# taz.de -- Staatliche Repression in Russland: Gefangen im System | |
> Russische Beamte leugnen es, aber Aktivisten behaupten, gefoltert worden | |
> zu sein. Immer mehr von ihnen fliehen nach Finnland. Eine Begegnung. | |
Bild: Spuren von Fixierung an Ilyas Handgelenken, zweieinhalb Monate nach dem V… | |
HELSINKI taz | Es gibt zwei Sorten von Schmerz, sagt Ilja Kapustin: | |
Schmerzen, die man kennt und auf die man sich einstellen kann, und | |
Schmerzen, von denen man sich nicht vorstellen kann, dass sie existieren, | |
bis man sie zum ersten Mal spürt. Das, was er am 25. Januar 2018 erlebt | |
hat, waren solche, ihm bislang unbekannte Schmerzen. Er sagt: „Es waren die | |
schrecklichsten drei Stunden meines Lebens.“ | |
An einem frostigen Aprilabend, knapp zweieinhalb Monate nach der | |
„Horrornacht“, sitzt der 27-Jährige in der hinteren Ecke eines Restaurants | |
im Norden Helsinkis und blickt schüchtern um sich. Er dreht sich zur Seite, | |
sodass es die anderen Gäste nicht sehen können, und zieht seinen Anorak | |
samt T-Shirt hoch. Seine Hüfte und sein Bauch sind mit verblassten roten | |
Flecken übersät. | |
Was aussieht wie Überbleibsel einer langwierigen Hautkrankheit, sind Spuren | |
von Folter. Genauer: Verbrennungen, die ihm, so erzählt Kapustin, russische | |
Geheimdienstbeamte zugefügt hätten, jene maskierten Männer, die ihn am | |
Abend des 25. Januar 2018 auf dem Weg von der Fahrschule zu seiner Wohnung | |
in St. Petersburg auf den Boden geworfen und in einen schwarzen Minivan | |
gezerrt haben sollen. | |
„Sie haben meine Jacke geöffnet und mein T-Shirt hochgezogen. Einer hat | |
sich auf mein Bein gekniet und mir einen Elektroschocker an den Bauch | |
gehalten. Dann haben sie nach verschiedenen Namen gefragt, und jedes Mal, | |
wenn ich sagte, ich wüsste nichts, haben sie mir einen Elektroschock | |
verpasst. Fünf bis zehnmal hintereinander. Auch in die Hüfte und den | |
Intimbereich. “ | |
Die dreistündige Fahrt endet um ein Uhr nachts im Gebäude des russischen | |
Geheimdienstes FSB, wo Kapustin erneut befragt wird. Von diesem Verhör gibt | |
es ein Protokoll. Dass die Männer Kapustin gedroht haben, ihm die Beine zu | |
brechen und ihn bei minus 15 Grad im Wald auszusetzen, steht da nicht drin. | |
Und auch nicht, dass sie Kapustin mit der Warnung gehen ließen, man könne | |
eine Bombe bei ihm verstecken und ein paar Tage später zu einer | |
Hausdurchsuchung vorbeikommen. Aber Kapustin erinnert sich an diese | |
Aussagen sehr genau und auch daran, dass er dachte: „Das ist mein Ende.“ | |
## Die Geschichte ist viel größer | |
Fünf Tage nach dem Vorfall entschied sich Ilja Kapustin, der in St. | |
Petersburg als Industriekletterer, also als Handwerker in großen Höhen, | |
arbeitete, sein Heimatland zu verlassen. Inzwischen hat er in Finnland | |
Asyl beantragt und wohnt dort in einem Transitlager für Geflüchtete. | |
Kapustins Lippen zittern, während er von der Entführung – Verhör oder | |
Verhaftung will er es bewusst nicht nennen – erzählt. Immer wieder | |
unterbricht er seine Sätze, nimmt einen Schluck Wasser und beginnt von | |
Neuem. Vor dem Treffen hatte er darum gebeten, ihm die Fragen schriftlich | |
zukommen zu lassen. Er wusste, dass es ihm schwerfallen würde, über das | |
Geschehene zu sprechen, hatte Sorge, dass seine Aussagen falsch | |
wiedergegeben würden. Aber trotzdem will er unbedingt, dass seine | |
Geschichte öffentlich wird. | |
Dabei sind seine Erlebnisse nur ein kleines Puzzleteil einer viel größeren | |
Geschichte. Sie beginnt im Oktober 2017 in der russischen Stadt Pensa, | |
