# taz.de -- Finanzphilosophie Frugalismus: Knausern für die Rente mit 30 | |
> Sie suchen Glück in Genügsamkeit und sparen, um nicht mehr arbeiten zu | |
> müssen. Die Bewegung stammt aus den USA und verbreitet sich im Netz. | |
Bild: Frugal: Stulle | |
BERLIN taz | Wenn der Mann im blauen T-Shirt über Spartricks spricht, ist | |
er schwer zu bremsen. Er blickt auf seinen vorbereiteten Zettel und | |
erzählt: Er, seine Frau und seine zwei Kinder trinken Leitungswasser und | |
Tee und leihen Bücher aus der Bibliothek. Sie kaufen gebraucht, urlauben in | |
Jugendherbergen, sein Handy verbraucht keine 10 Euro im Jahr. „Wir finden, | |
wir verzichten nicht“, sagt der 31-Jährige. | |
Arm ist er nicht. Der IT-Doktorand und seine Frau kommen auf 3.500 Euro | |
netto im Monat, demnächst mehr. Auf ihren Konten liegen 124.000 Euro, zwei | |
Drittel in Aktien. Sie haben sich bewusst für einen extrem sparsamen | |
Lebensstil entschieden. Ihr Ziel ist es, in rund 15 Jahren finanziell | |
ausgesorgt zu haben und nicht mehr arbeiten zu müssen. Dann wäre er Mitte | |
40. Es klingt irre, doch bei einigen hat es geklappt. „13 Jahre zur Schule | |
gegangen, aber so was erzählt einem keiner“, sagt der Berliner, der wegen | |
der Offenlegung seiner Finanzen anonym bleiben möchte. | |
Er ist Teil einer Bewegung, die sich über US-Blogs nach Deutschland | |
verbreitet. Es ist eine radikale Idee, die das vorherrschende Konzept eines | |
Arbeitslebens bis 67, wie für ab 1964 Geborene beschlossen, auf den Kopf | |
stellt. Der Preis dafür ist, das eigene Konsumverhalten massiv | |
einzuschränken, die Ersparnisse konsequent zu investieren und, umgeben vom | |
Luxus anderer, jahrelang als spartanischer Abweichler zu leben. | |
In den USA firmiert die Strömung unter den Begriffen „Fire“ (kurz für | |
„Financial independence, retire early“) und „Mustachianism“ (nach dem | |
Vordenker, dem Blogger „Mr. Money Mustache“). Es geht um Frührente, aber | |
kein deutscher Blogger würde ein so nach Gehwagen klingendes Wort je groß | |
auf seine Wordpress-Seite schreiben. In Deutschland etabliert sich gerade | |
als Schlagwort „Frugalismus“; „frugal“ heißt „spärlich“. Größte… | |
Fire-Blog ist [1][Frugalisten.de]. Das sinkende Vertrauen in die kopflose | |
Rentenpolitik beschleunigt die Verbreitung der Idee. | |
## 30 bis 80 Prozent sparen | |
Es ist eine Lebensphilosophie, die Glück sucht in Genügsamkeit, | |
Konsumverzicht, Ressourcenschonung, Do it yourself, Gesundheitsbewusstsein, | |
Minimalismus und Befreiung vom wirtschaftlichen Zwang zur Arbeit. Ihr Ziel | |
ist nicht die Hängematte oder das volle Konto an sich, sondern die | |
Freiheit, zu tun, was man möchte. Frugalisten wollen dem wachsenden Druck | |
in Karrierejobs entfliehen und unabhängig über ihre Lebenszeit entscheiden. | |
Als Privatiers arbeiten die meisten dann weiter, selbstständig, Teilzeit | |
oder ab und zu – zu ihren Bedingungen. | |
Aber wie soll es rechnerisch gelingen, mit 30, 40 oder 50 in Rente zu gehen | |
statt mit knapp 62 wie im deutschen Schnitt? Vereinfacht gesagt, befolgen | |
die Fire-Anhänger einen Satz: Lebe unter deinen finanziellen Möglichkeiten | |
und investiere die Differenz zwischen Einkommen und Ausgaben. Die Differenz | |
ist die Sparquote. Den 3.500 Euro Einkommen der Doktorandenfamilie stehen | |
zum Beispiel 2.300 Euro Ausgaben gegenüber. Ihre Sparquote ist also 34 | |
Prozent (1.200 Euro). Viele Frugalisten legen mehr auf die Seite, 40 bis 80 | |
Prozent des Gehalts. Je höher das Gehalt, desto einfacher eine hohe | |
Sparquote. Je höher die Sparquote, desto schneller Frührente. Und je | |
niedriger das Startalter, desto besser die Chancen. | |
Das Gros des Ersparten investieren sie in passive Aktienfonds (ETFs), meist | |
auf den Industrieländer-Index MSCI World. Von 1970 bis Ende 2017 erreichte | |
er laut Finanztip im Schnitt 7 Prozent Rendite im Jahr. Ein Pendant mit dem | |
Fokus auf ethischer Anlage ist der MSCI World Socially Responsible. | |
Dividenden reinvestieren sie für den Zinseszinseffekt, kaufen stets nach | |
und halten („buy and hold“). | |
Eine grobe Faustformel hilft ihnen bei der Planung ihres passiven | |
Einkommens: die 4-Prozent-Regel. Sie gehen davon aus, dass sich ab | |
Rentenbeginn jährlich bis zu 4 Prozent der Anlage auszahlen lassen, ohne | |
dass sie ausgeht. Das Konzept beruht auf zwei Studien aus den Neunzigern | |
