| # taz.de -- BGH-Urteil zum digitalen Erbe: Auslagerungen unseres Selbst | |
| > Digitale Kommunikation gilt künftig als Erbe. Das Urteil musste zwischen | |
| > dem Schutz des Privaten und dem Seelenfrieden der Angehörigen abwägen. | |
| Bild: Wie schrecklich muss die Ungewissheit über die Todesumstände sein, wenn… | |
| Wer einmal die Wohnung eines Verstorbenen aufgelöst hat, wird sich an das | |
| seltsame Gefühl beim Durchschauen des materiellen Nachlasses, beim | |
| Durchwühlen der Unterwäscheschublade oder der Brieffächer erinnern. | |
| Schließlich berührt man Intimstes. | |
| [1][Wir empfinden ein doppeltes Schamgefühl]: Können wir uns doch | |
| vorstellen, wie es wäre, wenn jemand unsere Sachen durchsuchte. Zugleich | |
| wollen wir auch nicht, dass unser Bild des Verstorbenen durch – für ihn wie | |
| uns – peinliche Enthüllungen verändert wird. Mit der Ausweitung der | |
| Intimsphäre in die Domäne des Digitalen potenzieren sich die Möglichkeiten | |
| der posthumen Beschämung. Wenige von uns können wollen, dass nachträglich | |
| intime Chats von Dritten gelesen und ausgewertet werden. | |
| Und doch können wir den Wunsch der Mutter der verstorbenen | |
| Fünfzehnjährigen, die das Urteil des Bundesgerichtshofs nun nötig machte, | |
| verstehen. Wie schrecklich muss die Ungewissheit über die Todesumstände | |
| sein, wenn die Lösung womöglich Schwarz auf Weiß, oder eben auf digitalem | |
| Grund, vorliegt? Die Mutter hält gewissermaßen den Schlüssel zum digitalen | |
| Tagebuch der Tochter in der Hand, kennt das Facebook-Passwort, aber | |
| Facebook verwehrt ihr die Einsicht: Das in den Gedenkmodus versetzte Konto | |
| sperrt die Mutter aus; die enthaltenen Informationen sind begraben wie die | |
| Tochter. | |
| Allzu leichthändig wollen wir den Schutz des Privaten und Vertraulichen | |
| nicht aus der Hand geben. Man könnte nun eine Art Dammbruchszenario | |
| herbeifantasieren: Da könnte ja jeder kommen! Es gibt doch ziemlich viele | |
| Gründe, warum man Einsicht in die private Kommunikation anderer erlangen | |
| wollen könnte. Zugleich geht es um den Seelenfrieden der Angehörigen, die | |
| schon viel Schmerz ertragen mussten – ein schwieriger Fall eben. | |
| ## Sexting am Tisch | |
| Vielleicht erinnern wir uns in diesem Kontext auch an Franz Kafkas Wunsch, | |
| der Freund Max Brod möge nach seinem Tod sämtliche Texte und Briefe | |
| vernichten. Gerade der Leser der nachgelassenen Briefe an Felice Bauer | |
| ergötzt sich nicht wenig an den intimen, teils schrecklich peinlichen, wenn | |
| auch wunderbar geschriebenen Liebeswindungen. Wir wären natürlich | |
| hochgradig traurig über den Verlust bedeutender literarischer Texte, auch | |
| wenn Generationen von Abiturienten dadurch von „Vor dem | |
| Gesetz“-Interpretationen verschont geblieben wären. | |
| Vor dem Gesetz steht auch die Mutter der verstorbenen Fünfzehnjährigen, | |
| wobei sich ausgerechnet Facebook als Hüter und Wahrer der Privatsphäre der | |
| Tochter aufspielt. Das mag überraschen, besteht doch das Geschäftsmodell | |
| des sozialen Netzwerks darin, mit Privatem Geld zu verdienen. Man darf es | |
| dann schon als zynisch betrachten, ausgerechnet der Mutter das Eindringen | |
| in die Intimsphäre der Tochter vorzuwerfen. | |
| Eigentlich formierte die schützenswerte Intimsphäre sich einst nicht gegen | |
| das persönliche Umfeld, sondern vor allem gegen die Zugriffe des Staats. | |
| Heute treten an seine Seite als Gefährder der Privatsphäre die | |
| Datenkonzerne und sozialen Netzwerke, Facebook, Google und Co. Der heimlich | |
| mitlesende Dritte, gegen den sich das schützenswerte Private formiert, ist | |
| nicht mehr zwangsläufig nur der Staat, schon gar nicht neugierig | |
| schnüffelnde Verwandte, sondern das soziale Netzwerk selbst. | |
| Jeder Facebook-User wird mit dem Problem konfrontiert, dass er die Grenzen, | |
| die zwischen privat oder öffentlich sein soll, zunächst einmal abstecken | |
| muss. Verkompliziert wird die Lage dadurch, dass etwas, das so mächtig ist | |
| wie der Staat – ein milliardenschweres Unternehmen immerhin – als | |
| parasitärer Dritter beim Chatten, Texten und [2][Sexting am Tisch] sitzt | |
| und die Brosamen der Kommunikation gierig aufliest und verwertet. Natürlich | |
| könnte man argumentieren, dass im Falle einer Privatnachricht ein | |
| besonderer Grad der schützenswerten Intimität besteht. Aber Facebook ist | |
| eben kein Postbote, der einen versiegelten Brief übergibt. | |
| ## Ganz real getroffen | |
| Auf seltsame Art zeigt der Streitfall, den der BGH beilegen musste, die | |
| seltsame Vernetzung von Virtuellem und Realem, wobei die Trennung von | |
| Anfang an problematisch ist. Auch und gerade vor dem Hintergrund von | |
| Onlinemobbing von Teenagern auf sozialen Plattformen, das das reale | |
| Schulmobbing in die Welt des Virtuellen verlagert, wo es ja nicht weniger | |
| wehtut, sondern eher weitere Kreise zieht und sich im Netzwerk verbreitet, | |
| scheint die Intuition, dass sich Gründe für den Tod der Tochter auf ihrem | |
| Account finden lassen könnten, nachvollziehbar. | |
| Soziale Medien greifen grundlegend in unsere Alltagskommunikation und damit | |
| in unser Leben ein, dass sie von diesem kaum noch zu trennen sind. Sie sind | |
| dabei letztlich mehr als Tagebuch oder Brief, weil sie nicht nur Medium des | |
| Austauschs sind, sondern als [3][Teil unserer Außendarstellung und | |
| Selbstinszenierung] eben Auslagerungen unseres Selbst sind. Wer online | |
| verletzt wird, fühlt sich ganz real getroffen, und so ist es auch ganz | |
| nachvollziehbar, dass die ganz real verletzten Eltern eines real | |
| verstorbenen Mädchens den digitalen Nachlass der Tochter einsehen möchten. | |
| Nicht nur als Hinweisgeber auf mögliche Ursachen für ihren vorzeitigen Tod. | |
| Sondern auch als Teil der persönlichen Zeugnisse einer Tochter, die einen | |
| Teil ihres Lebens auch online lebte. Und im digitalen Raum gewissermaßen | |
| weiterlebt. | |
| 12 Jul 2018 | |
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| ## AUTOREN | |
| Marlen Hobrack | |
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