knapp 700 Kilometer südöstlich von Moskau, mit der Festnahme von vier | |
antifaschistischen Aktivisten. Ihnen wird vorgeworfen, Teil einer | |
terroristischen Vereinigung namens „Set“ (Netzwerk) zu sein, die während | |
der Präsidentschaftswahlen im Februar und der Fußball-WM im Juni 2018 | |
Anschläge geplant haben soll. Die Aktivisten in Pensa werden verdächtigt, | |
der Kern einer landesweiten Terrorzelle zu sein. | |
Im Januar 2018 kommt es zu drei weiteren Festnahmen in St. Petersburg. | |
Einer der Festgenommenen ist Julian Bojarschinow, der wie Kapustin als | |
Industriekletterer in St. Petersburg arbeitet. Am Tag von Bojarschinows | |
Festnahme, am 21. Januar, versuchte Kapustin seinen Kollegen anzurufen, um | |
mit ihm einen Termin zum Schneeschippen auszumachen. Er glaubt, dass die | |
Beamten deswegen auf ihn aufmerksam wurden. Von einem Terrornetzwerk namens | |
„Set“ habe er das erste Mal durch die Geheimdienstbeamten erfahren. Das | |
hatten laut Medienberichten der Zeitung Nowaja Gaseta und des Portals | |
MediaZona auch die anderen Aktivisten zunächst ausgesagt, bevor sie bis auf | |
eine Ausnahme ein volles Schuldgeständnis unterschrieben. | |
## Nicht die ersten Berichte von Folter | |
Fast alle von ihnen berichten von Folter und Misshandlungen durch die | |
Sicherheitsbeamten. Ihre Beschreibungen ähneln den Schilderungen von | |
Kapustin. Bei einem der Aktivisten aus Pensa, Ilja Schakurski, wird eine | |
Pistole im Auto gefunden. Er versichert, die Waffe sei ihm untergeschoben | |
worden. Als Anführer der Gruppe wird Dmitri Ptschelintsew, ein Freund von | |
Schakurski aus Pensa, vermutet. Ptschelintsew ist Schießlehrer und besitzt | |
mehrere legale Waffen. In seinem Auto wurden zwei Granaten gefunden. | |
Ptschelintsew behauptet, sie seien dort von den Beamten platziert worden | |
und berichtet von Folter mit Elektroschockern. | |
Für die prominente russische Bürgerrechtlerin Olga Romanowa sind die | |
Vorwürfe der Aktivisten keine Besonderheit. Die 51-Jährige ist Gründerin | |
der NGO „Rus sidjaschaja“ (Russland hinter Gittern), die sich für die | |
Rechte von Gefangenen einsetzt. Seit etwa einem Jahr lebt sie in Berlin – | |
denn auch sie geriet immer stärker unter Druck. So wurden beispielsweise | |
die Räume der NGO wegen Verdacht der Veruntreuung staatlicher Gelder | |
durchsucht. Gelder, die sie laut eigener Aussage nie bekommen hat. | |
„Folter und Prügel sind traditionelle Methoden der russischen | |
Sicherheitsbeamten. Jeden Monat sterben mehrere Menschen auf | |
Polizeirevieren. Das ist kein Geheimnis“, sagt Romanowa. Es gebe kein | |
funktionierendes Justizsystems in Russland. Entscheidungen würden von | |
Ermittlern und Staatsanwälten und nicht von Richtern getroffen. | |
Aber was steckt konkret hinter den Festnahmen der acht Aktivisten? Ist das | |
Terrornetzwerk eine Erfindung des FSB, wie die Aktivisten sagen? Geht es | |
möglicherweise um Einschüchterung der Opposition und um Erfolgsgeschichten | |
im Jahr von Präsidentschaftswahlen und Fußball-WM? | |
Romanowa ist sich sicher, dass der Fall inszeniert ist: „80 Prozent solcher | |
Fälle werden vom FSB, vom Zentrum E oder zumindest von der Polizei | |
organisiert.“ „Zentrum E“ steht für das Zentrum für Extremismus, das 20… | |
gegründet wurde und seitdem auch für das linksradikale Milieu zuständig | |
ist. Aber auch Fälle, die nur entfernt mit politischem Extremismus | |
zusammenhängen, werden vom Zentrum E und von der Abteilung für | |
Verfassungsschutz des FSB, überwacht, sagt Romanowa. Ihr eigener zum | |
Beispiel: „Diese Struktur hat – wie die meisten anderen | |
