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# taz.de -- Debatte Regierungswechsel in Madrid: Spaniens neue bunte Mehrheit
> Die Koalition für den neuen sozialistischen Präsidenten Pedro Sánchez ist
> so vielfältig wie das Land. Dieses muss sich neu definieren.
Bild: Aufbruchstimmung in Spanien
Das wahre Spanien ist nun an der Macht. Der neue sozialistische
Regierungspräsident Pedro Sánchez gewann das Misstrauensvotum gegen den
konservativen Mariano Rajoy mit einer deutlichen Mehrheit, bestehend aus
einem breiten Sammelsurium politischer Kräfte, von der linksalternativen
Podemos über seine Mitte-links-Sozialdemokraten der PSOE bis hin zu linken,
ja, selbst konservativen Nationalisten und Separatisten aus dem Baskenland
und Katalonien. Sie eint der Wunsch, die korrupten Seilschaften der
Konservativen aus den Institutionen zu verbannen.
Die Mehrheit von Sánchez beim Misstrauensvotum ist so bunt und vielfältig
wie das Land. Diese Parteien repräsentieren weit mehr Wähler als Rajoys
Partido Popular (PP) und die rechtsliberalen Ciudadanos (Cs). Und sie
werden dort gewählt, wo PP und Cs kaum Stimmen holen: in der Peripherie.
Ihr Spanien ist die Vielfalt. Es ist eine zersplitterte, oft zerstritten
Mehrheit, doch wenn sie aus der Not zum Dialog eine Tugend macht, kann
Sánchez regieren und wichtige Probleme angehen.
Der Druck ist groß. Denn ihr gegenüber steht das Bündnis aus PP und Cs, das
eine harte, unerbittliche Opposition angekündigt hat. Die beiden eint ein
Bild von einem Spanien, das nicht Realität widerspiegelt. Ihr Spanien ist
„einheitlich und groß“, wie einst das der Franco-Diktatur. Unterschiede in
der Kultur, Sprache und, ja, auch der nationalen Identität sind für die
beiden rechten Parteien nur lästige Folklore. Die eigenen Sprache der
Katalanen, der Basken, der Galicier sind ihnen ein Dorn im Auge. Die letzte
Bildungsreform der Konservativen versucht, ihren Einfluss zurückzudrängen.
Vor allem Cs lebt von diesem Konflikt, seit die Partei vergangenen Dezember
stärkste Kraft im katalanischen Parlament wurden und auch spanienweit in
den Umfragen steigt. Härter noch als die PP wettern sie gegen Sánchez. Er
habe das Land an die verkauft, die „Spanien zerstören wollen“.
## Justiz statt Politik
Der Politikstil der Rechten ist zutiefst autoritär. In den Jahren des
Katalonienkonflikts gab es weder von der PP in Madrid noch von der in
Katalonien starken Cs den geringsten Versuch, einen Dialog mit den
Befürwortern der Unabhängigkeit zu führen. Statt Politik zu machen, nutzte
Rajoy die Justiz. Das Ergebnis: sieben katalanische Exminister und zwei
Aktivisten sitzen in Untersuchungshaft. Sieben Politiker, darunter der
ehemalige Chef der Regierung, der Generalitat, Carles Puigdemont, haben
Spanien verlassen. Allen drohen jahrzehntelange Haftstrafen. Die
Separatisten sind nicht die Einzigen, die zu spüren bekamen, dass, wer
anders ist, mit dem Schlimmsten rechnen muss. Auch Puppenspieler, Rapper
und Twitteraktivisten wurden mithilfe eigens geschaffener
Sicherheitsgesetze kriminalisiert.
In den Monaten seit dem umstrittenen Unabhängigkeitsreferendum in
Katalonien am vergangenen 1. Oktober ist es schwierig, außerhalb der
Regionen mit eigener Sprache und Kultur eine andere Meinung als die von PP
und Cs offen auszusprechen. Nur die linksalternative Podemos tritt unbeirrt
für eine Vermittlung ein und muss dafür bei Umfragen Federn lassen. Sánchez
und die Sozialisten trauten sich bisher nicht. Sie schauen auf die
Umfragen, in denen Cs dank ihrer Konfliktbereitschaft und ihres
antiquierten spanischen Nationalismus ständig zulegen. Sánchez gab den
Seinen die Anweisung, die Zwangsverwaltung Kataloniens mithilfe des
Verfassungsartikels 155 zu unterstützen. Er sprach sich bis heute nie gegen
die Inhaftierung der katalanischen Politiker aus.
Jetzt will er, so sein Versprechen, den Dialog suchen. Ihm bleibt nichts
anderes übrig, als auf die katalanische Regierung von Quim Torra zuzugehen.
Ein erster Schritt könnte sein, die Inhaftierten zumindest in heimatnahe
Haftanstalten verlegen zu lassen. Doch ohne eine Reform des spanischen
Föderalismusmodells wird es langfristig keinen Frieden mit den Regionen wie
Katalonien oder auch dem Baskenland geben. Nur wer sich im gemeinsamen Haus
Spanien wohlfühlt, wird von den Unabhängigkeitsbestrebungen ablassen. Zum
Bleiben zwingen lässt sich niemand gerne.
## Patriotismus-Wettkampf
Es steht zu befürchten, dass PP und Cs jetzt aus der Opposition heraus das
Thema Katalonien noch weiter strapazieren und ein Wettkampf darum
ausbricht, wer der größere spanische Patriot ist. Sie können auf die
Unterstützung durch einen Großteil der Medien und der wichtigsten
Unternehmen des Landes setzen. Von der ersten Minute an muss sich Sánchez
vorwerfen lassen, er habe „dunkle Abkommen“ mit den „Feinden Spaniens
geschlossen“. Um diese erdrückende Hegemonie der Rechten in der
Katalonienfrage – oder besser gesagt: der Frage Spaniens – zu brechen, muss
Sánchez Mehrheiten beschaffen.
Nichts hat die Menschen in Spanien so aufgebracht wie die Sparpolitik. Es
ist richtig, dass Spanien die Krise überwunden hat, wie Rajoy immer wieder
stolz beteuerte. Zumindest bei den makroökonomischen Daten. Doch bei den
Menschen kommt davon nichts an. Die Arbeitsverhältnisse und die Löhne sind
dank einer Arbeitsmarktreform prekärer denn je. 1,2 Millionen Arbeitslose
erhalten keine Stütze, täglich werden 100 Wohnungen zwangsgeräumt, die
Warteschlangen bei der Gesundheitsversorgung werden immer länger, bei der
Bildung fehlt es an allem, von Lehrern über Material bis hin zu
Unterstützung sozial schwacher Schüler. Gleichzeitig verschwanden
Milliarden von Euro in der Korruption.
Die Empörung darüber ist einer der Hauptgründe, warum so viele Menschen
politikverdrossen sind. Sowohl die Separatisten als auch die, die den
ganzen Tag die spanische Fahne schwenken, machen sich dies zunutze. Nur
wenn Sánchez mit den versprochenen „sozialen Dringlichkeitsmaßnahmen“
Erfolg hat, kann er Vertrauen in seine Politik schaffen. Dies würde ihm den
Spielraum für kreative Ansätze bei so schwierigen Fragen wie Katalonien
geben. Politik muss begeistern, um von der Mehrheit der Bevölkerung wieder
als die ihre begriffen zu werden.
5 Jun 2018
## AUTOREN
Reiner Wandler
## TAGS
Spanien
Mariano Rajoy
Pedro Sánchez
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