# taz.de -- Folter gegen russische Antifaschisten: „Der Aussage getreu protok… | |
> Ein russisches Gericht verurteilt sieben Antifaschisten zu 6 bis 18 | |
> Jahren Straflager. Unter Folter gestanden sie wortgleich Terror-Pläne. | |
Bild: Elektroschock-Wunden bezeichnet der russische Geheimdienst FSB als Insekt… | |
Anfang Februar sitzt Aleksandra Aksenova, 24, auf dem Podium einer | |
Solidaritätsausstellung in Berlin-Prenzlauer Berg. Aksenova ist aus | |
Helsinki angereist, wo ihr 2019 politisches Asyl gewährt wurde ([1][wie | |
anderen russischen Antifaschist_innen auch]). Der russische | |
Inlandsgeheimdienst FSB hält Aksenova für die „Hauptideologin von ‚Set‘… | |
(dt. „Netzwerk“), einer in Russland mittlerweile verbotenen | |
Terrororganisation. | |
Sieben Männer, die Teil dieser terroristischen Vereinigung gewesen sein | |
sollen, wurden am 10. Februar dieses Jahres in der Stadt Pensa, rund 700 | |
Kilometer südöstlich von Moskau, vom zuständigen Militärgericht zu | |
Haftstrafen zwischen sechs und achtzehn Jahren verurteilt. Fast alle von | |
ihnen sind Aksenovas Freunde, Kommilitonen, „Genossen“, sagt sie. | |
Die Männer, so heißt es in der Anklageschrift, hätten „geplant, Terrorakte | |
zu“ begehen. Dabei ist bis heute nicht klar, ob es die terroristische | |
Vereinigung namens „Set“ überhaupt je gegeben hat. Und auch Aksenova sagt, | |
es habe keine Vorbereitungen zu terroristischen Attacken gegeben. Die | |
Männer hätten sich gegen das aktuelle System positioniert. Erst der FSB | |
habe sie zu einer Terrororganisation gemacht. | |
Menschenrechtsorganisationen in Russland halten den Fall für konstruiert | |
und die Verhaftungen für willkürlich. Das hohe Strafmaß erfülle einzig und | |
allein den Zweck der Abschreckung und solle Menschen einschüchtern, heißt | |
es. In unabhängigen russischen Medien wird von einem „beispiellosen Fall“ | |
gesprochen, der ein Exempel statuieren soll. | |
## Erste Verhaftungen im Oktober 2017 | |
Die ersten Verhaftungen im Fall Set begannen in Pensa im Oktober 2017. Vier | |
antifaschistischen Aktivisten wurde vorgeworfen, Anschläge im Rahmen der | |
Fußball-WM im Juni 2018 sowie auf Büros der Putin-Partei Einiges Russland | |
geplant zu haben. Drei weitere Verdächtige verhaftete der FSB später in St. | |
Petersburg und Moskau und brachte sie ebenfalls nach Pensa. Alle | |
Angeklagten im Fall Set eint, dass sie bekennende Antifaschisten sind. | |
Genau diese politische Haltung wird ihnen zur Last gelegt. | |
Die Aktivisten sollen sich auf „die Destabilisierung der politischen | |
Situation“ im Land und einen bewaffneten Aufstand vorbereitet haben. Als | |
Beweis führt der FSB an, dass die Verdächtigten Airsoft spielten, ein in | |
Russland beliebtes taktisches Geländespiel, bei dem Teams mit Softairwaffen | |
gegeneinander antreten. Laut Geheimdienst handelt es sich dabei um Training | |
für die geplanten Terroranschläge. | |
Bei einzelnen der Aktivisten fand man bei Haus- und Autodurchsuchungen | |
Waffen und Sprengstoff. Vieles deutet allerdings darauf hin, dass ihnen | |
dieses untergeschoben wurden. Noch in der Untersuchungshaft wurden die | |
Männer von FSB-Mitarbeitern gefoltert und dazu gezwungen, ihre | |
Mitgliedschaft zu der terroristischen Organisation namens Set zuzugeben. | |
## Unter Folter beschuldigen sie sich selbst | |
Einige Monate später, im Januar 2018, kommt es in St. Petersburg zu drei | |
weiteren Festnahmen. Der Tatvorwurf ist derselbe wie in Pensa und auch hier | |
werden die drei Festgenommenen unter Folter dazu gebracht, sich selbst zu | |
beschuldigen. Einer von ihnen ist Viktor Filinkow, Aleksandra Aksenovas | |
Ehemann. Filinkow war der erste im Fall Set, der öffentlich über seine | |
Folter sprach. „Erst damit bekam der Fall mediale Aufmerksamkeit und wurde | |
als politischer Fall behandelt“, sagt Aksenova. | |
„Meiner Aussage getreu protokolliert“ – so begannen alle unter Folter | |
erzwungenen Geständnisse. Die Solidaritätsausstellung, zu der Aksenova nach | |
Berlin gekommen ist, trägt deshalb diesen Satz als Titel. „Es gab ein | |
