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# taz.de -- Moskauer Tagebuch: Gehen oder bleiben
> Bedrohung, Willkür und Demütigung, aber auch Poesie, Philosophie und
> Freude – alles gibt es in Moskau. Viele hadern mit der Situation. Ein
> Einblick.
Bild: Moskau 2023: In Kremlnähe zeigt man sich besser nicht zu deutlich
Ich habe unsere Stadt schon in der unterschiedlichsten Verfassung gesehen:
fröhlich, traurig, eingeschüchtert, erzürnt, protestierend, resigniert.
Gegenwärtig erscheint sie mir zähflüssig und klebrig: Anscheinend ist hier
alles möglich – und gleichzeitig nichts.
Am Abend des 24. November 2022 war ich im Otkrytoje Prostranstwo (Open
Space) bei einem Lyrikabend. Das Otkrytoje ist eine zivilgesellschaftliche
Einrichtung, eine Mischung aus Co-Working-Space, Diskussionsraum, ein Ort
für Ausstellungen, Filmvorführungen, Selbsthilfegruppen und ähnliche
Aktivitäten. Mit der Veranstaltung wollte man Anwaltskosten für die
„Tjumener Strafsache“ vom September 2022 sammeln, von der es heißt, sie sei
„der zweite Netzwerkfall“. Beide Male ging es um Folter von Gefangenen aus
dem anarchistisch-antifaschistischen Spektrum.
Neben Gedichten gab es einen Büchertisch und veganes Essen. Um kurz vor
halb acht drangen mehr als zwanzig mit Sturmhauben maskierte Männer in den
Raum ein, mit Schlagstöcken ausgestattet, in schwarzen Uniformen ohne
Abzeichen. Zuerst schmissen sie wahllos alle Tische um. Frauen und Mädchen
mussten sich mit dem Gesicht zur Wand aufstellen, Jungen und Männer auf den
Boden legen, Gesicht nach unten: „Hände hinter den Kopf, nicht umdrehen,
nicht sprechen!“
Schwer zu sagen, wie viele Stunden wir da so gelegen haben, aber die
Uniformierten schikanierten uns verbal und physisch, traten uns mit
Stiefeln, ich schätze mal ungefähr vier Stunden lang. Dann folgte der
Gesinnungscheck: Personen in Zivil, die an Mitarbeiter des Zentrums E
(Zentrum für Extremismusbekämpfung; Sondereinheit der Polizei, auf
Überwachung und Verfolgung von Oppositionellen spezialisiert; d. Red.)
erinnerten, verhörten alle ohne Protokoll.
Anschließend wurden alle Handy-Gerätenummern (IMEI) notiert, alle
Anwesenden fotografiert und dann aufs Revier gebracht. Auch dort gab es
keine Protokolle, die Festgenommenen gaben schriftliche Erklärungen ab und
wurden zwischen drei und vier Uhr morgens entlassen. In Moskau war es eisig
kalt. Mich schauderte es allein bei dem Gedanken daran, zur Nachtbusstation
zu laufen. Aber die Mädchen riefen ein Taxi. „Und, hast du den Eindruck,
dass du gerade einen Terroranschlag überstanden hast?“, fragte eine.
Damals habe ich nur mit den Schultern gezuckt, aber heute denke ich, dass
es wirklich so etwas in der Art war: eine nicht näher bestimmbare
bewaffnete Gruppe von Personen, die ihre Gesichter und ihre Identitäten
verbargen, überfiel eine völlig friedliche Zusammenkunft, bei der junge
Poeten Gedichte lasen. Sie malträtierten und bedrohten uns, stundenlang
wussten wir nicht, wann wir wieder freikommen würden – heute, morgen, in
zehn Tagen oder in zehn Jahren.
Ganz bewusst werden die Einwohner Moskaus schon seit Langem eingeschüchtert
und terrorisiert: durch neue Gesetze, vom Präsidenten unterzeichnete
Dekrete, durch die brutale Auflösung von Demos und Mahnwachen,
demonstrative Festnahme mithilfe von Aufnahmen öffentlicher
Überwachungskameras und Razzien im Zuge der sogenannten Teilmobilisierung,
deren Ende nicht absehbar ist.
## Wenn der Bewegungsradius schrumpft
Was hält uns hier eigentlich noch? Warum haben wir nicht rebelliert?
[1][Warum sind wir nicht wenigstens einfach gegangen?]
