# taz.de -- Sommerfestival auf Kampnagel: Der Porno, der mein Leben rettete | |
> Zukunft, Zirkus, Pornografie und Theater: Das ist alles eine Frage der | |
> Erwartung. Damit spielt das Sommerfestival auf Kampnagel in Hamburg. | |
Bild: Verheißung ist alles, Szene aus „The Greatest Show on Earth“ | |
Unmöglich, in die Zukunft zu sehen. Festlegen mochte sich denn auch | |
Festivalleiter András Siebold in seiner Rede zur Eröffnung des Hamburger | |
Internationalen Sommerfestivals auf Kampnagel am 10. August nicht, was das | |
Publikum in der kommenden Stunde tatsächlich erwarte. Dabei war der | |
französische Choreograf Olivier Dubois für sein Stück „Auguri“ mit einem | |
klaren Konzept gekommen. Inspiriert von den römischen Auguren, die aus dem | |
Flug von Vogelschwärmen die Zukunft lasen, hatte er ein choreografiertes | |
Orakel der Menschheitsgeschichte angekündigt. | |
Lange passiert aber kaum etwas. Nur ein Scheinwerfer erleuchtet einen | |
schmalen Strich im Hintergrund der Bühne. Davor stehen, mit der Decke fest | |
vertäut, vier Quader. Eine Tänzerin taucht auf, steht lange regungslos im | |
Licht, geht eine Weile den Strich entlang und verschwindet wieder hinter | |
einem der Quader. Andere folgen, verschwinden wieder. Mit einem tiefen, | |
unheilvollen Dröhnen hat Musiker François Caffenne die Szenen unterlegt. | |
Immer lauter wird es, bis nach ein paar Minuten die ersten der 22 | |
Tänzer*innen in atemloser Geschwindigkeit in immer neuen, präzise | |
choreografierten Bahnen über die Bühne sprinten, angepeitscht vom immer | |
rastloser werdenden Rhythmus. So schnell, dass die Körper unentwegt an die | |
Grenze ihrer Beherrschbarkeit getrieben werden. Allmählich stößt der Rest | |
des Tanzschwarms dazu, eine Dreiviertelstunde dauert das atemlose Gerenne. | |
## Die Jagd in größeren Gruppen | |
Immer aggressiver wird die Atmosphäre. Nun flüchten nun die einen vor den | |
anderen, die erst zu zweit, dann in größeren Gruppen Jagd machen, bis eine | |
liegen bliebt. Mit letzter Kraft versuchen die anderen noch, an den Quadern | |
hochzuklettern, gleiten herunter, versuchen es wieder, gleiten herunter. | |
Allerlei assoziative Gegenwartsbezüge kann man darin erkennen: | |
Fluchtszenen, gesellschaftliche Polarisierung, Hetze. Aber welchen Ausblick | |
auf die Zukunft die düstere Performance gibt, das lässt Dubois auch in | |
seiner Einführung zum Stück am nächsten Abend im Dunkeln: Eine Antwort gebe | |
es nicht, bestenfalls entdecke jeder für sich eine andere. | |
Ich kann es nicht definieren, aber ich erkenne es, wenn ich es sehe: Dieses | |
berühmte geflügelte Wort aus einem US-amerikanischen Pornografie-Prozess | |
schreibt sich die zweite Uraufführung gleich ausdrücklich auf die Fahnen. | |
„I know it when I see it“ heißt das Performance-Sammelsurium, das der | |
Musiker und Produzent Thies Mynther und der Regisseur Jason Danino Holt mit | |
den Queer-Aktivisten Danny Banany und Dancing Sven als „zeitgenössische | |
musikalische Reaktion auf Porno“ entwickelt haben. | |
## Ein Star der Porno-Chic-Ära | |
Inspiriert wurde der Abend vom Leben der US-Pornodarstellerin Georgina | |
Spelvin, die 1970 mit dem Arthouse-Porno „The Devil in Miss Jones“ zu einem | |
der ersten Stars der Porno-Chic-Ära wurde. Die nämlich, gesteht Mynther | |
später, habe sein Leben gerettet: Obsessiv sei seine Beschäftigung mit | |
Pornografie gewesen, erst der Blick hinter die Kulissen und auf die | |
Performerin als Mensch habe ihn selbst wieder Mensch werden lassen. | |
