, die schnell zum friesischen Nationalepos verklärt | |
| > wurde. | |
| Bild: Hauke Haien als charismatischer Führer: Mathias Wiemann als "Schimmelrei… | |
| HAMBURG taz | Sein Gelb wirkt wie ein Schrei. Das ist kein Zufall, denn | |
| Theodor Storm wusste Effekte zu setzen: Der kleine gelbe Hund, den die | |
| Arbeiter in der Novelle „Der Schimmelreiter“ in den Deich werfen, winselt | |
| ganz erbärmlich. Und hätte ihn Storm nicht gelb, sondern hellbraun gemacht | |
| – man hätte ihn längst vergessen. | |
| So aber bildet der Hund einen im Wortsinn leuchtenden Link zum zentralen | |
| Thema der 1888 edierten Novelle, einer Ikone des Poetischen Realismus: den | |
| Zusammenprall von moderner Deichbautechnik und Aberglauben. Hier | |
| demonstriert anhand des absurden Versuchs, den exakt berechneten Deich | |
| durch ein Tieropfer haltbar zu machen. „Es muss was Lebigs in den Deich“, | |
| raunen die Leute und murren, als der Deichgraf es verhindert. | |
| ## Mehr als ein Heimatroman | |
| Die Geschichte vom Deichgrafen Hauke Haien, der gegen das Meer und den | |
| Geisterglauben der nordfriesischen Dorfbewohner kämpft, ist beliebt wie eh | |
| und je, und das verwundert: Was fasziniert an einer Geschichte, die im 17. | |
| und 19. Jahrhundert spielt und von Gespenstern und Deichbau handelt? Ist | |
| der „Schimmelreiter“ nicht ein Stück Heimatliteratur, das die Leute wegen | |
| des Lokalkolorits schätzen? | |
| „Ganz und gar nicht“, sagt Thomas Steensen, Leiter des Nordfriesischen | |
| Instituts in Bredstedt. „Es ist ein vieldeutiges Werk über den Kampf eines | |
| Menschen und sein Scheitern. Als bloßes Landschaftsporträt wäre es nie zur | |
| Weltliteratur geworden, die man sogar in den USA und Japan liest.“ | |
| Diese Weltliteratur war allerdings anfällig für Vereinnahmungen durch die | |
| Nationalsozialisten: Curt Oertels und Hans Deppes Film von 1933 zeichnet | |
| Hauke Haien als heroische Führerfigur. Seine geistig behinderte Tochter | |
| Wienke dagegen fehlt; sie passte nicht zur NS-Ideologie. Doch auch der | |
| ZDF-Film von 1978 nach dem Buch von Alfred Weidenmann verkürzt Wienkes | |
| Schicksal auf eine Totgeburt. | |
| Dass Storm selbst keine Klischees wollte, weiß Steensen sicher. „Mit dem | |
| wortkargen, blonden Friesen hatte Storm nichts am Hut.“ Tatsächlich | |
| präsentiert Storm einen vielschichtigen Haien: Zwar ist der technisch | |
| versiert und lässt vorausschauend einen neuen Deich bauen, andererseits | |
| fehlt ihm jede soziale Kompetenz. Seinen Schimmel hat er von einem | |
| finsteren Händler gekauft, und von Stund an ist das alte Pferdeskelett von | |
| der Jevershallig verschwunden. | |
| Also zerreißen sich die Dorfbewohner die Mäuler über Haien: Steht er etwa | |
| mit dem Teufel im Bunde? Als seine Frau mit dem Tod ringt, zweifelt er | |
| obendrein Gottes Allmacht an – ein Frevel für die Dorfbewohner, die | |
| ansonsten Aberglauben und Kirche ganz gut zusammenbringen. | |
| Auch Storm glaubte übrigens an Geister. „Dabei war er Atheist und hielt | |
| sich für einen aufgeklärten Menschen“, sagt Heinrich Detering, Präsident | |
| der Storm-Gesellschaft. Wenn man Storm auf den Widerspruch hinwies, sagte | |
| er, dass diese Dinge bloß noch nicht erforscht seien. „Er fand, dass unser | |
| Alltag nur eine Handbreit vom Mysterium entfernt sei“, sagt Detering. | |
| Dieses Mysterium konkurrierender Realitäten zelebriert Storm im | |
| „Schimmelreiter“ ausführlich. Dabei spielt er so geschickt mit Erzähleben… | |
| und unzuverlässigen Berichterstattern, dass auch der Leser ins Schleudern | |
| kommt. Und sicher war es Storm ein Vergnügen, die Novelle mit einem | |
| nüchternen Geschäftsmann zu beginnen, der das Schimmelreiter-Gespenst | |
| sieht. Will uns Storm ernsthaft erzählen, dass es Geister gibt? | |
| Es bleibt vage, und hier läge eine Erklärung für die konstante Beliebtheit | |
| des Stoffs: Die Akzeptanz multipler Perspektiven und die Entlarvung von | |
| „Realität“ als subjektive Setzung sind in Zeiten von | |
| Post-Dekonstruktivismus und Quantenphysik sehr aktuell. | |
| Das erklärt den Dauerbrenner „Schimmelreiter“ aber nicht allein, und | |
| tatsächlich ist da noch etwas: die Sehnsucht nach dem Herunterbrechen | |
