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# taz.de -- Antifaschistische Arbeit in Chemnitz: Den Menschen zuhören
> Wir haben Menschen besucht, die in Chemnitz die Demokratie verteidigen.
> Von der Stadt und dem Staat werden sie alleingelassen.
Bild: Kunst-Aktion in Chemnitz: Eine Frau fotografiert einen Bronze-Wolf mit Hi…
Chemnitz taz | Robin Rottloff ist 23 Jahre alt, kommt aus Chemnitz und hat
genug Sorgen und Ängste für eine ganze Stadt. Kann er die auch formulieren?
Kann er: „Wenn 6.000 Neonazis und besorgte Bürger hier auf die Straße
rennen, dann werden Integrations- und Sicherheitsgipfel abgehalten. Alle
wollen Verständnis zeigen und irgendwen überzeugen. Wenn wir aber seit
Jahren vor den rechten Strukturen in Sachsen warnen, Demonstrationen
veranstalten und Aufklärungsarbeit betreiben, bekommen wir de facto null
Unterstützung von der Stadt.“ Im Gegenteil, die Gruppe um Robin wird in
Chemnitz wahlweise als Nestbeschmutzer oder sogar als das eigentliche
Problem wahrgenommen. Robin ist ebenfalls ein sogenannter besorgter Bürger.
Und Pressesprecher des Bündnisses Chemnitz Nazifrei.
Am vergangenen Mittwoch, knapp einen Monat nach den ersten Aufmärschen und
Ausschreitungen, sind wir vor Ort, um uns umzuhören. Wie ist die Stimmung,
jetzt, wo die Toten Hosen und Feine Sahne Fischfilet abgereist sind? Für
Robin und seine Mitstreiter sind Nazistrukturen und Probleme mit Rassisten
und Hooligans in Chemnitz keine Neuigkeit. Weder vor noch nach dem
sogenannten Tag X. Dennoch waren der 26. und 27. August ein Schock für
alle. Die lächerliche Frage, ob es Hetzjagden gab, stellt sich für Robin
gar nicht. Natürlich gab und gibt es sie, vor wenigen Tagen erst halfen er
und ein paar Freunde zwei Menschen, die im Park am Schillerplatz attackiert
wurden, die Täter flüchteten vor ihren Augen. Er kennt Dutzende Fälle von
Menschen die in den letzten Wochen davonlaufen mussten, auch er nahm
kürzlich erst die Beine in die Hand.
Wenn man wie heute im strahlenden Sonnenschein durch Chemnitz läuft, wirkt
diese aufgeräumte Stadt verhältnismäßig harmlos. Nichts deutet auf den
ersten Blick darauf hin, dass rassistische Gewalt hier nahezu an der
Tagesordnung ist. Shopping-Passagen, Rentner beim Einkaufen, auf den
Parkbänken sitzen zufrieden wirkende Menschen in Funktionskleidung und
lecken an ihrem Eis. Die Stadt hat beinahe Vollbeschäftigung, die
Kriminalitätsrate ist verhältnismäßig gering.
## „Ich versteh ihr Problem nicht“
Randy Fischer ist Geschäftsführer des Clubs Atomino. Als er in seinen Laden
kommt, erfährt er erst mal, dass gestern der Sohn eines Bekannten von drei
Vermummten zusammengeschlagen wurde. Er scheint nicht überrascht. Fischer
ist Veranstalter, er kommt aus der linken Szene, ist überzeugter Demokrat
und Geschäftsmann. Er hat weder in seinem Club, noch auf seinen nächtlichen
Nachhausewegen jemals Probleme mit Geflüchteten gehabt. „Ich werd hier
nicht bedroht, mir werden keine Drogen angeboten, nichts. Ich versteh ihr
Problem nicht.“
Dennoch hört man von allen Seiten, dass man die wütenden Menschen vor dem
Nischel, wie die Chemnitzer die monströse Karl-Marx-Büste nennen, ernst
nehmen müsse. Es ist eine Art Kampf um die Deutungshoheit entbrannt, wer
ist normaler Bürger, wer Nazi? Dass sich das nicht ausschließen muss,
sollte gerade in Deutschland bekannt sein.
