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# taz.de -- Debatte Rentenpolitik: Eine Geisterdebatte
> Das Rentenpaket der Groko wird als großer Schritt gegen Armut im Alter
> verkauft. Das kann man nur als blanken Zynismus bezeichnen.
Bild: Arm im Alter: Wer als Altenpflegerin 45 Jahre in Vollzeit gearbeitet hat,…
Hochzufrieden zeigten sich die Spitzen der Großen Koalition, als sie vor
einigen Wochen ihre Einigung auf ein neues „Rentenpaket“ verkündeten. Neben
der Ausweitung der „Mütterrente“ und einigen Verbesserungen der
Erwerbsunfähigkeitsrente wurde vor allem die Stabilisierung des
Rentenniveaus bei 48 Prozent bis zum Jahr 2025 als großer Schritt zur
Vermeidung von Altersarmut gefeiert. Bei so viel Eigenlob fiel dann kaum
noch auf, dass ein weiteres im Koalitionsvertrag vereinbartes Vorhaben,
nämlich eine Mindestrente für langjährig Versicherte oberhalb des Niveaus
der staatlichen Grundsicherung, einfach unter den Tisch fiel.
Dieses „Paket“ als Instrument gegen die bevorstehende Welle der Altersarmut
zu verkaufen, kann man wohl nur als blanken Zynismus bezeichnen. Die
besagten 48 Prozent beziehen sich auf den Lohn, den man in 45 Jahren
versicherungspflichtiger Berufstätigkeit erhalten hat. Wer in dieser
Zeitspanne rechnerisch immer das Durchschnittseinkommen verdiente (2017
waren dies 37.103 Euro brutto), erhält davon 48 Prozent als Rente, wovon
allerdings noch Steuern und Sozialversicherungsbeiträge abgezogen werden.
Die derzeitige Standard-Nettorente beläuft sich auf monatlich 1.284 Euro im
Westen und 1.230 Euro im Osten, weil die dort erworbenen Rentenansprüche
niedriger bewertet werden. Wer weniger verdient hat, erhält auch
entsprechend weniger, und für jedes fehlendes Versicherungsjahr gibt es
Abschläge von 3,6 Prozent.
Da sich der Niedriglohnsektor und neue Formen prekärer Beschäftigung wie
Teilzeitarbeit, befristete Jobs und Scheinselbstständigkeit vor allem seit
den Hartz-Reformen epidemisch ausgebreitet haben, liegt es auf der Hand,
was das für die Rentenansprüche von vielen Millionen Menschen bedeutet.
Zwei Beispiele: Wer als Altenpflegerin 45 Jahre in Vollzeit auf dem Niveau
des Branchenmindestlohns (im Westen 10,55 Euro pro Stunde) gearbeitet hat,
muss sich mit 782 Euro Rente pro Monat begnügen. Wer nur den gesetzlichen
Mindestlohn von derzeit 8,84 Euro erhalten hat, müsste bis zu 60 Jahren in
Vollzeit arbeiten, um das Niveau der staatlichen Grundsicherung zu
erreichen. Das liegt für einen Alleinstehenden derzeit bei durchschnittlich
823 Euro.
Dementsprechend nimmt der Anteil derjenigen Ruheständler, die trotz
langjähriger Berufstätigkeit auf die Grundsicherung im Alter und bei
Erwerbsminderung angewiesen sind, stetig zu. 2017 waren es über eine
Million, aber die große Welle kommt erst noch. Laut Studien des Deutschen
Gewerkschaftsbundes (DGB) könnten 2030 bis zu 30 Prozent aller Neurentner
auf Grundsicherung angewiesen sein. Das Deutsche Institut für
Wirtschaftsforschung (DIW), das bei seiner Berechnung mögliche Vermögen
berücksichtigt, die auf den Grundsicherungsanspruch angerechnet werden,
kommt auf eine Quote von 20 Prozent.
Armutsforscher und Sozialverbände gehen ferner davon aus, dass viele
Ruheständler, die wegen ihrer Mini-Renten Anspruch auf
Grundsicherungsleistungen hätten, diese aus Unkenntnis oder aus Scham nicht
wahrnehmen und sich lieber mit kleinen Jobs, Flaschensammeln oder dem
Besuch der Tafeln über Wasser halten.
## Die Instrumente sind bekannt
Die derzeit geführte Debatte über das prozentuale Rentenniveau ist in Bezug
auf drohende Altersarmut also offensichtlich eine Geisterdebatte. Selbst
die vom DGB, den Linken und Teilen der SPD geforderte Anhebung auf 53
Prozent würde das Problem nicht lösen, ein Niedriglöhner bliebe im Alter
dennoch unterhalb der Armutsgrenze, besonders wenn er längere Zeit
erwerbslos war. Im deutschen Rentensystem fehlt eine Haltelinie, die allen
langjährig Erwerbstätigen – also auch Freiberuflern und kleinen
Selbstständigen – ein einigermaßen auskömmliches Leben im Ruhestand
ermöglicht.
Es ginge auch anders, die Instrumente sind bekannt. In Österreich
beispielsweise wurde die Frage der Alterssicherung wesentlich konsequenter
angegangen. Dort gibt es eine Art Bürgerversicherung für alle
Erwerbseinkommen, also auch für Selbstständige und Beamte. Das gesetzliche
Rentenniveau ist deutlich höher als in Deutschland. Ein
Durchschnittsrentner enthält in Österreich monatlich 1.455 Euro. Aber vor
allem gibt es eine Basisabsicherung für Pensionäre mit niedrigen
Rentenansprüchen. Wer bei Erreichung des Rentenalters 15 Versicherungsjahre
nachweisen kann, hat Anspruch auf 1.000 Euro pro Monat, bei 30 Jahren sind
es 1.200 Euro. Angerechnet werden alle Einkünfte aus Erwerbsarbeit,
Ersparnisse dagegen nicht. Positiv auf das Rentenniveau wirkt sich auch
aus, dass die Tarifbindung in Österreich wesentlich stärker als in
Deutschland ist, was den Niedriglohnsektor eindämmt. Auf teure und nutzlose
Irrwege wie die geförderte private Altersvorsorge („Riester-Rente“) hat man
dagegen verzichtet
Längst stellt auch die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung (OECD) der deutschen Rentenpolitik ein vernichtendes Zeugnis
aus. So erreichen laut einer OECD-Studie Geringverdiener in Deutschland nur
ein Rentenniveau von 55 Prozent ihres durchschnittlichen Einkommens. Der
OECD-Schnitt liegt bei 82 Prozent, in einigen Ländern sogar über 90
Prozent. Erreicht wird das durch Umverteilung innerhalb des
Rentenversicherungssystems oder durch entsprechende Steuerzuschüsse.
Aber die deutsche Politik – und auch die Gewerkschaften – halten unbeirrt
am „Äquivalenzprinzip“ der Rentenversicherung fest, laut dem jeder nur das
rausbekommt, was seinen Beiträgen entspricht. Wenn dies nicht zum Leben
reicht, muss man um Almosen bitten, die auch nur äußerst restriktiv gewährt
werden. Zusammen mit der ungebrochenen Deregulierung und Prekarisierung der
Arbeitswelt ist die gegenwärtige deutsche Rentenpolitik nichts weiter als
eine Art Masterplan für massenhafte Altersarmut.
18 Sep 2018
## AUTOREN
Rainer Balcerowiak
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