Ursprungsdokument von der Staatsanwaltschaft, das gleichermaßen für die | |
Fälle in Pensa und St. Petersburg benutzt wurde. Viktor musste es auswendig | |
lernen und genauso vor Gericht aufsagen“, sagt sie. | |
Einige Wochen nach Filinkows Aussage ließ Dimitri Ptschelinzew, der als | |
Initiator des Netzwerks in Pensa beschuldigt wird, seinem Anwalt ein | |
Gedächtnisprotokoll zukommen, in dem auch er von Folter berichtet. Darin | |
heißt es: „Sie begannen die Dynamomaschine zu drehen. Der Strom drang bis | |
zu den Knien, meine Wadenmuskeln krampften zusammen, Lähmungsschmerz packte | |
mich. Ich schrie los. Sie wiederholten hartnäckig: ‚Du bist der Anführer.‘ | |
Damit sie aufhörten, antwortete ich: ‚Ja, ich bin der Anführer.‘ ‚Ihr | |
hattet vor, Terroranschläge zu verüben.‘ ‚Ja, wir hatten vor, | |
Terroranschläge zu verüben.‘“ Wenige Tage später zog Ptschelinzew das | |
Gedächtnisprotokoll wieder zurück – wie sich später herausstellte, weil er | |
erneut gefoltert worden war. | |
## Elektroschock-Wunden? Nein, „Insektenbisse“ | |
In den vergangenen Jahren wurden die Befugnisse des FSB unter Russlands | |
Präsident Putin kontinuierlich ausgeweitet. Verfahren wegen Spionage, | |
Anstiftung zum Extremismus und Verletzung der territorialen Integrität | |
haben rasant zugenommen. „Der FSB kann heute gegen jede beliebige Person in | |
der Russischen Föderation ein Strafverfahren mit garantierter Festnahme und | |
Verurteilung einleiten“, sagt Jekatarina Kosarevskaja von der ONK, der | |
einzigen unabhängigen Kommission, die Menschenrechtsbeobachtungen in | |
russischen Gefängnissen durchführt. | |
Dabei erzwinge der FSB vermehrt Geständnisse durch Folter. Gefälschte oder | |
fabrizierte Beweismittel seien gar nicht mehr nötig. Immer wenn die | |
Angeklagten im Fall Set vor Gericht über Folter sprachen, hieß es, das habe | |
nichts mit dem Fall zu tun, sagt Kosarevskaja. Die durch Elektroschocks | |
verursachten Wunden wurden als Insektenbisse abgetan. | |
Am 17. Januar 2020 bekamen die Angeklagten in Pensa die Möglichkeit, ein | |
letztes Statement vor der Urteilsverkündung abzugeben. Einer von ihnen, | |
Andrei Tschernow, berief sich dabei auf die russische Verfassung, in der es | |
heißt, dass Menschen [2][im Gefängnis „korrigiert werden sollen“]: „Ich… | |
Antifaschist, ich bin immer noch Antifaschist. Soll ich im Gefängnis zum | |
Faschisten werden?“ | |
## Einzelprotest „Pikets“ gegen das Urteil | |
Drei Wochen später, am 10. Februar, wurden in Pensa die Urteile gesprochen. | |
Alle Angeklagten wurden für schuldig befunden, die Richter folgten mit | |
Haftstrafen zwischen 6 und 18 Jahren in vollem Umfang der Forderung der | |
Staatsanwaltschaft. In den Fällen der in St. Petersburg angeklagten Männer | |
soll am 25. Februar die Verhandlung weitergehen. | |
Menschenrechtsorganisationen und Angehörige der Angeklagten erwarten, dass | |
die Urteile aus Pensa, wie es schon bei den Geständnissen geschehen war, | |
einfach auf den St. Petersburger Prozess übertragen werden. In Pensa | |
kündigten die Anwält*innen der Verurteilten an, in Berufung zu gehen. Eine | |
Beschwerde beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrecht (EGMR) bezüglich | |
der Anwendung von Folter in russischen Gefängnissen wurde bereits | |
eingereicht, aber bislang noch nicht behandelt. | |
Seit der Urteilsverkündung finden in verschiedenen russischen Städten | |
täglich sogenannte „Pikets“ statt, eine in Russland üblich gewordenen Form | |
des Einzelprotests, für die keine Absprachen mit den Behörden notwendig | |
sind. Die Wut über die staatliche Willkür geht diesmal über die | |
Antifa-Szene hinaus. | |
Und auch in Berlin versammelten sich Menschen mit Plakaten und Bannern vor | |
der Russischen Botschaft. Vom 22. bis 29. Februar wird zu einer | |
internationalen Woche der Solidarität mit den in Russland verfolgten | |
Antifaschist*innen und Anarchist*innen aufgerufen. | |
25 Feb 2020 | |
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## AUTOREN | |
Julia Wasenmüller | |
Alexandra Frank | |
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