Robin ist fest überzeugt, dass genug geredet wurde mit diesen Menschen.
„Wer sich da neben Nazis stellt, die den Hitlergruß zeigen, der hat seine
Wahl getroffen.“ Aber wenn reden nichts mehr hilft, was dann? „Was helfen
würde, wäre massig Migration hier in Sachsen“, sagt Randy Fischer und
lacht. „Die müssen hier einfach mal Menschen aus anderen Ländern
kennenlernen.“ Dennoch kann er die diffuse Angst mancher Menschen teilweise
verstehen, nachts wartet man in Chemnitz gern mal zwanzig Minuten auf die
Polizei.
## „Leider“ fehlen Zeugen
Uwe Dziuballa wartet schon lange nicht mehr. Er ist der Betreiber des
Restaurants Schalom, ein hemdsärmliger Gastronom mit viel Witz, jeder Menge
liebenswürdiger Kratzbürstigkeit und ein wenig Trotz. Er und sein Laden
wurden [1][am 27. August mit Steinen, Flaschen und Eisenstangen
attackiert.] Auch für ihn hatte der Angriff eine neue Qualität. Obwohl er
schon mehr als genug Erfahrungen mit solchen Drohszenarien hat: Seit der
Eröffnung vor 18 Jahren betrug der Sachschaden an seinem Lokal über 40.000
Euro. Abgehackte Schweineköpfe, zerschlagene Terrassenmöbel,
Hakenkreuzschmierereien, verbale Beschimpfungen oder voll gepinkelte
Briefkästen – hat er alles schon hinter sich.
Wenn er zur Polizei ging, um Anzeige zu erstatten, hörte er aus den
Nebenräumen manchmal Sätze wie „Was will denn der schon wieder hier mit
seinem Rotz“. Meist teilte man ihm anschließend mit, dass die Straftaten
leider nicht aufgeklärt werden konnten, da zu solchen Tatzeiten keine
Zeugen vorhanden seien.
„Ein wunderbarer Ansatz, Straftaten aufzuklären“, amüsiert sich Dziuballa
gezwungenermaßen „Dann müssten ja eigentlich auch die wenigsten Morde
aufgeklärt werden, da gibt es ja in der Regel auch keine Zeugen.“ Heute
sitzt er zusammen mit einem Nachbarn auf seiner Terrasse. Es ist Yom
Kippur, das Versöhnungsfest. „Deshalb rede ich überhaupt nur mit ihnen!“
Ein Scherz natürlich, aber man merkt, dass ihn die Anfeindungen nach der
Attacke fast genau so verletzt haben, wie der Angriff an sich. Ob auf
Facebook, in Drohmails oder auch in Teilen der sächsischen Presse, immer
wieder wurde er mit Unglauben oder Beschimpfungen konfrontiert.
Das reicht von Menschen, die behaupten der Laden sei an besagtem Montag ja
gar nicht geöffnet gewesen (tatsächlich war an diesem Tag eine quasi
geschlossene Gesellschaft in den Räumlichkeiten), über die üblichen
„Judensau“-Nachrichten bis zu Journalisten, die ihm auf Teufel komm raus
Worte in den Mund legen wollten. Und immer wieder auch Polizisten, die ihm
erklärten, er brauche sich ja nicht zu wundern, bei all den jüdischen
Symbolen am Haus und in den Fenstern.
## Die Strukturen konnten sich verfestigen
Ist das ein sächsisches Problem? Sowohl Randy Fischer als auch Robin
bejahen das. Natürlich gibt es Neonazis und Rassismus überall in
Deutschland, „aber hier hat das schon mit Biedenkopf angefangen, der
behauptet hat, es gebe kein Problem mit Rechtsradikalen. Diese Strukturen
konnten sich hier verfestigen“ sagt Fischer.
