# taz.de -- Robert Habeck über grüne Leitlinien: „Wir müssen radikaler wer… | |
> Robert Habeck verlässt Ende August Schleswig-Holsteins Landespolitik und | |
> will als Parteichef der Grünen für eine pro-europäische und liberale | |
> Gesellschaft eintreten. | |
Bild: Will nicht zu den „wohlhabenden Typen mit offenen Hemden“ gehören: R… | |
taz: Herr Habeck, „Dem deutschen Volke“ steht über dem Reichstagsgebäude … | |
Berlin – können Sie mit diesem Begriff etwas anfangen? | |
Robert Habeck: Im Sinne eines Staatsvolks, von dem das Grundgesetz ausgeht, | |
ja. Darauf habe ich ja auch meinen Eid als Minister geschworen. Im Sinne | |
einer ethnischen und biologischen Identität, nein. | |
„Volk“ hat also nichts mit „Rasse“ zu tun? | |
In der Vorstellung vieler Rechter sind Volk und Rasse gleichgesetzt, und | |
wenn man auf den Unterschied hinweist zwischen dem juristischen und | |
ethnischen Begriff von „Volk“, bekommt man in den sozialen Medien den | |
vollen Shitstorm ab. | |
Sie hatten kürzlich geäußert, „Volk“ sei „ein Nazibegriff“. Eine | |
beabsichtigte Wortwahl? | |
Ich hatte gesagt, „Volksverräter“ sei ein Nazibegriff. Volksverrat wurde | |
unter den Nazis zum Straftatbestand, Menschen wurden als Volksverräter zum | |
Tode verurteilt. In dem Zusammenhang meint „Volk“ die ethnische Kategorie, | |
andere werden ausgrenzt, und das vermeintlich eigene völlig überhöht. Ein | |
solcher Volksbegriff ist gefährlich. | |
Können Sie es denn ertragen, dass der Bundestag immer noch im „Reichstag“ | |
sitzt? | |
Wir sitzen jetzt hier in Kiel am ehemaligen Hindenburgufer, mein | |
Ministerium liegt an der Tirpitzmole – beides ist schwer zu schlucken, | |
Reichstag auch. Es gibt im Moment einen sprachlichen Rechtsruck: | |
„Umvolkung“ und Ähnliches, der mich mehr bedrückt als Begriffe, mit denen | |
wir schon seit Jahrzehnten leben. Diese neuen Begriffe sind schlimmer. | |
„Umvolkung“ weist in Richtung einer völkischen Republik. Das ist | |
sprachliche Verrohung. | |
Die bereits bis in die gesellschaftliche Mitte reicht? | |
Ja. Auch aus Reihen der CDU ist inzwischen „Asyltourismus“ zu hören. Das | |
suggeriert, dass Menschen aus Reiselaune auf Schiffen das Mittelmeer | |
überqueren. Und verändert damit den Blick für die Wirklichkeit. Die nämlich | |
ist, dass Männer, Frauen und Kinder aus Not und Elend, vor Vergewaltigung | |
und Sklaverei fliehen. Solche Begriffe sind Gift. Sprache verändert das | |
Denken und schafft so Wirklichkeit. | |
Die Grünen, deren Bundesvorsitzender Sie seit einem halben Jahr sind, sind | |
vor solchen Irrungen gefeit? | |
Natürlich nicht. Auch wir leben im medialen Echoraum, und man kann nicht | |
ausschließen, dass man unbedacht Begriffe übernimmt. „Ankerzentren“ zum | |
Beispiel grassiert und klingt nach sicherem Hafen. Faktisch sind das aber | |
Einrichtungen, in denen 1.000 oder 2.000 Flüchtlinge kaserniert werden, auf | |
unbestimmte Zeit isoliert, ohne Perspektive. Kinder haben keinen Zugang zu | |
Schulen und Erwachsene nicht zu Deutschkursen. Das schafft doch den | |
Nährboden für Gewalt. Man muss sehr aufmerksam über Sprache nachdenken. | |
Sie wollen auch als Parteivorsitzender den Abwehrkampf des Humanisten | |