für Aktien-Anleihen-Mischportfolios für 30 Rentenjahre und wird seitdem für | |
längere Dauer angepasst. Unwägbarkeiten bleiben, etwa zukünftige Renditen. | |
Die Frugalisten sehen das entspannt: Sie können ja hinzuverdienen. | |
Die 4-Prozent-Regel hat einen weiteren Nutzen. Im Umkehrschluss errechnen | |
sie mit ihr, welches Vermögen sie für den Ruhestand anstreben. Ihre | |
Kalkulation: Wer das 25-fache der Jahresausgaben besitzt, kann sich | |
jährlich 4 Prozent dieser Anfangssumme auszahlen. Für den Doktoranden | |
bedeutet das: Bei monatlichen Kosten von 2.300 Euro muss die Familie | |
690.000 Euro anhäufen, das 25-fache ihres Jahresbudgets. Sie könnte sich | |
der Theorie zufolge dann bis zu 4 Prozent im Jahr entnehmen, 27.600 Euro, | |
im Folgejahr plus Inflationsrate. | |
## „Werde Teil der Sekte“ | |
Diese Rechenart populär gemacht hat Peter Adeney. Er ist Wegbereiter der | |
Bewegung und besser bekannt unter seinem Blogger-Alias „Mr. Money | |
Mustache“. Das Magazin The New Yorker erklärte den in den USA lebenden | |
Kanadier zum „frugalen Guru“ und zur „menschlichen Optimierungsmaschine�… | |
[2][Für seine Website schrieb er sein kurzes Erwerbsleben auf]: Mit 30 | |
hatte er genug zurückgelegt, um die Arbeit als Softwaretechniker hinter | |
sich lassen zu können – ohne Erbschaft oder Lottogewinn. Seinen Weg dorthin | |
legte er so provokant offen, dass er fanatische Anhänger gewann. Adeney | |
nennt sie „mustachians“ und wirbt: „Werde Teil der Sekte“. | |
13 Jahre ist er nun in Rente. Interviews gibt er kaum noch, auch eine | |
taz-Anfrage blieb unbeantwortet. Sein Blog bringt ihm nach eigenen Angaben | |
Hunderttausende Dollar im Jahr ein, US-Aktien gingen seit 2009 steil nach | |
oben. Er bezeichnete sich, seine Frau und seinen Sohn als | |
„Multimillionärfamilie“. Dennoch belassen sie es seiner Aussage nach beim | |
Familienbudget von ca. 25.000 Dollar im Jahr. Sein Mantra: Verlangen nach | |
Luxus ist eine Schwäche, die dem Glück im Weg steht. | |
Seine zweite Mission heißt Umweltschutz und ist eng mit der ersten | |
verbunden. Geld ausgeben heißt für den Autogegner, der Natur zu schaden. | |
Auch der Berliner Doktorand betont das ökologisch-soziale Element des | |
Frugalismus und lobt Aktienbesitz als Beteiligung von Bürgern an | |
Unternehmen: „Irgendjemandem müssen Firmen doch gehören.“ Er wählt die | |
Linke. | |
Nicht alle begeistert Fire. Ein Einwand ist, das Prinzip funktioniere nur | |
bei hohem Gehalt. Die meisten Frugalisten arbeiten im IT-Sektor, verdienen | |
gut, sind Männer. „Jeder mit mittlerem Einkommen kann es schaffen“, sagt | |
der Doktorand. Im Netz kursieren Fire-Rechner zur Frage, ab wann mit | |
welchem Lohn Rente möglich sei. | |
Der Finanzmedienkonzern Bloomberg warnt, Frugalisten könnten „genauso | |
enttäuscht enden wie Sparer, die auf dem Höhepunkt der Dotcom-Blase | |
imstande waren, in Rente zu gehen – bis sie platzte“. [3][Blogger Holger | |
Grethe beklagt], vielen fehle die Lust am Job. „Was für ein Bild von Arbeit | |
muss man haben, dass man schon nach einem Exit sucht, bevor man überhaupt | |
ein paar Jahre Geld verdient hat?“ | |
Besonders aufgewühlt hat die Frugalisten die Kritik eines Mannes, auf | |
dessen Anlagemethode sie sich oft berufen. Buchautor Gerd Kommer | |
[4][wettert im Blog seiner Vermögensverwaltung]: „Entbehrung und Geiz | |
werden zur ‚Unabhängigkeit‘ aufgehübscht; die ferne Zukunft wird als | |
wichtiger bewertet als die Gegenwart; und Arbeit als Angestellter wird als | |
Gefängnis dargestellt, aus dem man entkommen muss.“ Er warnt, der | |
Freundeskreis könne bei solch einer Lebensweise schrumpfen. | |
Den Berliner Doktoranden hat das „total aufgeregt“. „Wenn Sparen bedeutet, | |
Freude auf später zu verschieben, macht man etwas falsch.“ Er will auch | |
dann weiter frugal leben, wenn alles klappt und er in 15 Jahren ausgesorgt | |
hat. Vielleicht mache er sich dann selbstständig oder öfter Urlaub. Vor | |
allem wünscht er sich eines: „Ich hoffe, unglaublich entspannt zu sein.“ | |
11 Oct 2018 | |
## LINKS | |
[1] https://frugalisten.de | |
[2] https://www.mrmoneymustache.com | |
[3] https://zendepot.de/finanzielle-freiheit/ | |
[4] https://www.gerd-kommer-invest.de/finanzielle-freiheit-fragezeichen/ | |
## AUTOREN | |
Timo Hoffmann | |
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