| # taz.de -- Menschenrechte unter Wladimir Putin: Geschacher im Gulag | |
| > In Russland zahlen die Familien von Häftlingen dafür, dass die | |
| > Gefängniswärter ihre Verwandten am Leben lassen. Und sie weniger foltern. | |
| Bild: Offiziere des russischen Gefängniswachdienstes 2011 bei Schießübungen | |
| Der Film „Die Sanfte“ des ukrainischen Regisseurs Sergei Loznitsa könnte | |
| irgendwo im postsowjetischen Raum spielen, aber die russischen | |
| RezensentInnen dachten bei der diesjährigen Premiere in Cannes sofort an | |
| Russland. Eine abgehärmte junge Frau schaut aus kühlen, braunen Augen an | |
| ihren Mitmenschen vorbei und bewegt sich durch grüngräuliche Räume. Aus | |
| einem Postschalterfensterchen knallt eine Beamtin ein Paket vor sie hin – | |
| als unzustellbar wieder zurückgekommen. Das hatte die Protagonistin ihrem | |
| Mann ins Gefängnis geschickt. „Weshalb sitzt er?“, fragt sie dann ein | |
| Nachbar. „Wegen Mordes.“ „Und wen hat er umgebracht?“ Antwort: „Niema… | |
| Sie begibt sich auf die Odyssee durch das ganze riesige Russland bis in | |
| eine Kleinstadt voller Häuser mit Säulchen und Statuen. „Das Gefängnis ist | |
| für uns wie Gold“, erklärt ihr der joviale Taxifahrer dort: „Der | |
| Hauptarbeitgeber im Ort, unsere Volkswirtschaft!“ Über ihren Mann wird ihr | |
| auch dort grob jede Auskunft verweigert. Aber allerhand Leute wollen ihr | |
| weiterhelfen – und erwarten irgendetwas von ihr. | |
| „Eine Parabel“, meinten viele KritikerInnen. Aber wer die Russische | |
| Föderation kennt, der weiß – ausgenommen von ein paar Traumsequenzen am | |
| Ende –, dieser Film zeigt nur die Realität. Und anders als Kafkas Held | |
| Josef K. fragt sich da kein Unschuldiger, warum man ihn einbuchtet. Alle | |
| wissen: des Geldes wegen. | |
| Exhäftlinge und ihre Verwandten gründeten in der Russischen Föderation vor | |
| einigen Jahren eine Stiftung namens „Rus Sidjaschtschaja“, zu Deutsch: | |
| Russland hinter Gittern. Sie hilft ihresgleichen materiell und mit | |
| Informationen. Zurzeit betreibt sie ein größeres Büro in Moskau und drei | |
| kleinere in Jaroslawl, Nowosibirsk und St. Petersburg. Dort arbeiten auch | |
| Juristen und Finanzfachleute. Die Redaktion ihres Newsletters erhielt in | |
| diesem Sommer folgende Anfrage per Mail: „Mein Sohn Alexander wurde 2014 | |
| nach § 161 Absatz 2 (Diebstahl) zu 6 Jahren verurteilt. Seit August | |
| vergangenen Jahres hat man begonnen, ihn um Geld zu erpressen. Wir haben | |
| ihm welches geschickt und haben jetzt keins mehr. Er wird dort misshandelt. | |
| Was können wir tun?“ Später reichten die Eltern Details nach. | |
| Ihren 20-jährigen Sohn hatte man im Oktober 2014 verhaftet. Er habe das | |
| Verbrechen nicht begangen, schreiben sie. Weiter heißt es: „Die Ermittler | |
| verlangten von uns 300.000 Rubel, wir weigerten uns, weil wir meinten, die | |
| verurteilen ihn doch nie. Daraufhin stützte sich die Untersuchungsbehörde | |
| auf einen anonymen „Zeugen“. Das für das Umland der Stadt Krasnodar | |
| zuständige Kreisgericht fällte im April 2016 das Urteil: 6 Jahre | |
| Straflager. Das Appellationsgericht beließ das Urteil in Kraft. Aber nicht | |
| ohne vorher von uns nun schon 600.000 Rubel verlangt zu haben. Dafür hätten | |
| sie ihn angeblich – unter Anrechnung der Untersuchungshaft – bloß noch zwei | |
| Jahre absitzen lassen.“ | |
| Das mittlere russische Einkommen belief sich im Jahr 2016 auf monatlich | |
| 31.485 Rubel – nach dem damaligen Kurs 431 Euro. | |
| Nachdem der Sohn schon länger der Freiheit beraubt war, wurden seine | |
