| # taz.de -- Postkoloniales Theater: Verschachtelter Weg zur Revolution | |
| > Aus unzähligen Geschichten und Mutmaßungen gewebte Kolonialgeschichte: Ho | |
| > Tzu Nyen mit „The Mysterious Lai Teck“ in Hamburg. | |
| Bild: Verstörend realistisch und unmenschlich zugleich: Lai Teck als animatron… | |
| Etliche Minuten lang öffnet sich der Theatervorhang immer wieder, immer | |
| schneller, immer lauter – und tut es doch nicht. Denn auf den | |
| tatsächlichen, geschlossen bleibenden Vorhang projiziert der singapurische | |
| Künstler Ho Tzu Nyen in dieser endlos erscheinenden Eröffnungssequenz | |
| seiner Theaterarbeit „The Mysterious Lai Teck“ Videoaufnahmen eines | |
| Vorhangs. Immer und immer wieder öffnet sich dieser Vorhang auf dem | |
| Vorhang, immer auf eine andere Weise – und noch mal. | |
| Wie in einer dieser Filmsequenzen, in denen sich eine Tür öffnet und dann | |
| noch eine – und immer steht man nur vor einer weiteren Tür; wie bei diesen | |
| ineinander schachtelbaren russischen Matrjoschka-Puppen: Immer wieder | |
| findet sich noch eine weitere, anders bemalte Figur in der gerade | |
| geöffneten. | |
| ## Keine Hauptfigur in Sicht | |
| Mal wird der reale Stoff als Leinwand von einem sonst unmerklichen | |
| Windhauch bewegt, mal hängt er still, während das auf ihm zu sehende Bild | |
| in Bewegung gerät. Die gefühlte Hälfte des Abends lang bekommt man keinen | |
| klaren Blick auf dessen geheimnisvollen Protagonisten, den „mysteriösen Lai | |
| Teck“. Irgendwann beginnt man hinter dem halbtransparenten Stoff zumindest | |
| die Konturen einer überlebensgroßen Figur auszumachen. | |
| Und dann ist er zu sehen, wie er an einem Tisch sitzt und seine Memoiren | |
| schreibt. Da hat der schattenhafte einstige Anführer der malaysischen | |
| kommunistischen Partei und (vermutlich, vielleicht?) Tripelagent längst | |
| etliche, einander widersprechende Versionen seiner Lebensgeschichte | |
| erzählt. Und beginnt aufs Neue. | |
| Un(be)greifbar wirkt er auch nach der Entschleierung noch. Denn keinen | |
| Schauspieler hat der 42-jährige Ho Tzu Nyen, der in Südostasien vor allem | |
| für Videoarbeiten und Multikanal-Installationen bekannt ist, auf die Bühne | |
| gesetzt, sondern eine große animatronische Puppe. Nicht nur das wirkt | |
| befremdlich. Ein merkwürdig diffus und verzerrt wirkendes Gesicht hat | |
| dieser Lai Teck: Denn wieder legen sich über das bemerkenswert | |
| realistische, bewegte Antlitz Videoaufnahmen eines anderen (des gleichen?). | |
| Mal sind beide Oberflächen erstaunlich synchron, im nächsten Moment dann | |
| finden sie schon nicht mehr zueinander. | |
| Es ist eine faszinierend präzise durchdachte, genau dosierte Theaterform, | |
| die Ho Tzu Nyen zum Auftakt des [1][Sommerfestivals auf Kampnagel] für | |
| seinen Abend über die ungreifbare, rätselhafte Figur des Lai Teck gefunden | |
| hat. An der, ist Ho überzeugt, lässt sich wie an keiner anderen die | |
| hochkomplexe, aus unzähligen Geschichten und Mutmaßungen gewebte | |
| Kolonialgeschichte jener Region erzählen – anders erzählen als in all den | |
| offiziellen und halboffiziellen Erzählungen. | |
| ## Mit allen zusammengearbeitet | |
| Von denen geht die, auf die sich die meisten einigen können, so: Geboren am | |
| Beginn des 20. Jahrhunderts, wird der Vietnamese Hoang A Nhac irgendwann zu | |
| Truong Phuoc Dat, 1934 schließlich zu Lai Teck. Sein tatsächlicher Name und | |
| seine Herkunft, sein Leben in den ersten drei Jahrzehnten: Bis heute weiß | |
| man darüber nichts Belastbares. Unentdeckt soll Lai Teck in den | |
| 1930er-Jahren für die Franzosen in Indochina spioniert haben, dann von den | |
| britischen Sicherheitskräften rekrutiert worden sein, für die er in | |
| Singapur die kommunistische Partei unterwandert habe. | |
| 1939 war er schließlich deren Generalsekretär, soll mithilfe der Briten | |
