# taz.de -- Amnesty-Expertin zur Asyl-Debatte: „Es gibt keine Integrationsmü… | |
> Die gesellschaftlich-mediale Debatte spiegelt nicht die Haltung in der | |
> Bevölkerung wider, sagt Franziska Vilmar. Die politischen Entscheidungen | |
> seien aber verheerend. | |
Bild: Die 19-jährige Nermi Zeitoun aus dem syrischen Idlib mit ihrem Baby Mohh… | |
taz: Frau Vilmar, haben die Deutschen genug von den Flüchtlingen? | |
Franziska Vilmar: Es ist genau diese falsche Behauptung, die Menschen „da | |
draußen“ seien integrationsmüde und wären nicht mehr zur Aufnahme von | |
Flüchtlingen bereit, mit der all die restriktiven gesetzlichen | |
Abschottungsmaßnahmen begründet und getroffen werden. | |
Wie ist die Stimmung denn tatsächlich? | |
Das [1][Integrationsbarometer des Sachverständigenrats Migration] hat in | |
der vergangenen Woche sehr deutlich in einer Studie mit über 9.000 | |
Befragten gezeigt: die Alltagserfahrungen im Zusammenleben zwischen | |
Deutschen und Migrantinnen und Migranten sind deutlich besser als der | |
Diskurs. Die Haltung speziell gegenüber Flüchtlingen ist weitaus positiver, | |
als man hätte annehmen können, angesichts des scharfen Tons in der | |
gesellschaftlich-medialen Debatte. | |
Gemeinsam mit Pro Asyl kritisieren Sie die Bundesregierung und die EU nun | |
heftig wegen ihrer Asylpolitik. Steht es wirklich auf allen Ebenen so | |
schlimm? | |
Wir haben bei unserer letzten gemeinsamen Pressekonferenz vor einem Jahr | |
lange darüber diskutiert, ob es etwa die Obergrenzen überhaupt geben darf. | |
Nun ist sie Realität. Nehmen Sie die Familienzusammenführung: Seit August | |
gilt hier eine monatliche Obergrenze von 1.000 Menschen. Es geht um | |
Familien aus einigen der schlimmsten Kriegsregionen der Welt, die teils | |
Jahre auseinander gerissen werden. Es gingen nun 853 Anträge auf | |
Familienzusammenführung ein, nur 65 wurden vom Bundesverwaltungsamt positiv | |
beschieden und nur 42 Personen erhielten ein Visum. 42! | |
Einer der Punkte, an dem die Große Koalition fast zerbrochen wäre, ist die | |
direkte Zurückweisung von Flüchtlingen an den deutschen Grenzen. Die | |
[2][findet nun seit einigen Wochen statt]. Sie kritisieren dies als | |
rechtswidrig. Warum klagen Sie nicht? | |
Es ist ganz schwierig zu klagen, wenn man so wenige Informationen hat. Die | |
Bundesregierung hat offenbar Abkommen für die direkte Zurückweisung mit | |
Italien, [3][Griechenland und Spanien] abgeschlossen – die Abkommen werden | |
aber geheim gehalten. Beim BMI liegt deshalb eine Anfrage nach dem | |
Informationsfreiheitsgesetz. Der erste Präzedenzfall einer Zurückweisung | |
stammt von Ende August. Flüchtlingsorganisationen versuchen, die Person | |
jetzt in Griechenland ausfindig zu machen. Sobald wir den Text der Abkommen | |
oder Kontakt zu einem Betroffenen haben, kann man klagen. | |
Jetzt kommt der türkische Präsident Erdogan nach Deutschland. Das Abkommen | |
mit der Türkei hat die Flüchtlingsbewegung aus Syrien Richtung Europa | |
gestoppt. Bleibt es dabei? | |
Zu den Folgen des EU-Türkei-Deals zählt, dass die im März 2016 noch offene | |
türkische Grenze zu Syrien geschlossen wurde. Die Bundeskanzlerin sollte | |
sich gegenüber Erdogan dafür einsetzen, dass diese Grenze zumindest für | |
Menschen, die vor den Angriffen auf Idlib fliehen, geöffnet wird. Zugleich | |
ist die internationale Gemeinschaft aufgefordert, stärker als bisher | |
syrische Flüchtlinge aus der Türkei aufzunehmen. Viele Flüchtlinge in der | |
Türkei haben nach wie vor weder angemessenen Wohnraum, noch die | |
Möglichkeit, sich und ihre Familien aus eigener Kraft zu versorgen. | |
Eine weitere Folge des Abkommens ist, dass viele Flüchtlinge auf den | |
griechischen Inseln festgehalten werden, darunter 2.500 Kinder. Gestern | |
meldete die Organisation SOS Kinderdörfer, dass es dort schon | |
[4][Selbstmordversuche von Zehnjährigen] gegeben habe. Hat Sie das | |
überrascht? | |
Dass die inzwischen über 20.500 Schutzsuchenden auf den griechischen Inseln | |
in erbärmlichen Zuständen verharren und in menschenunwürdigen Umständen vor | |
sich hinvegetieren, gehört leider zum gewollten Abschreckungseffekt des | |
EU-Türkei-Deals. Über Monate hinweg fehlt es diesen Menschen an einer | |
angemessenen hygienischen Versorgung, es gibt zu wenig Ärzte, Frauen und | |
Kinder sind sexuellen Übergriffen ausgeliefert, Schule fällt aus. Die | |
Menschen warten nicht auf die Prüfung ihres Asylantrags, sondern vor allem | |