| Nächsten weich und zahlten. Anfangs auf verschiedene Konten von | |
| Mitgefangenen. Später meldete sich ein Major aus der Lagerverwaltung, der | |
| eine vorzeitige Entlassung wegen guter Führung versprach, und dafür im | |
| Laufe von zwei Jahren in drei Etappen insgesamt 800.000 Rubel für | |
| „Ausfertigung von Dokumenten“ kassierte. Danach folgte wirklich eine | |
| Entlassung: Der Major entließ sich selbst und verschwand spurlos. | |
| Die Wirtschaftsjournalistin Olga Romanowa, 52, ist Gründerin und Leiterin | |
| der Stiftung „Russland hinter Gittern“, an die sich diese Eltern um Hilfe | |
| wandten – so wie jährlich rund 3.000 Familien anderer Häftlinge. Von denen, | |
| schätzt sie, ist beinahe ein Drittel zu Unrecht verurteilt. Sie sagt: | |
| „Jeder Mensch in der Russischen Föderation kann jederzeit in einem | |
| Straflager verschwinden, gleich, ob er etwas verbrochen hat oder nicht. Und | |
| alle wissen das.“ | |
| Freisprüche gibt es kaum | |
| Heute lehnt sie sich in ihrem Sessel in einem Straßencafé in der Berliner | |
| Kantstraße zurück, nippt in der Hitze an einer Apfelschorle. Nur manchmal | |
| verrät ein zusätzlicher schneller Wimpernschlag ihre innere Anspannung. Die | |
| Behörden in Moskau durchsuchten vor einem Jahr das Büro ihrer Organisation | |
| und drohten ihr, sie zu verhaften – wegen Veruntreuung staatlicher Mittel. | |
| Solche hat „Russland hinter Gittern“ aber nie erhalten. | |
| Doch die Freispruchrate in Russland beträgt nur 0,2 Prozent. Romanowa sagt: | |
| „Einmal vor Gericht gestellt, ist man dort so gut wie verurteilt.“ Fast | |
| seit einem Jahr lebt sie deshalb schon in Deutschland und arbeitet für den | |
| alternativen russischen Fernsehsender RTVD – OstWest. Sie genießt es, hier | |
| unter freiem Himmel herumzuspazieren oder Rad zu fahren. In Moskau fühlte | |
| sie sich nicht mehr sicher. | |
| Weil sie vermuten, dass bei Geschäftsleute etwas zu holen ist, versuchen | |
| Richter, Staatsanwälte, Ermittler und Strafvollzugsbeamte vor allem aus | |
| diesen etwas herauszuschinden. Besonders oft nehmen sie sich junge Männer | |
| vor, deren Geschäft gerade zu florieren beginnt. Ein Manager aus der | |
| Umgebung des nach 10 Jahren aus dem Lager entlassenen Exoligarchen und | |
| späteren Oppositionellen Michail Chodorkowski sagte kürzlich: Ein | |
| Unternehmer, der in Russland nicht einsitzt, der kann gewöhnlich dafür | |
| zahlen. | |
| Wie viele Unternehmer in Russland ihrer Freiheit beraubt wurden, bloß um | |
| ihren Besitz zu beschlagnahmen und ihre Familien zu erpressen, kann Olga | |
| Romanowa nur schätzen: „Vielleicht an die 100.000 Menschen von den aktuell | |
| 592.467 Häftlingen.“ Insgesamt sitzen 411 Leute auf je 100.000 | |
| EinwohnerInnen ein. Zum Vergleich: In Deutschland sind es 76 Menschen. | |
| Flucht nach Deutschland | |
| Unter den Flüchtlingen, die seit einem Jahr in Deutschland vermehrt aus der | |
| Russischen Föderation eintreffen, befinden sich Exmitglieder von | |
| Kommissionen Gesellschaftlicher Beobachter für das Gefängnis- und | |
| Lagersystem. Diesen Leuten verdanken wir die Erkenntnis, dass in der | |
| gesamten Russischen Föderation Angehörige des Föderalen Dienstes für | |
| Strafvollzug (FSIN) Familien und Geschäftspartner der Insassen erpressen. | |
| Meist erhalten bestimmte, der Anstaltsleitung nahestehende Häftlinge dafür | |
| Privilegien, dass sie bei den restlichen diese Gelder „eintreiben“. | |
| Zu den illegalen Einnahmen der höheren FSIN-Chargen gehören außerdem | |
| unterschlagene Gewinne der Gefängnis- und Lagerwerkstätten. Auch zwingt man | |