Robin berichtet etwa davon, dass die Sicherheitsfirmen der Stadt von
Rechten betrieben werden, der Chef der Haller-Security ist Gründer der
Hooligan-Gruppierung „HooNaRa“, was nichts anderes bedeutet als „Hooligans
Nazis Rassisten“. Bis vor wenigen Jahren war Haller für die Sicherheit beim
Stadtfest zuständig, in dessen Umfeld am 26. August der 35-jährige Tischler
Daniel H. erstochen wurde. Nächste Woche ist eine Veranstaltung mit Gregor
Gysi in Chemnitz, den Zuschlag für die Sicherheit bekam ursprünglich eine
Firma, dessen Chef sich auf Facebook offen zum Nationalsozialismus bekennt.
Als das bekannt wurde, wechselte die Stadt das Sicherheitsunternehmen.
Geschichten wie diese gibt es zuhauf in dieser Stadt. Spätestens jetzt,
müsste man denken, sollten die Oberbürgermeisterin und die Behörden doch
etwas unternehmen. „Gar nichts machen die. Die verlassen sich auf uns und
darauf, dass wir ein Zeichen setzen. Uns wurde gesagt, dass es leider keine
außerplanmäßigen Mittel für unsere Projekte gibt“, sagt Robin. Auf die
Frage, ob die Qualität der Konflikte nun eine neue sei, antwortet Randy
Fischer mit einem klaren Ja. „In den 1990ern haben wir uns auch dauernd mit
Skins geprügelt. Aber diese Ablehnung jeglicher staatlichen Struktur und
auch der Demokratie von Teilen der Bevölkerung, das ist neu.“
## Jetzt erst recht
Und dann erzählt Robin plötzlich eine Geschichte, die er am 27. August am
Chemnitzer Bahnhof erlebte. Er und ein paar Freunde warteten auf den
Bahnsteigen auf Züge mit Demonstranten aus Leipzig und Dresden. Ihm fiel
auf, dass der sonst eher tote Bahnhof voller Familien, offenbar
geflüchteter Menschen war, alle trugen Koffer mit sich. Also fragte er nach
und erfuhr, dass sie erneut flüchteten. Aus Chemnitz.
Eine Frau sagte ihm, dass sie sich hier einfach nicht mehr sicher fühle.
Das sind die realen Zustände in dieser Stadt. Käme es für einen von ihnen
ebenfalls infrage, die Stadt zu verlassen? Alle drei geben zu, dass es
solche Überlegungen gab. Aber sowohl Randy Fischer als auch Uwe Dziuballa
haben sich dafür entschieden hierzubleiben. Es herrscht eine gewisse „Jetzt
erst recht“-Mentalität. Auch Robin tut sich schwer, hier noch zu leben.
„Aber andererseits“, schiebt er schnell hinterher, „bringt das ja auch
nichts, wenn die letzten Leute, die sich hier gegen die Zustände stemmen,
auch noch abhauen.“
Nachtrag: Während eines Aufmarschs des rechtspopulistischen Bündnisses „Pro
Chemnitz“ ist nach Polizeiangaben am vergangenen Freitag ein Journalist
attackiert worden. Ermittelt werde wegen versuchter Körperverletzung.
Außerdem sei das Gebäude des linken Politik- und Kulturzentrum „Rothaus“ …
der Chemnitzer Innenstadt mit Steinen beworfen worden. Das Haus wird nach
Vereinsangaben von verschiedenen Initiativen, Vereinen und Gruppen sowie
von Abgeordneten der Linken im Sächsischen Landtag und im Bundestag
genutzt. An der Versammlung von „Pro Chemnitz“ nahmen nach Polizeiangaben
rund 2.000 Menschen teil. An Protesten dagegen unter dem Motto „Aufstehen
gegen Rassismus Chemnitz“ beteiligten sich rund 400 Menschen.
23 Sep 2018
## LINKS
[1] /Ausschreitungen-in-Chemnitz/!5534072
## AUTOREN
Juri Sternburg
## TAGS
Chemnitz
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