| seine Mitstreiter aus dem Weg geräumt haben und im Sinne der Briten die | |
| Partei auf die offizielle Komintern-Linie einer Kooperation mit den | |
| Alliierten gegen die Achsenmächte eingeschworen haben. Schließlich geriet | |
| Lai Teck in die Hände der Japaner. Anders als anderen Gefangenen wurde er | |
| jedoch nicht hingerichtet: Er soll sich bereit erklärt haben, für die | |
| Japaner zu spionieren. Hingerichtet wurde er dann aber doch, so einige der | |
| möglichen Geschichten, und das von seinen einstigen Genossen – als | |
| Verräter. | |
| Davon erzählt Ho Tzu Nyen wunderbar poetisch und mit einem großen Gespür | |
| für die gebrochene Dramaturgie seiner Geschichte, in Chinesisch, dazu gibt | |
| es englische und deutsche Untertitel. Und Ho findet einen überzeugenden | |
| Weg, die Geschichte des Betrügers und Verräters mit seinen über 50 | |
| Decknamen zum Anlass zu nehmen, philosophisch und erzähltheoretisch | |
| Grundsätzliches zu Themen wie Region, Nation, Kolonialismus und Identität, | |
| Wahrheit und Schein, Verantwortung oder Revolution zu erzählen: Gleichsam | |
| ein Schatten des vietnamesischen Kommunistenführers Hô Chí Minh sei Lai | |
| Teck gewesen, immer wieder kreuzten sich (womöglich?) ihre Wege: Ein | |
| ausuferndes, sich immer wieder wie der Vorhang am Anfang öffnendes und | |
| zugleich nicht öffnendes System von Assoziationen eröffnet Ho so. | |
| Davon noch mal zu erzählen, das würde nur alle Nuancen dieser | |
| faszinierenden Arbeit verwischen. Also so viel zum Ende: Alle Flüsse | |
| ergießen sich in einen einzigen Ozean – und alle Wege führen zur | |
| Revolution. | |
| [2][Am Samstag] ist diese großartig verschattete, verschachtelte und dabei | |
| so prägnant postkoloniale Arbeit nur noch zweimal zu sehen. Aber immer | |
| wieder öffnet sich ja woanders eine weitere Tür. Im [3][Kunstverein stellt | |
| Ho Tzu Nyen derweil noch bis Ende Oktober aus]: die ebenso eindrucksvollen | |
| Filme „The Nameless“ – über den mysteriösen Lai Teck – und „The Nam… | |
| den mysteriösen Schriftsteller Gene Z. Hanrahan, dazu Ausschnitte aus Hos | |
| längst mehrere Tausend Stunden umfassendem [4][„Critical Dictionary of | |
| Southeast Asia“]. Aber das ist wieder eine andere Geschichte … | |
| 10 Aug 2018 | |
| ## LINKS | |
| [1] http://www.kampnagel.de/de/sommerfestival | |
| [2] http://www.kampnagel.de/de/programm/the-mysterious-lai-teck/?id_datum=6782 | |
| [3] http://www.kunstverein.de/ausstellungen/aktuell/20180808.php | |
| [4] https://aaa.cdosea.org/#video/a | |
| ## AUTOREN | |
| Robert Matthies | |
| ## TAGS | |
| Theater | |
| Kampnagel | |
| Theaterfestival | |
| Postkolonialismus | |
| Installation | |
| Performance | |
| Rote Flora | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Installationskunst in Hamburg: Über- und Unterwältigung | |
| Unten dröhnend, oben still und dunkel: Der Kunstverein zeigt zwei ganz | |
| unterschiedliche Installationen von Hannah Perry und Marguerite Humeau. | |
| Grenzüberschreitend sind beide | |
| Sommerfestival auf Kampnagel: Der Porno, der mein Leben rettete | |
| Zukunft, Zirkus, Pornografie und Theater: Das ist alles eine Frage der | |
| Erwartung. Damit spielt das Sommerfestival auf Kampnagel in Hamburg. | |
| Postkolonialismus in der Kunst: „Verlernen von Vorurteilen“ | |
| Kampnagel blickt mit einem Festival auf postkoloniale Fragen. Die | |
| Intendantin Amelie Deuflhard und die Kuratorin Melanie Zimmermann im | |
| Gespräch | |
| Sommerfestival auf Kampnagl: Hafen der Träume | |
| Im Rahmen des Internationalen Sommerfestivals auf Kampnagl eröffnet die | |
| Geheimagentur ein viertes Kreuzfahrtterminal im Hamburger Hafen. | |
| Kunst-Projekt mit Flüchtlingen: Ein Passivhaus für Flüchtlinge | |
| Ein kleinerer Nachbau der Roten Flora steht über den Winter den | |
| Lampedusa-Flüchtlingen zur Verfügung. Eine Flüchtlingsunterkunft soll sie | |
| aber bewusst nicht sein. |