# taz.de -- Über das Gefühl Scham: "Bitte frei machen" | |
> Es ist ein mächtiges Gefühl, das jeder kennt: die Scham. Aber warum wird | |
> diese Emotion versteckt? Warum ist die Scham peinlich? | |
Bild: Wie geht das gleich, im Boden versinken? | |
Das erzählt eigentlich niemand gerne. Von der Scham, die aus tiefster Seele | |
rührt, die nicht aufgerufen und nicht benannt werden will. Vom Schämen zu | |
reden heißt, sich zu demütigen. Das empfindet Frank [Namen der Betroffenen | |
von der Redaktion geändert] ganz deutlich, als er von der Darmspiegelung | |
spricht. Er hatte sich an diesem Tag gewaschen. Mehrmals. Ganz sauber | |
wollte er sein. Die Untersuchung, die ihm bevorstand, machte ihn beklommen. | |
Er hatte keine Ahnung, was genau geschehen würde. Aber eins war klar: Frank | |
musste sich ausziehen, seinen Unterleib nackt präsentieren. Daliegen, den | |
Blicken Fremder ausgesetzt sein und sich befummeln lassen. "Wahrscheinlich | |
ist das anderen auch peinlich", sagte er, als es so weit war und er mit | |
hochrotem Kopf, Herzklopfen und trockenem Mund, nur in T-Shirt und Socken | |
vor dem Arzt und seiner Assistentin stand. "Äh nö", war die knappe Antwort, | |
die ihn in seinen Augen vollends zum Depp degradierte. | |
"Wer sich schämt, will in den Boden versinken, sich den Blicken der anderen | |
entziehen. Scham ist eine sehr schmerzhafte Emotion", hieß es auf der | |
Einladung zu einer Tagung der Caritas-Akademie für Gesundheits- und | |
Sozialberufe in Freiburg mit dem Titel "Sie dürfen sich schon mal frei | |
machen". Zwei Tage lang sollten sich Ärzte, Pflegefachkräfte und | |
Studierende mit dem Schamgefühl in Medizin und Pflege auseinandersetzen. | |
Rund 3.000 Einladungen wurden verschickt, auf Kongressen und Tagungen rund | |
weitere 2.000 potenziell Interessierte informiert. Aber kommen wollten nur | |
neun Personen. Die Tagung wurde abgesagt. Kein Bedarf? Vielleicht hat der | |
Arzt ja gar keine professionelle Deformation an den Tag gelegt, indem er | |
das Schamgefühl seines Patienten forsch ignorierte. Vielleicht ist Scham in | |
modernen Gesellschaften ein aussterbendes Phänomen? | |
Nein, das ist sie nicht, sagt der Freiburger Sozialwissenschaftler Stephan | |
Marks. Im Vorwort zu seinem gerade veröffentlichten Buch über "Scham - die | |
tabuisierte Emotion", zitiert er den Psychologen Michael Lewis, der glaubt, | |
dass "das artspezifische Gefühl Scham für unser Leben zentral ist. Scham | |
bestimmt unsere seelische Gestimmtheit mehr als Sex oder Aggression. Scham | |
ist überall." | |
Ein Stuttgarter Kardiologe glaubt sich zumindest in den Anfangszeiten | |
seiner Berufstätigkeit manchmal geniert zu haben - wenn er, mit Anzug, | |
Krawatte und weißem Kittel angezogen, Patienten gegenüberstand, die sich | |
entkleidet hatten. Weshalb genau, darüber hat er nicht weiter nachgedacht. | |
Er hatte es schnell im Griff. Musste ja schließlich auch. Wie sonst sollte | |
er täglich mit den Patienten professionell umgehen. Dass es für diese nicht | |
immer einfach ist, registriert er wohl. Er helfe ihnen dabei, mache | |
vielleicht noch einen Vorhang zu, eine Tür, spreche leiser. Manchmal auch | |
davon, dass es für die meisten ungewohnt sei, sich hier auszuziehen. Er | |