| die Angehörigen der Häftlinge fast überall, für Renovierungen in den | |
| Anstalten zu zahlen. Die dafür vorgesehenen staatlichen Mittel steckt die | |
| Anstaltsleitung in die eigene Tasche. „Es gibt auch einige relativ ehrliche | |
| Gefängnisdirektoren“, schreibt Romanowa in einer Expertise für das Carnegie | |
| Center Moskau. „Aber deren Identität darf man nicht aufdecken, weil der | |
| Leiter einer Einrichtung des Strafvollzugs, den man öffentlich in einem | |
| günstigen Licht erwähnt, ernsthaft Schwierigkeiten bekommen kann.“ | |
| Beschwerden von Häftlingen an allerlei übergeordnete – und | |
| Kontrollinstanzen bezeichnet sie als „völlig sinnlos“. | |
| Olga Romanowa führt jetzt von Berlin aus jeden Morgen eine | |
| Internetkonferenz mit ihrer Organisation in Russland durch. Vorläufig dort | |
| geblieben, und zwar in der Stadt Perm im Ural, ist ihr alter Bekannter | |
| Aleksey Sokolov, 41. Sokolov bildet dort zusammen mit vier anderen | |
| EnthusiastInnen die kleine Menschenrechtsgruppe „Prawowaja Osnowa“, zu | |
| Deutsch: „Rechtsbasis“. | |
| Per Skype gibt er Auskunft aus ihrem schlicht, aber modern eingerichteten | |
| Büro mit hellgrünen und lila Wänden. „Um die Gefängnisse herum sind bei u… | |
| kleine Städte gewachsen“, erzählt er: „Da gibt es ganze Gefängsniswärte… | |
| oder -wärterinnendynastien, bei denen schon der Großvater Aufseher war. | |
| Dort gehen die FSIN-Angestellten schon mal zusammen mit den Vertretern der | |
| Staatsanwaltschaft in die Sauna.“ | |
| Sokolow hatte seit 2009 ein Mandat in einer der damals gegründeten | |
| Kommissionen gesellschaftlicher Beobachter. Aus Rache für seine | |
| menschenrechtliche Tätigkeit wurde er, Vater eines Sohns und einer Tochter, | |
| zweimal zu längerer Lagerhaft verurteilt. Nach seiner ersten Verhaftung | |
| schlug man ihn zehn Tage lang fast ununterbrochen. Im zweiten Prozess | |
| beschuldigten ihn drei Häftlinge, bei einem Diebstahl beteiligt gewesen zu | |
| sein, wobei jeder der drei die Rolle Sokolows völlig anders schilderte. | |
| „Seither weiß ich, dass man bei uns jede und jeden mit Hilfe von Aussagen | |
| verurteilen kann, die man aus Häftlingen herausprügelt“, sagt er: „Und di… | |
| die hinter Stacheldraht arbeiten, dürfen Gefangene schlagen, aushungern, | |
| töten – ohne rechtliche Konsequenzen.“ Dass staatliche Institutionen diese | |
| Verbrechen decken, daran zweifelt er nicht: „Wir haben der | |
| Staatsanwaltschaft allerhand Kreditkartenkonten genannt, auf welche | |
| Verwandte von Häftlingen Geld überweisen mussten. Wir bekamen jedes Mal die | |
| Auskunft: „Solch ein Konto existiert nicht.“ | |
| Aleksey Sokolov hielt durch, weil ihm viele Menschen in Russland ihre | |
| Solidarität bekundeten. Überraschen kann ihn fast nichts mehr. Aber er | |
| erschrak doch, als er in einem der Lager die Leichen von durch Folter | |
| fürchterlich zerfleischten Insassen fand. Bevor er 2009 das zweite Mal ins | |
| Gefängnis gesteckt wurde, hatte er ein Video ins Netz gestellt, auf dem | |
| FSIN-Mitarbeiter Häftlinge verprügeln und mit Tritten traktieren. Die | |
| Kassette hatte ihm ein ehemaliger FSIN-Mitarbeiter übergeben. | |
| Nicht alle WärterInnen sind korrupt | |
| Es gibt also auch in diesen Strukturen Leute mit Unrechtsbewusstsein. Doch | |
| in der Russischen Föderation haben ehrliche Rechtshüter es schwer. Nach | |
| ihren Ermittlungen gegen einen russischen Mafiaboss in den Jahren 2006 bis | |
| 20018 stellte die spanische Polizei dessen Telefonprotokolle ins Netz. | |
| Darin tauschte dieser sich 79-mal mit dem damaligen Vizechef der russischen | |
