# taz.de -- Berliner Radgesetz wird verabschiedet: Emanzipation auf der Straße | |
> Am Donnerstag wird in Berlin das erste Radgesetz Deutschlands | |
> verabschiedet. Es kann nur ein erster Schritt sein zur Normalität im | |
> Straßenverkehr. | |
Bild: Die Dinge im Verkehr besser in Bewegung bringen, das soll das Mobilitäts… | |
Gut dreißig Meter lang ist die Kolonne von RadfahrerInnen, die sich gegen 9 | |
Uhr über die Otto-Braun-Straße in Richtung Alexanderplatz schiebt. Menschen | |
auf dem Weg zur Uni oder zur Arbeit, wie an jeden Werktag. Vor einem Hotel | |
parken zwei Reisebusse auf der Straße, zwischen ihnen und dem Bürgersteig | |
verläuft der Radweg. Touristen versuchen mit bangem Blick, ihre Koffer | |
auszuladen und Richtung Hotel zu schleppen. „Das sind Radfahrer“, ruft | |
ihnen der Busfahrer zu, „die haben hier Sonderrechte!“ Mit dieser Art | |
Altherrenwitz erntet er höhnisches Gelächter. | |
Berlin im Juni 2018. Auf der Straße gilt weiterhin das Recht des oder der | |
Stärkeren, egal ob das rechtens ist oder nicht. Denn tatsächlich sind es | |
natürlich die Busse, die in diesem Fall Sonderrechte für sich in Anspruch | |
nehmen. Sie stehen teils stundenlang vor dem erst vor wenigen Jahren | |
erbauten Hotel, blockieren eine der beiden Fahrbahnen für Autos und | |
gefährden so auch die RadlerInnen. | |
Jene wiederum müssen – eine Seltenheit in Berlin – laut Ausschilderung den | |
Radweg auch wirklich benutzen. Natürlich könnte man sagen, die TouristInnen | |
und ihre Busfahrer aus der deutschen Provinz, die sind halt noch nicht so | |
weit mit der Emanzipation im Straßenverkehr. Aber was hilft das, wenn man – | |
als Radler oder Fußgänger – umgefahren wird? | |
Helfen soll hingegen das Mobilitätsgesetz, das die rot-rot-grüne Berliner | |
Koalition am kommenden Donnerstag im Abgeordnetenhaus verabschieden wird. | |
Vor allem Verkehrsteilnehmer, die gegenüber Autos, Lkws und Bussen allein | |
schon durch ihre physische Verletzbarkeit im Nachteil sind, sollen dank des | |
Gesetzes sicherer durch die Stadt kommen. RadfahrerInnen könnten von dem | |
darin vorgesehenen massiven Ausbau der Radwege an allen Hauptstraßen | |
profitieren. Das Gesetz, im Kern entstanden dank einer immens erfolgreichen | |
Unterschriftensammlung der Initiative Volksentscheid Fahrrad, ist eines der | |
zentralen Projekte der seit Ende 2016 regierenden Berliner Landesregierung. | |
## Es geht um Umverteilung | |
Es geht letztlich um die Umverteilung von Raum, zuungunsten der Autofahrer. | |
Vor allem Parkplätze entlang der Straßen – die sogenannten Standstreifen – | |
müssten massiv reduziert werden, um Platz zu schaffen für Radwege. Das ist | |
ein Teil dessen, was der Busfahrer mit „Sonderrechten“ gemeint hat: Fläche | |
auf Straßen, die eigentlich für die Fortbewegung gebraucht und bisher fürs | |
Parken verschwendet wird, soll wieder im ursprünglichen Sinne genutzt | |
werden. Nur eben nicht für Autos. | |
Daher geht die Angst vor dem Statusverlust um: Was, wenn man als (zumeist | |
männlicher) Autofahrer plötzlich nur mehr irgendwie gleichberechtigt mit | |
RadfahrerInnen ist? Wenn Schluss ist mit „King of the Road“? Man kann hier | |
durchaus Parallelen ziehen zur gesellschaftlichen Gleichberechtigung von | |
Frauen und LGBTI*, nur dass Deutschland im Falle Verkehr noch ziemlich am | |
Anfang der Entwicklung steht. Damit das Mobilitätsgesetz von Rot-Rot-Grün | |
erfolgreich sein kann, muss das Rad der Geschichte ein gutes Stück | |
weitergedreht werden: weg vom Zeitalter der Automobile, erst recht, wenn | |
darin nur eine Person sitzt. | |
Wobei man sagen muss: Auch RadfahrerInnen sind keine besseren Menschen. | |
Vielmehr verhalten sie sich oft analog zu anderen VerkehrsteilnehmerInnen, | |
indem sie – etwa gegenüber FußgängerInnen, die noch schnell über eine fast | |
schon rote Ampel huschen – ihre Rechte unbedingt einfordern und ohne | |
Rücksicht durchsetzen wollen. Oder gar ihre Rechte überschreiten, wenn sie | |
auf Bürgersteigen unterwegs sind. | |
## Druck gemacht | |
RadfahrerInnen sind indes die Gruppe, die in den letzten drei Jahren am | |
meisten politischen Druck gemacht hat für bessere Verkehrsbedingungen – | |
auch weil sie bei Unfällen oft schwere und schwerste Verletzungen | |
davontragen. Erst vor zwei Wochen sind in Berlin innerhalb nur eines Tages | |
zwei RadlerInnen im Alter von acht und dreizehn Jahren im Straßenverkehr | |
ums Leben gekommen, der achtjährige Junge wurde vor den Augen seiner Mutter | |