Strafverfolgungsbehörden in Russland – auf lange Sicht ein Ziel: ihren | |
Nutzen zu beweisen und ihre eigene Existenz zu sichern. Um das zu tun, | |
müssen sie Verschwörungen aufdecken und Schuldige finden.“ | |
## Solidarität in Helsinki | |
Derweil beantragen in Finnland immer mehr russische Politaktivisten Asyl. | |
An einem Samstagmorgen Mitte April steht Ilja Kapustin vor einem | |
Backsteingebäude voller Graffiti auf einem Industriegelände von Helsinki. | |
Am Himmel kreisen Möwen, Sonnenstrahlen schmelzen einen schwarzen | |
Schneehaufen. An einer Tür hängt ein Plakat mit der Aufschrift „Tattoo | |
Circus“. Eine Solidaritätsveranstaltung für politische Gefangene. „Hier | |
rein“, sagt Kapustin. Drinnen ist es dunkel, die Fenster sind abgeklebt. | |
Ein Scheinwerfer beleuchtet die Bühne, auf der gerade jemand eine | |
Präsentation über die Situation polnischer Antifaschisten gibt. | |
Auf Tischen liegen Infomaterialien zu anarchistischen Gruppierungen aus, | |
Postkarten und verschiedene Bücher, auch eins über Abdullah Öcalan, den | |
Führer der in Deutschland als terroristische Vereinigung eingestuften | |
kurdischen Arbeiterpartei PKK. An einem anderen Stand kann man Briefe an | |
politische Gefangene schreiben. Gegen Spende gibt es Kaffee oder ein | |
veganes Mittagessen. Kapustin begrüßt einige der Anwesenden, auch einige | |
russische Aktivisten sind unter ihnen. Die meisten tragen Piercings und | |
T-Shirts mit anarchistischen Slogans. Ilja Kapustin sticht durch seine | |
Unauffälligkeit heraus. Er passt nicht so richtig an diesen Ort, der an | |
autonome linke Zentren in Berlin oder Hamburg erinnert. | |
Auch wenn Kapustin über seine politischen Ansichten spricht, klingt es | |
nicht nach radikaler Ideologie. Er bezeichnet sich als libertärer | |
Kommunist. „Ich bin kein aggressiver Typ, der das System umkrempeln will. | |
Ich glaube nicht, dass die Welt nach einer Revolution direkt zu einer | |
besseren wird. Ich bin gegen Gewalt. Und ich bin sicherlich kein | |
Terrorist“, sagt er. | |
Die antifaschistische Szene in Russland ist nur schwer zu erfassen. Kennern | |
der Szene zufolge handelt es sich eher um ein loses Netzwerk. Unter den | |
Überbegriff „Antifaschisten“ fallen verschiedene linksoppositionelle | |
Gruppen wie Anarchisten, Kommunisten, die sich nicht von der | |
Kommunistischen Partei in der Duma vertreten fühlen, aber auch | |
Umweltschützer. Zwei der verhafteten Aktivisten waren beispielsweise | |
Mitglieder der Umweltgruppe Eko. Was sie alle verbindet, ist zum einen der | |
Kampf gegen Neonazis, aber auch der Protest gegen die Staatsgewalt – und | |
das System Putin. | |
Seit es 2010 bei einer Protestaktion gegen die Bebauung eines Waldstücks in | |
der Nähe Moskaus zu einer Auseinandersetzung mit der Polizei und der | |
Beschädigung eines Behördengebäudes durch antifaschistische Aktivisten kam, | |
wird die Szene von staatlicher Seite besonders beobachtet. Auch an den | |
Protesten auf dem Bolotnaja-Platz in Moskau 2012, bei denen knapp 100.000 | |
Menschen gegen den Ausgang der Wahlen und Präsident Putin demonstrierten, | |
waren Antifaschisten beteiligt. Im Nachhinein gab es mehrere Festnahmen, | |
viele Aktivisten verließen Russland. | |
## Vielfältige Themen und Protestformen | |
Kapustin erzählt, dass er in den letzten zehn Jahren an verschiedenen | |
Initiativen wie Protesten gegen die Abholzung von Wäldern, gegen den Krieg | |
in Tschetschenien und an Essenausgaben für Bedürftige beteiligt war. Er | |
stehe zwar noch im Austausch mit Aktivisten, habe sich aber schon lange | |