Aber so wenig, wie sich die Protagonisten in den manchmal zähen anderthalb | |
Stunden auf eine Haltung zum komplexen Phänomen einigen können, entscheidet | |
sich auch das Stück, ob es nun Musical, Nummernrevue, Lecture Performance, | |
Gruppentherapie oder Diskurstheater sein möchte. Am Ende weiß man außer ein | |
paar Fun- und Not-so-much-fun-facts über Pornoproduktion und -konsum in der | |
vernetzten Welt kaum Neues über das eigentlich spannende Thema. | |
Ausdrücklich mit der Enttäuschung von Erwartungshaltungen spielt hingegen | |
die Avantgarde-Zirkusshow, für die der französische Theaterkünstler | |
Philippe Quesne eine traumhafte Manege gebaut hat. Verheißungsvoll | |
versprechen große Lettern rund um die kreisrunde Tribüne „The Greatest Show | |
on Earth“, von der Decke hängt ein Trapez und im Nebel gibt das Frankfurter | |
Elektro-Duo Les Trucs die Zirkusband. | |
## In einer Schwulenbar abgeschaut | |
Dann setzen sich 14 internationale Avantgarde-Choreograf*innen und | |
Performer*innen mit Erwartungen ans Phänomen Zirkus auseinander. Ein paar | |
der kurzen Nummern sind durchaus beeindruckend. Die malaysische Tänzerin | |
Eisa Jocson etwa dreht erst als kichernde Disney-Prinzessin ihre Runden, | |
dann aber mit übertrieben maskulin wirkenden Gesten, die sie sich in einer | |
philippinischen Schwulenbar abgeschaut hat. Das japanische Quartett Contact | |
Gonzo zeigt eine eigenwillige Form der Kontaktimprovisation irgendwo | |
zwischen Schulhofschlägerei und Slapstick, bei der es hinter laut | |
knallenden Gewalttätigkeiten eigentlich um Aufmerksamkeit und Vertrauen | |
geht. | |
Nach anderthalb Stunden wirkt aber auch dieser Abend noch allzu | |
workshopartig. Vom großspurig angekündigten Anspruch, die Performance-Kunst | |
durch Überführung in das Format „Zirkus“ zu retten, bleibt nicht viel | |
übrig. | |
Tiefe Einblicke in die japanische Gesellschaft bietet hingegen der | |
japanische Theatermacher Kuro Tanino, der mit seiner Compagnie Niwa Gekidan | |
Penino in „Avidya – Das Gasthaus der Dunkelheit“ minutiös von einer | |
schicksalhaften Nacht in einem traditionellen japanischen Badehaus erzählt. | |
Einen Hausherrn gibt es längst nicht mehr, nur eine Handvoll skurriler | |
Dorfbewohner nutzt die Herberge noch. | |
## Architektur des Inneren und des Äußeren | |
Eine alte Frau und ein blinder Mann erhoffen sich von den heißen Quellen | |
Linderung, zwei Geishas suchen Zuflucht vor ihren Kunden, ein stummer | |
Bademeister hält den Betrieb am Laufen. Als eines Abends ein kleinwüchsiger | |
Puppenspieler und sein ausdrucksloser Sohn auftauchen, gerät das genau | |
austarierte Miteinander aus den Fugen. | |
Auf einer Drehbühne hat Tanino detailverliebt vier Bereiche des seltsamen | |
Gasthauses eingerichtet, in denen er seine Schauspieler wie in Dioramen | |
anordnet. Viele Worte braucht es nicht, Tanino evoziert vielmehr mit | |
starken Bildern Stimmungen, schafft eine bedrückende Atmosphäre, in der man | |
gebannt zuschaut, wie langsam die Zeit zu Ende geht. | |
Beeindruckend, wie quer auch dieses Theater zu gewohnten | |
Erwartungshaltungen liegt: Statt psychologisch nachvollziehbare Charaktere | |
agieren zu lassen, entwirft der Expsychiater Tanino eine kafkaeske | |
Architektur des Inneren und Äußeren, die sich der Frage nach der | |
Innerlichkeit konsequent verweigert: Auch im Seelen-Haus ist längst kein | |
Hausherr mehr. | |
16 Aug 2016 | |
## AUTOREN | |
Robert Matthies | |
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