auf dem Radweg von einem rechts abbiegenden Lkw überrollt. | |
Fast noch schlimmer als die Zahl der Todesopfer ist die tägliche Erfahrung | |
im Straßenverkehr, dass diese Gefährdung Politikern bisher nicht klar ist | |
oder sogar bewusst ignoriert wird. Wieso sonst kommt es planmäßig zu | |
solchen Situationen wie der anfangs geschilderten, bei der sich Reisebusse, | |
deren Mitfahrenden und RadlerInnen mit gefährlicher Sicherheit in die Quere | |
kommen müssen? Das Hotel ist noch keine fünf Jahre alt, entsprechend neu | |
ist auch die Situation. | |
Und sogar in diesen Wochen noch werden Radstreifen angelegt, die schlicht | |
irrsinnig sind. Einen davon erreicht dieselbe RadlerInnen-Kolonne wenige | |
hundert Meter später, wenn sie den Alexanderplatz Richtung Rotes Rathaus | |
überquert und am nächsten neu gebauten Hotel vorbeifährt. Direkt davor ist | |
seit Mitte Mai ein autofahrbahnbreiter Radstreifen markiert – der, kaum ist | |
man am Hotel vorbei, übergangslos in den stets vollgeparkten Standstreifen | |
übergeht. | |
Laut Verkehrsplaner müssen die NutzerInnen des Radstreifens also entweder | |
abrupt auf die viel befahrene Grunerstraße ausweichen oder auf den | |
Bürgersteig. Das Ganze mutet noch viel absurder an, weil die Grunerstraße | |
an dieser Stelle je nach Rechnung vier oder fünf Spuren hat. Platz für die | |
nötige Verlängerung des Radstreifens wäre also vorhanden. | |
Es gibt Hunderte ähnlicher Stellen in Berlin. Es gibt auch viele Straßen, | |
die breit genug wären, um RadlerInnen und AutofahrerInnen genug Platz | |
einzuräumen, wo teilweise sogar seit Jahren ein Radweg im Gespräch ist – | |
etwa auf der drei- bis vierspurigen Danziger Straße zwischen Prenzlauer | |
Berg und Friedrichshain –, wo aber nichts passiert. RadfahrerInnen werden | |
so tagtäglich en passant daran erinnert, dass sie von Politik und | |
Verwaltung immer wieder für irrelevant gehalten werden. | |
Nach Häufungen von Unfällen wie in den letzten Wochen versuchen sie sich | |
mit Appellen an die eigene Sorgfalt zu behelfen: Noch mal schauen, ob der | |
rechts abbiegende Lkw wirklich wartet, noch mehr Abstand zu parkenden | |
Autos, deren Türen sich plötzlich öffnen könnten. Doch das ändert nichts an | |
den Ursachen, und als Gesetz des Straßendschungels gilt: Zum Unfall kommt | |
es oft, wenn man es am wenigsten erwartet. | |
Um daran etwas zu ändern, muss die Verabschiedung des Mobilitätsgesetzes | |
schnell sichtbare Folgen haben. Es gilt, Spuren der Sicherheit in der Stadt | |
zu hinterlassen, auch an Ecken, die seit Jahren viele Fragen aufwerfen. Und | |
die Politik muss für ein Bewusstsein werben, dass Altherrenwitze auch im | |
Verkehr Relikte aus dem 20. Jahrhundert sind. | |
Dieser Text ist Teil eines Schwerpunkts zum Radverkehr. Mehr zum Thema | |
können Sie in der gedruckten taz.berlin an diesem Wochenende lesen. | |
23 Jun 2018 | |
## AUTOREN | |
Bert Schulz | |
## TAGS | |
Volksentscheid Fahrrad | |
Radgesetz | |
Schwerpunkt Rot-Rot-Grün in Berlin | |
Schwerpunkt Radfahren in Berlin | |
Berlin | |
Radgesetz | |
Lkw | |
Lesestück Meinung und Analyse | |
Radgesetz | |
Fahrrad | |
Schwerpunkt Rot-Rot-Grün in Berlin | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Verkehrspolitik in Berlin: Das macht radlos | |
Seit elf Jahren versucht ein Bezirk, an einer dreispurigen Straße einen | |
Radweg anzulegen. Dies zeigt exemplarisch die Probleme Berlins, für mehr | |
Sicherheit zu sorgen. | |
Alarmsysteme für Fahrer: Menschen vor Lkws schützen | |
Laster haben einen toten Winkel, das führt zu vielen Unfällen. | |
Verkehrsminister Andreas Scheuer wirbt nun für Abbiegeassistenten. | |
Debatte Abbiegeunfälle von LKW: Lastwagen raus aus den Städten! | |
Wenn Lastwagen Kinder töten, müssen nicht die Kinder von der Straße | |
verschwinden – sondern die Laster. Auf dem Weg zur lasterlosen Stadt. | |
Abgeordnetenhaus: Gesetz radelt durch Ausschuss | |
Grünes Licht für Mobilitätsgesetz im Verkehrsausschuss. Koalition lehnt | |
zuvor gelobte FDP-Anträge ab. | |
Förderung von Lastenfahrrädern: JedeR nur ein Rad! | |
Die Verkehrsverwaltung verteilt üppige Zuschüsse zur Anschaffung von | |
Lastenrädern. Wenn Anfang Juni der Startschuss fällt, dürfte der Andrang | |
groß sein. | |
Ein Jahr Rot-Rot-Grün in Berlin: Das muss man doch mal sagen! | |
Die Bilanz der Koalition ist durchwachsen. Das liegt auch daran, dass sich | |
SPD, Linke und Grüne in Sachen Marketing und Selbstironie schwertun. |