versuche, die Bloßstellung an die Untersuchungsräume zu binden, ein | |
gemeinsames Einverständnis herzustellen, um dann eine vertrauensvolle | |
Mitarbeit auf Augenhöhe anzubieten. Das funktioniere bei deutschen | |
Patienten fast immer. Es gibt aber Migrantinnen, die besonders schüchtern | |
reagieren und sich nur mit Begleitung untersuchen lassen. | |
Besonders für ältere Menschen ist Nacktheit oft nicht selbstverständlich. | |
Und sie fühlen ihren Körper im Spiegelbild der allgegenwärtig propagierten | |
Perfektion makelloser Jugend entwertet. Das hat der Züricher Arzt und | |
Philosoph Andreas Maercker auf den 57. Lindauer Psychotherapiewochen 2007 | |
ausführlich erörtert. Und so verwundert es nicht, dass alte Menschen | |
gegenüber jungen Pflegepersonen größere Hemmungen haben als junge Menschen, | |
die in der Pflege von Älteren versorgt werden. Die Älteren vermuten, dass | |
die Jüngeren sich vor dem Umgang mit ihnen ekeln. Und manchmal wird ihnen | |
tatsächlich auch mit Ekel oder jugendlicher Arroganz begegnet, die ihre | |
Gefühle ignoriert bis tabuisiert. | |
Marianne hat das noch allzu gut in Erinnerung. Die ehemalige Lehrerin glitt | |
mit 38 Jahren bei einem Schulausflug auf dem winterlichen Schauinsland im | |
Schwarzwald auf Eis aus und schlug auf einer Steinkante auf. Seit dieser | |
Zeit ist sie querschnittgelähmt, braucht täglich Hilfe auch bei allen | |
intimen Verrichtungen. Es hat sie große Anstrengungen gekostet, die | |
Pflegedienste davon zu überzeugen, dass sie die für sie unangemessene Nähe | |
von Männern und schon gar jungen Zivildienstleistenden, die sie täglich | |
wuschen oder die Monatsbinden wechselten, nicht "verdrängen" könne. | |
Unverständnis und Gleichgültigkeit, die ihr in der Anfangszeit ihrer | |
Krankheit das Leben so schwer gemacht hatten, waren wohl selbst Ausdruck | |
einer Verdrängung, die den ökonomisch optimierten Abläufen der | |
Trägerinstitutionen zu verdanken sind. | |
Das erfährt auch der Pflegedienstleiter in einem Hospiz für Aidskranke in | |
Oberharmersbach immer wieder. Vor allem wenn neue Bewohner im Haus | |
ankommen, die von einer unzureichenden Pflege berichten, die sie zuvor | |
genossen hatten. Er weiß, dass in vielen Institutionen über Schamgefühle | |
kaum gesprochen wird, geschweige denn, dass sich die Pflegenden ihrer | |
eigenen Gefühle der Scham in Verbindung mit der Sauberkeitserziehung, den | |
Sexual- und Ausscheidungsorganen bewusst wären oder sie in der Ausbildung | |
thematisiert würden: Scham über Gerüche, Geräusche, Fäkalien, nasse | |
Windeln, Körpermakel aller Art, darüber, was der andere denken mag, wie er | |
urteilen wird. In Oberharmersbach, wo auch viele junge Menschen auf ihren | |
Tod warten, bemüht man sich, ihnen die Zeit bis dahin lebenswert zu | |
gestalten. Vor allem heißt das, sagt der Pflegedienstleiter, beschämende | |
Situationen, so gut es geht, zu vermeiden und den Bewohnern mit großer | |
Achtsamkeit zu begegnen. Wesentlich ist für ihn die gleichgeschlechtliche | |
Pflege. Und sie soll von Zuwendung, Achtung und Respekt vor den Menschen | |
geprägt sein. Das wird dort immer wieder thematisiert, auch in den | |
Seminaren und Fortbildungskursen. | |