Ich erinnere mich an den Film „Sie küssten und sie schlugen ihn“ von
François Truffaut: Es geht um 13- bis 14-jährige Jungen, deren Eltern –
Alkoholiker oder einfach Dummköpfe – kein Interesse an ihnen haben. Sie
lernen fast nichts bei ihren sadistischen Lehrern, schwänzen die Schule und
streunen durch die Stadt, klauen und finden sich schließlich in einer
Einrichtung für schwer erziehbare Jugendliche hinter Stacheldraht wieder.
Diejenigen, die abhauen, werden gewaltsam zurückgebracht. Am Ende des Films
gelingt dem jungen Protagonisten die Flucht ans Meer.
Wir alle hier in Moskau sind jetzt wie diese „schwer erziehbaren
Jugendlichen“ aus dem Film: Wir müssen Hohn und Spott des dummen und
grausamen „Systems“ ertragen, die Gleichgültigkeit und die offene
Feindseligkeit von Eltern und nahen Angehörigen, und wir verstehen alle
nicht, wie es so weit kommen konnte, dass sich unser Leben so entwickelt
hat, wo wir doch einfach nur Lust hatten, durch eine Stadt voller
Verlockungen zu streifen – und vielleicht manchmal einen Ausflug ans Meer
zu machen.
Aber die Wahl des Meeres ist jetzt begrenzt auf Murmansk, Kaliningrad oder
Sotschi. Über Wladiwostok will ich gar nicht sprechen: Wer von uns hat
schon Geld, um bis dorthin zu kommen? Schon für Sotschi oder Kaliningrad
reicht es bei uns nicht. Und deshalb verbringen wir den „geschwänzten
Unterricht“ nur in dem Gebiet zwischen Altufewo im Norden und Domodjedowo
im Süden (Endstationen der Moskauer Metro; d. Red.). Na ja, und manchmal
gehen wir auch zu Lyrikabenden mit veganem Essen.
## Warum wir noch hier sind
[2][Im Frühling sind wir nicht ins Ausland geflohen], weil wir keinen
Reisepass hatten, kein Visum und kein Geld. Und wir hatten noch nicht
begriffen, warum ausgerechnet wir die Stadt verlassen sollten, die wir doch
hier geboren wurden. Oder hergekommen sind, vielleicht erst kürzlich, aber
doch freiwillig, auf der Suche nach Poesie, Philosophie, Sinn, Freude und
Freiheit, und ja, vielleicht auch nach dem ein oder anderen leicht
verdienten Rubel. Warum also sollten ausgerechnet wir weggehen und nicht
die, die so stolz sind auf ihre Uniformen, mit Erkennungsmarken oder ohne,
und deshalb die anderen Menschen um sie herum verhöhnen?
Im Sommer schien es uns, als ob all das, weswegen im Frühling einige
unserer Bekannten gegangen waren, bald zu Ende ginge. So sagten es uns
diejenigen, die sich weit weg niedergelassen hatten und über wichtige
Informationsquellen verfügten.
Wir glaubten den alten Bekannten, hörten aus anderen Ländern mahnende Reden
über die Notwendigkeit des „passiven Widerstands“ und warteten auf den „…
X“, an dem wir uns alle erheben oder sich alles von alleine regeln würde.
Aus klugen Youtube-Videos wissen wir, dass Revolutionen und Katastrophen in
Russland schon immer unvorhersehbar waren, wobei diejenigen profitieren,
die sich als Erste darauf einlassen. Wir blieben also und hofften heimlich,
dass dieses Mal vielleicht Gott als Erster zur Stelle wäre oder Fortuna uns
beistünde.
Als im Herbst [3][die unbefristete Teilmobilisierung verkündet wurde],
verließen schließlich viele unserer Bekannten das Land, aber viele blieben
eben auch: der Freunde und Freundinnen wegen. Und es gab ja auch noch die
Poesie, die Philosophie, den Sinn, die Freude und den einen oder anderen
Rubel. Ja, man musste in den sozialen Medien und den Messengerdiensten
beobachten, wo gerade Vorladungen verschickt wurden, man musste den Wohnort
wechseln, die schlechte Gewohnheit ablegen, auswärts zu essen oder Metro zu
fahren, wo die Zahl der Überwachungskameras bald die der Fahrgäste
übersteigt.