nicht mehr an Protesten beteiligt. | |
Ähnlich wie bei denen der Antifa in Deutschland reicht die Bandbreite der | |
Aktivitäten auch in Russland von kreativen Kunstaktionen bis zu | |
Auseinandersetzungen mit der Polizei. Im Februar hingen drei Aktivisten vor | |
dem FSB-Gebäude in Tscheljabinsk ein Plakat mit der Aufschrift „FSB – der | |
größte Terrorist“ an den Zaun und warfen einen Feuerwerkskörper vor das | |
Gebäude. | |
Fünf Tage nach dem Vorfall wurden zwei antifaschistische Aktivisten in | |
Tscheljabinsk kurzzeitig festgenommen und wegen „Hooliganismus“ angeklagt. | |
Der Menschenrechtsplattform Opendemocracy zufolge berichten auch sie von | |
Schlägen und Folter durch die Sicherheitsbeamten. Hooliganismus und | |
Gewaltbereitschaft werden den Aktivisten immer wieder vorgeworfen. Als | |
Beweis führen die Behörden immer wieder an, dass sich die Aktivisten oft | |
zum Strikeballspielen verabredeten. | |
Strikeball ist ein legales und in Teilen Russlands populäres Taktikspiel, | |
bei dem sich mehrere Teams mit sogenannten Airsoftwaffen beschießen. Meist | |
treffen sich die Mitspieler dafür in einem Waldstück, Militärästhetik und | |
Camouflagekleidung gehören dazu. | |
Das Spiel liefert Bilder, die von Politik und Medien gnadenlos ausgenutzt | |
werden, um Stimmung gegen die Aktivisten zu machen. In einem Beitrag des | |
russischen Fernsehsenders NTW wird das am 20. April, eine Woche nach dem | |
Treffen mit Kapustin, so aussehen: In einer leer stehenden Lagerhalle im | |
Wald beschießen sich uniformierte Guerillakämpfer mit Maschinenpistolen, | |
sie werfen Molotowcocktails und rufen zur Revolution auf: „Das | |
Terrornetzwerk Set“, erklärt ein Sprecher, Fadenkreuze kreisen über die | |
Titelschrift, unterlegt mit dramatischer Musik. Auch ein anonymisiertes | |
angebliches ehemaliges Mitglied der Gruppe kommt zu Wort und warnt vor der | |
Gefahr, die von den Aktivisten ausgehe. Immer wieder werden Szenen vom | |
Maidan-Aufstand 2013 in Kiew eingeblendet. Die Nachricht: Ohne den Einsatz | |
der Sicherheitskräfte würde auch Russland in die Hand von Extremisten | |
geraten. | |
Auch ein Foto von Ilja Kapustin erscheint in dem Beitrag. Er ist nicht der | |
Einzige, der nach Finnland geflohen ist, sagt der Sprecher: Auch Aleksandra | |
Filinkowa, die Frau von Wiktor Filinkow, einem der verhafteten Aktivisten | |
aus St. Petersburg, lebt inzwischen in Helsinki. | |
## Spiel statt Terror | |
Noch bevor das Video auf NTW erscheinen wird, ist die 22-Jährige wie | |
Kapustin bei der Solidaritätsveranstaltung für politische Gefangene in | |
Helsinki. „Strikeball oder Überlebenstraining sind nichts Illegales, das | |
sind populäre Spiele. Dabei geht es um Spaß, um Taktik und um | |
Zusammenarbeit. Das hat nichts mit Terrorismus zu tun“, erzählt Filinkowa | |
im Gespräch mit der taz. | |
Sie sitzt an dem Tisch mit den Postkarten für politische Gefangene und | |
notiert die Haftadressen von acht russischen Aktivisten, von denen einer | |
ihr Mann ist. Sie sagt: „Es ist wichtig, dass sie das Gefühl haben: Da | |
draußen gibt es Menschen, die an mich denken.“ | |
Ihr Mann, Wiktor Filinkow, wurde am 24. Januar in St. Petersburg | |
festgenommen und sitzt seitdem in Untersuchungshaft. Er hat ein volles | |
Schuldgeständnis unterschrieben, in dem er zugibt, Teil des Terrornetzwerks | |
„Set“ zu sein. Ähnlich wie Kapustin berichtet auch er von einer nächtlich… | |
Horrorfahrt mit Folter und Misshandlungen durch die Geheimdienstbeamten. | |
Die unabhängige Kommission für die Bedingungen von Gefangenen, ONK, hat | |