weiterführen? | |
Nicht als Abwehrkampf – wir müssen raus aus der Defensive. Um den Sog des | |
Rechtspopulismus einzudämmen, müssen wir eingreifen. Wir müssen die | |
progressive, liberale Alternative wieder attraktiv machen. | |
Haben Sie dazu einen Zehn-Punkte-Plan? | |
Nein, mit solcher kleingehäckselten Politik würde das nichts werden. | |
Entscheidend ist, ein Bewusstsein für eine pro-europäische, liberale | |
Gesellschaft zu schaffen. Das mag jetzt ein wenig größenwahnsinnig klingen, | |
das weiß ich wohl, aber die Auseinandersetzung wird gerade über genau das | |
geführt: Was für eine Gesellschaft wollen wir sein – eine gespaltene, in | |
der die Würde der Menschen nicht mehr unantastbar ist, oder eine, die | |
versöhnt und zusammenfindet? | |
Gehört dazu auch Ihre Aussage, die Grünen müssten linker werden? | |
Das habe ich gesagt, als wir vor gut einem Jahr Jamaika in | |
Schleswig-Holstein gemacht haben. Da hing das Bild von einem Bündnis der | |
wohlhabenden Typen mit offenen Hemden im Raum. Aber unsere Rolle ist es, | |
den sozialen Zusammenhalt und die ökologische Agenda voranzutreiben. | |
Sagen Sie es heute immer noch? Auch im Bund? | |
Natürlich. Wir müssen zum Beispiel das Hartz-IV-System überwinden und | |
sagen, wie es besser und gerechter gemacht werden soll. Das ist ein großer | |
Schwerpunkt, denn die Angst vor dem Verlust von Würde zermürbt, und das ist | |
bis in die gesellschaftliche Mitte hinein zu spüren. Wir Grüne müssen | |
radikaler werden, um realistisch zu sein. | |
Also bedingungsloses, nicht solidarisches Grundeinkommen? | |
Wir brauchen neue Garantiesicherungen, die in allen Lebenslagen Schutz | |
bietet, die Würdelosigkeit durch Ermutigung ersetzt und Anreize für Arbeit | |
schaffen. Da arbeiten wir dran. | |
Am 31. August scheiden Sie aus dem Kabinett in Schleswig-Holstein aus. | |
Verlieren Sie dadurch Einfluss- und Gestaltungsmöglichkeiten? | |
Ja, klar. | |
Warum machen Sie es dann? | |
Jede Entscheidung, die ich als Minister treffe, betrifft Menschen | |
unmittelbar und verändert ihre Lebenswirklichkeit. Deshalb waren das auch | |
sechs ungefilterte Jahre. Das ist als Bundesvorsitzender anders. Aber | |
gerade jetzt, wo es politisch und gesellschaftlich um so viel geht, haben | |
wir als Partei eine neue Relevanz. Jetzt ist die Zeit, sich voll | |
einzubringen. Ich war sechs Monate Landesminister und Bundesparteichef | |
gleichzeitig, und das ist schon hart. Wenn man beide Jobs ernst nimmt und | |
mit Anspruch ausfüllen will, dann braucht man auch Zeit für Gespräche, zum | |
Zuhören, zum Nachdenken. Ab September kann ich meine ganze Kraft auf eins | |
konzentrieren. | |
Haben die Grünen Sie zum Rücktritt gezwungen? | |
Die Partei hat mir eine großzügige Übergangszeit von fast acht Monaten | |
eingeräumt, damit ich die Prozesse vernünftig abschließen kann, die ich als | |
Landesminister angestoßen habe: Regionalplan Windkraft, Gülleverordnung und | |
anderes. Ich kann das Ministerium also in ordentlichem Zustand an meinen | |
Nachfolger Jan Philipp Albrecht übergeben. | |
Die Grünen bestehen immer noch auf der Trennung von Amt und Mandat. Ist das | |
nicht inzwischen überholt? | |