| globaler Fragen auf die Region, der Transfair in die Nahsicht, in der man | |
| sich wiederfinden kann. „Der Schimmelreiter ist zum friesischen | |
| Nationalepos geworden“, sagt Steensen vom Nordfriesischen Institut. „95 | |
| Prozent der Friesen, die wir fragen, womit sie sich am stärksten | |
| identifizieren, nennen den Schimmelreiter.“ | |
| ## Stoff von der Weichsel | |
| Das ist apart, denn der Stoff kommt gar nicht aus Nordfriesland. Die Sage | |
| vom „Gespenstigen Reiter“, der bei Gefahr erscheint, stammt von der | |
| Weichsel. Storm hatte die Geschichte als Kind gelesen und viele Jahre | |
| später wieder aus dem Gedächtnis gekramt. Es war mühsam, aus der | |
| Gespenstersage eine Novelle zu machen. Aber er schaffte es, indem er so | |
| viel Authentisches hineingab, dass das Werk zum regionalen Epos verklärt | |
| wurde. | |
| Das liegt auch daran, dass Storm darin das Grundmotiv der nordfriesischen | |
| Landschaft verarbeitet – Landverlust und Landgewinnung: Man wirtschaftet | |
| auf dem Land, das die Vorfahren dem Meer abtrotzten. Dass ein literarisches | |
| Werk zu diesem Thema fehle, monierte Hans Christian Andersen schon 1844. | |
| Storm hat die Lücke 1888 gefüllt, und seine Küstenschutz-Novelle wirkt so | |
| plausibel, dass Reisende und Amateurhistoriker bis heute versuchen, Hauke | |
| Haiens Weg exakt nachzuzeichnen. Manchmal wird auch nachgeholfen, indem | |
| eine Kneipe kurzerhand zum „Schimmelreiter-Krug“ wird oder ein Deichvorland | |
| zum „Hauke-Haien-Koog“. Dessen Name allerdings ist mehr als ein | |
| Tourismus-Gag: Der um 1960 geschaffene Koog enthielt als erster Gebiete, | |
| die weder besiedelt noch bewirtschaftet werden, sondern als Speicherbecken | |
| dienen. Er markiert also eine Wende in der Landgewinnungspolitik und | |
| verkörpert eine ähnlich revolutionäre Idee, wie Storm sie Haien zuschreibt. | |
| Doch hier irrt Storm, denn Hauke Haiens flache Deichböschung war keine | |
| revolutionäre Erfindung des 19. Jahrhunderts. „Archäologische Funde zeigen, | |
| dass schon die Deiche des Mittelalters keine senkrechten Stackdeiche | |
| hatten, sondern flache Böschungen“, sagt der Storm-Experte Gerd Eversberg. | |
| Der Mythos vom Technik-Revolutionär Haien sei also falsch. | |
| Und der Mythos von Haien, der sich reuig in die Fluten stürzt? Auch er | |
| steht auf tönernen Füßen. „Ich bekenn es, ich habe meines Amtes schlecht | |
| gewaltet“, ruft er, als der alte Deich bricht, den zu flicken er versäumte. | |
| Aber trägt er echte Schuld? „Man muss das nicht metaphysisch überhöhen, | |
| dass der Held in seiner Größe scheitert, weil er die kleinen Dinge nicht | |
| sieht“, sagt Eversberg. Storm biete auch eine rationale Erklärung: Als | |
| Haien die Reparatur unterließ, genas er von der Malaria und war – typisches | |
| Symptom – entscheidungsschwach. | |
| ## Haiens Schuld bleibt offen | |
| Aber warum beging Haien dann Suizid? „Schuld an Haiens Tod ist das Versagen | |
| seiner Frau Elke, die samt Kind in die Flutkatastrophe hineinfährt und vor | |
| Haiens Augen ertrinkt“, findet Eversberg. Und sein Ausruf „Herr Gott, nimm | |
| mich, verschon die Andern!“ sei Unsinn. „Alle anderen waren gerettet.“ Ein | |
| ambivalentes Ende mit einer Weltuntergangsszene, von der es nur eine | |
| Handbreit wäre bis zu Storms zunächst geplantem Schluss. Darin sollte der | |
| Teufel Haien holen. | |
| Vielleicht starb Haien aber auch durch ein Komplott der Dorfbewohner. | |
| Dieses Ende – sowie eine überlebende Wienke, die als Erwachsene zurückkommt | |
| – schlagen Andrea Paluch und Robert Habeck in ihrem 2001 edierten Krimi | |
| „Hauke Haiens Tod“ vor. | |
| Verfolgt man die Idee divergierender Wahrheiten zu Ende, reicht sie bis ins | |
| Biografische: Als Storm während der Arbeit an der Novelle erfuhr, dass er | |
| unheilbar krank sei, brach er zusammen. Die Familie schmiedete daraufhin | |
| ein Komplott mit dem Arzt: Es sei eine Fehldiagnose gewesen, erklärte er | |
| Storm. Es half. Storm lebte auf, beendete die Novelle und starb kurz vor | |
| Erscheinen der Erstausgabe. | |
| 6 Jun 2014 | |
| ## AUTOREN | |
| Petra Schellen | |
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