Filinkow zwei Tage nach seinem Verhör in der Untersuchungshaft besucht und | |
in einem Protokoll folgende Verletzungen festgehalten: zahlreiche | |
Verbrennungen durch Stromschläge auf dem Oberschenkel (mindestens 33); ein | |
Hämatom am rechten Knöchel; Verbrennungen durch Stromschläge im | |
Brustbereich. | |
Aleksandra Filinkowa ist erst vor einigen Tagen in Helsinki angekommen. Sie | |
hat Asyl beantragt. Zum Zeitpunkt von Wiktor Filinkows Festnahme war sie | |
gerade in Kiew. Sie hatte dort auf ihren Mann gewartet, um mit ihm einige | |
Wochen in der ukrainischen Hauptstadt zu verbringen. Doch Wiktor Filinkow | |
kam nie dort an. Erst zwei Tage später erfuhr sie über Filinkows Anwalt, | |
dass er wegen Verdacht der Zugehörigkeit zu einer terroristischen | |
Vereinigung festgenommen worden war. Fragt man sie, wie sie sich in diesem | |
Moment gefühlt hat, sagt sie: „Wen zum Teufel interessiert es, wie du dich | |
fühlst, wenn dein Mann im Gefängnis steckt und es ihm beschissen geht.“ | |
Filinkowas Realismus wirkt zunächst kühl und emotionslos. Sie sagt Sätze | |
wie: „Ich habe mich darauf eingestellt, dass Wiktor mindestens fünf Jahre | |
hinter Gittern sein wird. Und er hat das auch getan.“ Sie kennt die | |
russische Justiz und die Willkür, die in vielen Gerichten herrscht. Ihre | |
Kraft basiert auf einer Rationalität und Zielstrebigkeit, die für eine | |
22-Jährige ziemlich beeindruckend, aber auch ein bisschen unheimlich ist. | |
## Kampf für Aufmerksamkeit | |
Aleksandra Filinkowa erklärt sich die Festnahme ihres Ehemannes mit seinem | |
politischen Engagement: für Freiheit im Netz und gegen die Überwachung | |
durch den Staat. Der 23-Jährige arbeitete zuletzt als Programmierer in St. | |
Petersburg. Sein Wissen über Zensur und Open Source und dass er mit nur 22 | |
Jahren Chefprogrammierer geworden sei, all das habe sie beeindruckt, sagt | |
sie, und habe sie inspiriert, sich selbst mit ähnlichen Themen zu befassen. | |
Beide haben in antifaschistischen Kreisen verkehrt, sich mit anderen | |
Aktivisten ausgetauscht, so wie Filinkowa es hier in Helsinki auch tut, und | |
an Strikeballspielen teilgenommen. Dabei seien beide immer Gegner von | |
Gewalt gewesen. Filinkowa sagt: „Mir geht es um Freiheit, Solidarität und | |
politische Auseinandersetzung. Wenn das Anarchie bedeutet, bitte. Ich | |
nenne die Dinge lieber beim Namen.“ Sie glaubt: Wäre sie zum Zeitpunkt von | |
Filinkows Festnahme nicht im Ausland gewesen, hätte es sie auch getroffen. | |
Von Helsinki aus kämpft Filinkowa jetzt für mehr Aufmerksamkeit für die | |
Repressionen gegen die Aktivisten. Sie hat eine Informationsplattform | |
eingerichtet und sammelt Spenden, um die Anwaltskosten der Aktivisten zu | |
bezahlen. Sie sagt: „Es ist auch eine Aufgabe und eine Chance für mich, zu | |
zeigen, mit welchen Methoden das System arbeitet.“ | |
Sowohl Wiktor Filinkow als auch Ilja Kapustin haben ihre Anwälte damit | |
beauftragt, gegen die Folter und Misshandlung durch den Geheimdienst zu | |
klagen. Ende April wurden ihre Klagen abgelehnt. In Kapustins Fall erklärte | |
der Ermittlungsbeamte, Ärzte hätten festgestellt, dass es sich bei den | |
Wunden um die Folgen einer Hautkrankheit oder um Bisse von Bettwanzen | |
handele. Sowohl bei Filinkow als auch bei Kapustin wurde außerdem der | |
minimale Einsatz („nicht mehr als 3 Schläge“) von Elektroschockern damit | |
gerechtfertigt, dass die Aktivisten versucht hätten, sich der Festnahme zu | |
widersetzen. | |
Schon im Vorfeld war klar, dass die Aussichten auf Erfolg gering sind. | |
„Seit Russland aus der Europäischen Menschenrechtskonvention ausgestiegen | |