Andererseits hatte die Zurückstellung von der Wehrpflicht für Studierende
und Auszubildende weiterhin Bestand, die Freundin der Mutter bot
Unterschlupf irgendwo auf dem Land an. Und die eigene Freundin hielt gar
ein ausgeklügeltes Versteck bereit, direkt auf dem Gebiet der goldköpfigen
weißen Stadt, des Hafens der fünf Meere (historische Bezeichnung für
Moskau; Anm. d. Red.)
Überwintern in Russland
Und wieder sind wir geblieben. Aber diese Liebe zur Poesie und Philosophie,
zur Geschichte des Heimatlandes, die zieht uns hin zu Treffen, Lesungen,
Diskussionen – all das gibt es noch in unserer Stadt. Mit einer dieser
Veranstaltungen beginnt meine kleine Erzählung. Man kann schließlich nicht
behaupten, dass diese Leute in schwarzen Uniformen, die große Ähnlichkeit
mit Terroristen aufweisen, überall auftauchen.
Nehmen wir mal an, wir hätten im November einfach Pech gehabt. Nehmen wir
außerdem an, dass ich Ihnen nicht alles sage, was ich weiß, was ich tue,
was wir alle tun, wir Moskowiter und Moskowiterinnen des Jahres 2022.
Nehmen wir an, dass es unser „nichtmilitärisches Geheimnis“ ist. Dass einer
von uns gerade ein experimentelles Perpetuum mobile des Optimismus
perfektioniert.
Nehmen wir an, dass wir nicht alle Karten auf den Tisch legen können, weil
man uns sonst unsere Poesie nimmt, unsere Philosophie und unser Perpetuum
mobile, um das alles dann für unseren keineswegs leicht verdienten Rubel zu
verkaufen. Unsere Eltern sagen, so war es schon in den 1980er und 1990er
Jahren. Und dass so etwas in den vergangenen fünf bis zehn Jahren mehr als
einmal passiert ist, wissen wir aus eigener Erinnerung.
Ich habe keine Bestandsaufnahme aller Festgenommenen vom 24. November
gemacht (hätte ich vielleicht tun sollen) und kann deshalb nicht ganz
sicher sagen, dass wir alle noch in Moskau sind. Ich könnte dieses „Wir“
nicht einmal verallgemeinernd charakterisieren, denn ich konnte in jener
Nacht nicht alle kennenlernen. Nur über einige weiß ich genau Bescheid.
Aber irgendwie fließt es mir nicht aus der Feder. Ich wollte eigentlich so
etwas wie ein „Tagebuch eines Aktivisten“ (aber was zum Teufel für
Aktivisten sind wir seit dem 24. Februar 2022?) schreiben. Jetzt aber zeigt
sich, dass dabei nur die Erklärungen eines Beobachters des russischen
Naturells herausgekommen sind.
## Vage Hoffnung auf Veränderung
Also lasse ich Sie und mich hier mit der Hoffnung auf Veränderung zurück.
[4][Zoj zum Beispiel] (Anspielung auf das Lied „Peremen“, „Veränderung�…
des Sängers Viktor Zoj aus den 1980er Jahren; d. Red.) wird immer noch in
den Gängen der Metro gespielt und gesungen. Zweifelt das nicht an, ihr
Fortgegangenen. Nur sind es jetzt immer häufiger Frauen, die singen.
Auch ich denke manchmal: „Ich wünschte, ich wäre als Mädchen zur Welt
gekommen!“ Aber so ist es nicht, und ich kann es nicht ändern. Viel
wichtiger ist es, unsere Stadt und unsere Heimat in die richtige Richtung
zu verändern. Daran arbeiten wir, dafür leben wir, das könnt ihr glauben.
Seid nicht traurig dort, ohne uns (wir sind es ohne euch, was denn sonst?).
Schreibt, sooft es geht, in euren freien Medien, wir werden es lesen. Aber
wir machen hier auch unsere eigenen.
Die Mauern werden fallen.
Der Autor schreibt unter Pseudonym. „Perechod“ heißt „Übergang“.
Aus dem Russischen [5][Gaby Coldewey]
20 Jan 2023
## LINKS
[1] /Russen-fliehen-nach-Georgien/!5883416
[2] /Russische-Sprache-in-Riga/!5855490
[3] /Teilmobilmachung-in-Russland/!5883296
[4] https://www.youtube.com/watch?v=Y1QLbPADqVk
[5] /Gaby-Coldewey/!a23976/
## AUTOREN
Iwan Perechodnij
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