| Antidrogenbehörde aus, einem früheren KGB-Kollegen Wladimir Putins. Ihr | |
| Thema war unter anderem die Verhaftung russischer Polizisten, die seine | |
| Leute bei ihren Geschäften störten. | |
| Die Erkenntnisse von Russland hinter Gittern und der Komissionen | |
| gesellschaftlicher Beobachter zeigen: Von „Rechtsschutzorganen“ kann in der | |
| Russischen Föderation nicht mehr die Rede sein. Dies schadet der gesamten | |
| Bevölkerung Russlands, hält die Wirtschaft des Landes auf den Knieen, nützt | |
| aber dem Machterhalt der Herrschenden. Die nicht enden wollenden | |
| Geldforderungen an Familienangehörige von Häftlingen wirken wie | |
| Transmissionsriemen, die den Terror aus dem Inneren der Gefängnisse in die | |
| Gesellschaft tragen. Darüber denkt Aleksei Ossadchii (31) nach. | |
| Im Mai 2017 demonstrierte der große, schlanke, blonde Mann mit estnischen | |
| Vorfahren vor dem russischen Konsulat in Bonn gegen Korruption. Noch heute | |
| weiß er, wie er sich gefreut hat, als ihn deutsche Polizisten vor dem | |
| wütenden Konsulatswachmann beschützten. | |
| Ossadchii war in den Jahren 2009 und 2010 Angehöriger einer | |
| Beobachterkommission in der Provinz um Jekaterinburg. Er glaubt, dass er | |
| dort vielen Menschen helfen konnte. Als ihm der stellvertretende Chef eines | |
| örtlichen Straflagers vor Zeugen auf offener Straße mit dem Tode droht, | |
| entschließt er sich zu fliehen. Der Beamte wurde bald darauf befördert. | |
| Ossadchii hatte sich bereits vorbeugend einen estnischen Pass besorgt, | |
| packte seine Frau und seine beiden Töchter im Vorschulalter in den | |
| Familienwagen und fuhr zur estnischen Grenze. Dort ließen ihn die Russen | |
| nicht durch. Nach einigen Stunden fürchtete er das Schlimmste, riss das | |
| Steuer herum und raste diesmal gen Finnland. Heute lebt er mit seiner | |
| Familie in Mönchengladbach und arbeitet in einer Exportfirma. | |
| Er meint, dass die Menschen im Westen den Mut der BürgerInnen Russlands | |
| unterschätzen: „Wenn bei uns zu Hause einige Zehntausende oder | |
| Hunderttausende auf der Straße protestieren, dann ist das vielleicht im | |
| Verhältnis zur Gesamtbevölkerung wenig, aber es hat ein viel höheres | |
| politisches Gewicht. Und dann sagt er einen in Russland oft zu hörenden | |
| Satz: „Wenn ihr auf eine Demo geht, könnt ihr euch für hinterher in der | |
| Kneipe verabreden. Aber wenn bei uns jemand öffentlich protestiert, muss er | |
| damit rechnen, dass am Abend nicht nur sein eigenes Schicksal verhunzt ist, | |
| sondern auch das seiner Nächsten“. | |
| Der Westen unterschätzt den Mut in Russland | |
| Olga Romanowa, die Leiterin der Selbsthilfeorganisation Russland hinter | |
| Gittern, sucht nach geschichtlichen Zusammenhängen: „Zu den vielen Dingen, | |
| die Deutschland und Russland gemeinsam haben, gehört die schreckliche | |
| Geschichte ihrer sogenannten Arbeitslager. In Westdeutschland wurden sie | |
| nach dem Zweiten Weltkrieg liquidiert, in der DDR setzte sich diese | |
| Geschichte erst mal fort.“ | |
| Auf all ihren Reisen besucht Romanowa jetzt Gefängnisse und entsprechende | |
| Gedenkstätten: „Wenn ich die Folterkammern in der Gedenkstätte für die | |
| Verbrechen der Staatssicherheit in Hohenschönhausen sehe, erkenne ich darin | |
| die Gefängnisse in der Russischen Föderation wieder. Nur bei uns sind sie | |
| noch in Betrieb! Ich würde gern den Weg begreifen, auf dem Deutschland | |
| diese Lager ganz los wurde.“ | |
| 14 Aug 2018 | |
| ## AUTOREN | |
| Barbara Kerneck | |
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