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# taz.de -- Wladimir Putins Mobilmachung: Tragik der russischen Gesellschaft
> Der Krieg ist in Russland angekommen. Aber zu ernsthaften Protesten wird
> es nicht kommen, weil die Lage für die meisten zu ausweglos ist.
Bild: Viele Russinnen und Russen sind erst jetzt aufgewacht
Der Krieg ist in Russland angekommen, in Form eines Papiers von einem
Einberufungsamt. Mit Hinweisen, wo man sich wann vorzustellen habe, samt
der sogenannten Militär-Karte. Hatte Russlands Präsident Wladimir Putin
[1][eine Mobilmachung] in den vergangenen Monaten stets mit den Worten
ausgeschlossen, in der Ukraine führe Russlands „professionelle Armee
hochgerüsteter Berufssoldaten“ eine „militärische Spezialoperation“ aus,
hat er ebendiese Mobilmachung nun voller Eile ausgerufen.
Es ist das Eingeständnis des Kremls, dass die russische Armee in der
Ukraine in die Defensive geraten ist. Es bedeutet eine Eskalation, weil
Moskau kaum mehr Mittel hat, als zu drohen – bis hin zum Äußersten: mit
Atomwaffen, vor deren Einsatz es selbst Angst hat. Das System Putin zeigt
seine Schwächen nach außen. Der Westen muss dabei nicht in Angst erstarren.
Viele Russinnen und Russen sind erst jetzt aufgewacht. Der Staat fordert
nun offen das Schlimmste, was er von ihnen überhaupt einfordern kann: für
diesen Staat zu sterben. Den eigenen Sascha, Wanja oder Kolja will da kaum
einer in den Tod schicken. Folgt dem Erwachen ein Volksaufstand? Das Ende
des Regimes Putin? Keineswegs.
Denn die Frage bleibt ja: Was muss geschehen, wenn Sascha, Wanja, Kolja am
Leben bleiben sollen? Flucht? [2][Eine Flucht braucht Geld, braucht
Möglichkeiten, braucht die Zuversicht], irgendwo im Ausland, und sei es
noch so nah, in Sicherheit zu sein. Eine Flucht braucht Mut. Widerstand?
Widerstand braucht im repressiven Russland einen starken Willen, braucht
die Kraft, sich gegen hochgerüstete Spezialpolizisten zu stellen, im Wissen
darum, mit einem Schlagstock verprügelt zu werden und danach vieles zu
verlieren: die Gesundheit, den Job, womöglich die Freiheit. Zehn Jahre
Gefängnis wegen Fahnenflucht? Allein diese Vorstellung lässt in Russland
durchaus viele Männer lieber an die Front ziehen.
Denn diese Optionen würden den Reservisten samt ihren Familien viel
Furchtlosigkeit abverlangen. Menschen, die jahrzehntelang politisch
demobilisiert worden sind, die mit dem Glaubenssatz „Steck deinen Kopf
nicht raus“ aufgewachsen sind, werden sich nicht schnell gegen einen Staat
auflehnen, der mit seinen repressiven Instrumenten bestens funktioniert.
Eine Wahl zu haben und eine Wahl treffen zu können, ist ein Privileg. In
einem jakutischen oder nordkaukasischen Dorf gibt es wenig Privilegien. Der
Weg in den Krieg, dieser Weg in den möglichen Tod, ist selbst für die, die
ihn nicht gehen wollen, nahezu der einzige. Das ist die Tragik der
russischen Gesellschaft.
Im [3][Staats-TV dröhnen die Moderator*innen und Gäste] indes von
„Chancen“, sich als „echter russischer Mann zu beweisen“. Auch darauf s…
der russische Staat: auf das anerzogene Rollenverständnis von einem Mann
als Verteidiger. Die ersten Busse mit Reservisten sind bereits zu
Trainingscamps aufgebrochen. Die Männer geben sich gelassen, ihre Frauen
und Kinder schluchzen.
## Kein Interesse für die Referenden
Es ist eine Ausweglosigkeit, die derzeit jeder quer durchs Land auf seine
eigene Weise erlebt, stets verknüpft mit der Hoffnung: „Es möge mich nicht
treffen.“ Bis es einen doch trifft – und die Menschen den Schlag hinnehmen
und viele ihn ertragen. Denn über Jahre hinweg haben sie gelernt, kein
politisches Subjekt zu sein, dass Politik etwas Fernes ist. Dass Wahlen
keine Bedeutung haben. Und Referenden noch weniger.
Deshalb interessiert sich auch kaum einer in Russland [4][für die
Scheinreferenden], die bis zum 27. September in den von Russland besetzten
Gebieten in der Ukraine abgehalten werden. Selbst nach russischem Recht
sind diese nicht rechtens. Fragt jemand danach? Nein, weil diese
„Referenden“ reine Akklamation sind, die Bestätigung dessen, was der Kreml
bereits beschlossen hat. Aus Panik? Aus Kalkül? Das ist nicht wichtig.
Der „Volksentscheid“ ist einzig dem Nachweis geschuldet, Unterstützung für
Putin zu generieren. Die Rolle des Volkes – wer auch immer dieses Volk
spielen darf – liegt darin, zustimmend Beifall zu klatschen. Die Haltung
vieler im Land: Der Kreml macht, was der Kreml will. Diesem Willen beugen
sich die meisten Menschen in Russland. Europa aber darf sich dem nicht
beugen.
23 Sep 2022
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## AUTOREN
Inna Hartwich
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