darauf zu erfahren, ob Griechenland ihren Antrag überhaupt für zulässig | |
erachtet. Falls nicht, sollen sie laut Deal zurück in die Türkei geschoben | |
werden. | |
Das scheint die Blaupause für die künftige Linie zu sein: Die EU will, dass | |
künftig bei jedem Asylverfahren geprüft werden muss, ob nicht ein | |
Drittstaat außerhalb der EU für das Asylverfahren zuständig sein könnte. | |
Wie soll das funktionieren – und welche Länder kämen da überhaupt in Frage… | |
Durch dieses im Zuge der Reform der Dublin-Verordnung geplante Vorgehen | |
würden Deutschland und andere EU-Länder ihre Verantwortung für den | |
Flüchtlingsschutz endgültig abwälzen – von den Außengrenzen hin zu den | |
EU-Nachbarstaaten. Zum Glück hat man sich bislang nicht darauf einigen | |
können. Bei diesem so genannten „obligatorischen Zulässigkeitsverfahren“ | |
heißt es immer, es sei nicht an Libyen gedacht. Wen man stattdessen im Auge | |
hat, ist nicht klar. Möglicherweise Ägypten oder Tunesien. Ich halte solche | |
Verlagerungen derzeit an keiner Stelle für möglich. In keinem dieser Länder | |
gibt es ein Asylverfahren, um angemessenen Schutz zu gewähren. | |
Trotzdem scheint es darauf hinauszulaufen, dass Flüchtlinge immer stärker | |
auf die Nachbarstaaten der EU abgewälzt werden sollen. Die will dafür nun | |
„[5][regionale Ausschiffungsplattformen]“ errichten. Wo könnten die | |
entstehen – und was würde dort aus den Flüchtlingen? | |
Da werden unterschiedliche Modelle diskutiert. Erst einmal sollen die | |
Flüchtlinge und Migranten an Land gebracht und versorgt werden. Entweder | |
werden sie dann weiterverteilt – oder es gibt ein vorläufiges Asylverfahren | |
durch den UNHCR. Jene, die Schutz bekommen, könnten dann möglicherweise per | |
Resettlement in die EU ausreisen oder vor Ort Schutz bekommen. Die anderen | |
würde die IOM in ihre Herkunftsländer zurückbringen. Perspektivisch könnte | |
das natürlich damit verknüpft werden, die Asylverfahren aus Verfahren aus | |
Europa dann insgesamt an solche Orte zu verlegen. Vorher braucht man | |
allerdings von einem Drittstaat das Signal, dass er dafür zur Verfügung | |
steht. Das ist nicht in Sicht. Die andere Frage ist, wer überhaupt noch | |
Flüchtlinge im Meer aufsammeln und zu diesen Ausschiffungsplattformen | |
bringen soll – es sind ja keine Rettungsschiffe mehr da. | |
Sie weisen darauf hin, dass das Personal der EU-Grenzschutzagentur Frontex | |
auf 10.000 Grenzbeamte aufgestockt werden soll und diese fortan auch für | |
Abschiebungen zuständig sein sollen. Über Abschiebungen entscheiden aber | |
nationale Ausländerbehörden. Soll sich das ändern? | |
Frontex soll sich jedenfalls viel umfänglicher um Abschiebungen kümmern. | |
Die nationalen Ausländerbehörden befürchten deshalb in der Tat, dass sie | |
der Souveränität beraubt werden. Neu ist, dass Frontex künftig sogar in | |
Drittstaaten bei der Abschiebung von Migranten in andere Drittstaaten | |
mitmachen soll – verbunden mit einem umfangreichen Datenaustausch. Die | |
EU-Kommission hat übrigens außerdem eine Neufassung der | |
EU-Rückführungsrichtlinie vorgeschlagen, die neben einem endlosen Katalog | |
an Gründen, die die Haft rechtfertigen, die Dauer der Abschiebungshaft auf | |
mindestens drei Monate vorsieht. | |
Seit Jahren kommen Innenpolitiker praktisch ohne Unterlass mit neuen Ideen, | |
um das Asylrecht zu verschärfen. Kommt da noch mehr – oder ist dieser Abbau | |
nun bald abgeschlossen? | |
Ich habe keine Idee, wie es noch schlimmer kommen könnte, dazu fehlt mir | |
die Fantasie. Allerdings hätte ich schon den EU-Türkei-Deal nicht für | |
möglich gehalten. Insgesamt versucht Europa jegliche Art von Verantwortung | |
loszuwerden, das ganze Asylsystem soll es nur noch auf dem Papier, aber | |
nicht mehr in der Praxis geben. Die Frage ist ja auch, wer nun noch dagegen | |
halten soll. Merkel war auf europäischer Ebene – trotz aller | |
Verschärfungen, die sie mitgetragen hat – wenigstens beim Thema Solidarität | |
eine einsame Ruferin in der Wüste. Jetzt scheint sie aber auch an Einfluss | |
zu verlieren. | |
26 Sep 2018 | |
## LINKS | |
[1] https://www.svr-migration.de/wp-content/uploads/2018/09/SVR_Integrationsbar… | |
[2] /Nach-Unions-Krise-um-Fluechtlinge/!5529258 | |
[3] /Rueckfuehrungen-innerhalb-der-EU/!5528875 | |
[4] https://www.sos-kinderdoerfer.de/aktuelles/news/fluechtlingskinder-moria-se… | |
[5] /EU-Gipfel-zum-Umgang-mit-Fluechtlingen/!5516971 | |
## AUTOREN | |
Christian Jakob | |
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