ist, gibt es kaum Möglichkeiten“, sagt Olga Romanowa von der NGO „Russland | |
hinter Gittern“. Zwar hat die unabhängige Kommission für die Bedingungen | |
von Gefangenen, ONK, bei beiden Klägern Spuren körperlicher Misshandlung | |
nachgewiesen. Aber sie muss ihre Berichte an genau die Institution | |
weiterreichen, deren Mitarbeiter für die Gewalt verantwortlich sind. | |
Das Urteil im Fall Filinkow wird für Juni erwartet. Ihm drohen zwischen | |
fünf und fünfzehn Jahre Gefängnis. Das einzige Beweisstück: das | |
Schuldgeständnis, das der Programmierer nach mehreren Stunden Schlafentzug | |
und Folter unterschrieben hat. | |
Seine Frau betritt am Nachmittag schnellen Schrittes die Bühne in Helsinki. | |
Sein Bild ist eben von der Leinwand verschwunden. Filinkowa setzt sich | |
neben den jungen Mann und die Frau, die ihre Powerpoint-Präsentation über | |
die Repressionen gegen russische Antifaschisten beendet haben, und | |
umklammert ihr Smartphone mit beiden Händen. „Ich spreche hier nicht nur | |
als Frau von Wiktor, sondern als Kameradin“, liest sie auf Englisch vor. | |
„Ich will, dass die Aktivisten ihren Preis nicht umsonst bezahlt haben.“ | |
Und weiter: „Der Kampf für die Freiheit wird lang sein. Eure Unterstützung | |
ist frische Luft für sie. Solidarity forever!“ | |
29 May 2018 | |
## AUTOREN | |
Paul Toetzke | |
## TAGS | |
Russland | |
Aktivismus | |
politische Gefangene | |
Folter | |
FSB | |
Finnland | |
Antifaschismus | |
Russland | |
Russland | |
Finnland | |
Russland | |
Frauen-WM 2019 | |
politische Gefangene | |
Russland Heute | |
NGO | |
Sergej Skripal | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Justiz in Russland: Straflager für Aktivisten | |
In St. Petersburg wurden zwei Männer mit linker Gesinnung wegen | |
Mitgliedschaft in einer Terrorvereinigung verurteilt. Die Beweislage ist | |
dünn. | |
Folter gegen russische Antifaschisten: „Der Aussage getreu protokolliert“ | |
Ein russisches Gericht verurteilt sieben Antifaschisten zu 6 bis 18 Jahren | |
Straflager. Unter Folter gestanden sie wortgleich Terror-Pläne. | |
Tote und Verletzte an Schule: Finnland trauert nach Gewalttat | |
An einer finnischen Schule ist eine Frau getötet worden, zehn Personen | |
wurden verletzt – mutmaßlich von einem Schüler. Zuvor gab es ähnliche | |
Fälle. | |
Menschenrechte unter Wladimir Putin: Geschacher im Gulag | |
In Russland zahlen die Familien von Häftlingen dafür, dass die | |
Gefängniswärter ihre Verwandten am Leben lassen. Und sie weniger foltern. | |
WM 2018 in Russland: Vorbereitung auf den Worst Case | |
Mit Verboten, Waffen und viel Personal will man bei der WM für Sicherheit | |
sorgen. Experten warnen vor islamistischen Anschlägen. | |
Kommentar Oleg Senzow im Hungerstreik: Zynisches Dilemma | |
Lässt die russische Regierung zu, dass sich Oleg Senzow zu Tode hungert? | |
Eigentlich will sie bei der Fussball-WM ihr Image polieren. | |
Nach Telegram-Sperrung in Russland: 20 Festnahmen bei Demonstration | |
Bei den jüngsten Protesten für ein „freies Internet“ kam es in Moskau zu | |
zahlreichen Festnahmen. Unter den Demonstranten waren offenbar auch | |
Nationalisten. | |
Deutsche NGO in Russland verboten: Die Unerwünschten | |
Bei der Präsidentschaftswahl in Russland hat EPDE Beobachter unterstützt. | |
Jetzt wurden sie verboten – mit fragwürdigen Methoden. | |
Nach Vergiftung eines Ex-Spions: Russland lässt Ultimatum verstreichen | |
Die russische Botschaft in London will die britischen Forderungen zur | |
Aufklärung so lange ignorieren, bis Russland Proben des verwendeten | |
Nervengifts erhält. |