Der Parteitag hat Anfang des Jahres mit klarem Votum beschlossen, dass man | |
für eine Übergangszeit beide Ämter ausüben kann. Das war ein deutliches | |
Signal: Wir haben die Schere – „hier die reine Parteilehre, da die | |
Verantwortung“ – geschlossen. Verantwortung und Idealismus bedingen sich | |
gegenseitig. So sehen Annalena (Baerbock, grüne Co-Vorsitzende, d. Red.) | |
und ich auch unsere Jobs. | |
Ist das nicht immer noch eine permanente Misstrauenserklärung an Mandats- | |
und Funktionsträger? | |
Da kam es mal her. Aber wir sind darüber hinausgewachsen. | |
Aber faktisch verlangen die Grünen von einem vierfachen Familienvater, | |
künftig von zwei Dritteln seines bisherigen Ministergehalts zu leben. Ist | |
das familienfreundlich? | |
Auch ein Gehalt als Bundesvorsitzender ist mehr als auskömmlich. Darüber zu | |
lamentieren, wäre das Letzte. | |
Sondern? | |
Was mich anspornt, ist das, was gerade auf dem Spiel steht. Ja, in | |
Schleswig-Holstein hätte ich wahrscheinlich noch vier Jahre lang einen Job, | |
um die Wahl als Parteivorsitzender muss ich mich Ende 2019 wieder bewerben. | |
Aber Trump und der Brexit sind Wirklichkeit geworden, die CSU himmelt den | |
illiberalen Orbán an, Söder schwafelt vom Ende des Multilateralismus, | |
Dobrindt von der konservativen Revolution. Jetzt geht es doch wirklich um | |
etwas. Und deshalb: Bei allem Abschiedsweh vom Ministeramt – dieser | |
Auseinandersetzung will ich jetzt meine ganze politische Leidenschaft | |
widmen, auch wenn es Risiken birgt. | |
Sie gelten als eine der Hauptstützen des Jamaika-Bündnisses in | |
Schleswig-Holstein. War das auch riskant, diese Koalition der anderen Art | |
zu wagen? | |
Es war etwas völlig Neues. Und wir alle waren bereit, uns auf Neues | |
einzulassen. Hätten alle – CDU, FDP und Grüne – weitergemacht wie bisher, | |
wäre der Karren vor die Wand gefahren. Daraus ist ein neuer Stil | |
entstanden, der auch neue Lösungen möglich macht. | |
Liegt das an den Inhalten oder den handelnden Personen? | |
Es liegt an den Menschen im Alltag. Auch für ideologisch aufgeladene Fragen | |
lassen sich Lösungen finden, wenn die handelnden Personen das wirklich | |
wollen. Wenn nicht, kann aus jedem kleinen Riss ein Spaltpilz werden. | |
Ist das die Überwindung des alten Lagerdenkens? | |
Vielleicht des alten Lagerdenkens. Aber ich glaube, dass wir in eine neue | |
Lagerauseinandersetzung hineinlaufen. Die definiert sich nicht mehr allein | |
am Links-rechts-Schema von sozialer Umverteilung und | |
Wirtschaftsliberalismus, sondern zusätzlich an den Gegensatzpaaren | |
autoritär oder liberal, pro-europäisch oder nationalistisch. Das werden die | |
entscheidenden Fragen werden. Und wir brauchen ein Bündnis der liberalen, | |
pro-europäischen und sozialen Kräfte. | |
Wenn Sie jetzt gehen, wackelt dann Jamaika? | |
Nein. Wir haben reichlich starke Persönlichkeiten in Partei, Fraktion und | |
Kabinett. Monika Heinold und Eka von Kalben sind starke Stützen. Das wird | |
weiter gut und stabil laufen. | |
Robert Habeck glaubt, ersetzbar zu sein? | |
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17 Jul 2018 | |
## AUTOREN | |
Sven-Michael Veit | |
## TAGS | |
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