Auch die Scham wegen der Vorstellung, eine Krankheit selbst verschuldet zu | |
haben, ist selten ein Thema unter Medizinern und Angehörigen der | |
Pflegeberufe. Das führt, wie ein Freiburger Gynäkologe erzählt, zu einer | |
Belastung des Arzt-Patient-Verhältnisses. Denn daraus entstehendes | |
Verschweigen kann die Diagnose verfälschen. Genauso wie religiöse | |
Vorstellungen von Ehre, die er bei Frauen aus muslimischen Kulturen kennt, | |
oder die von Sünde und Beflecktsein streng christlich Erzogener. Er | |
versucht durch ein einfühlsames Gespräch über die Situation der Patientin | |
und seine medizinische Arbeit Vertrauen zu schaffen und plant genügend Zeit | |
für Fragen ein. Das ist so ziemlich genau das Gegenteil dessen, wie manch | |
andere ihren Patientinnen begegnen. "So, dann machen wir mal schön die | |
Beine breit", hatte einer seiner Zunft zu Ulrike gesagt, die im Wartezimmer | |
sitzt. Ganz unmöglich findet sie diese distanz- und respektlose Art. Hier | |
dagegen gebe es kein falsches Wir, kein forsches Auftreten. Angenehme | |
Versachlichung präge die Atmosphäre. | |
"Abwesenheit von Scham ist ein sicheres Zeichen von Schwachsinn", sagte | |
einst Sigmund Freud. Was aber, wenn sich Schamgefühle verselbstständigen? | |
Wenn sich Gefühle der Scham mit Gefühlen der Angst fest verbinden? Man bei | |
jeder Gelegenheit rot wird, sich verkriechen, in Luft auflösen will? Dann | |
können sie sich auch in der Maske der Wut und des Zornes äußern. Dem | |
Pflegedienstleiter ist das nicht unbekannt. Gerade junge Aidskranke neigten | |
dazu, Schuldgefühle zu entwickeln, die in Protest münden. Oder aber auch | |
nicht das besondere Bedürfnis nach zärtlicher Zuwendung und Intimität, was | |
für junge und alte Menschen gleichermaßen gilt, wie Maercker aus seinen | |
psychotherapeutischen Gesprächen weiß. Heikel sei das, meint der | |
Pflegedienstleiter, und dennoch müsse versucht werden, diesem | |
urmenschlichen Verlangen Raum zu geben, ohne zugleich eine sexuelle | |
Annäherung zuzulassen. Nichterotische Massagen mit ätherischen Ölen haben | |
hier, wie er sagt, Wunder bewirkt. | |
Stephan Marks zählt noch andere Formen der Maskierung von Scham auf, die | |
medizinischem oder pflegendem Personal meist unbekannt sein dürften: sich | |
einigeln, emotionale Erstarrung, Projektion, Verachtung, Zynismus, | |
Arroganz, Neid, Ressentiment, Größenfantasien, Idealisierung, | |
Perfektionismus oder Sucht. Und auch Schamlosigkeit kann ihm zufolge eine | |
solche Maske sein. Verständnis statt Abwehr in dem Wissen darum kann den | |
Umgang mit Menschen in den entsprechenden Situationen erheblich | |
erleichtern. Genau das, so der Pflegedienstleiter, ist für medizinisches | |
und Pflegepersonal eigentlich unverzichtbar: der Bedürftigkeit und der | |
Abhängigkeit von Patienten zumindest einen Rahmen zu geben, der von | |
menschlicher Wertschätzung geprägt ist. | |
Wie dies gelingen kann, darüber hätte man bei der abgesagten Tagung reden | |
können. | |
Literatur zum Thema: Stephan Marks, "Scham, die tabuisierte Emotion". | |
Patmos 2007, 227 Seiten, 19,90 Euro | |
13 Jan 2008 | |
## AUTOREN | |
Mechthild Blum | |
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