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# taz.de -- Umgang mit Hausbesetzungen: Der Fall der Berliner Linie
> Die Pfingst-Besetzungen setzen den Berliner Senat unter Druck. Kippt
> jetzt die Vorgabe, Häuser binnen 24 Stunden zu räumen?
Bild: Martialisch: Polizisten bei der Räumung der Mainzer Straße 1990
Berlin taz | Selten hat sich eine radikale Protestform solch einer
Beliebtheit erfreut – die Sorge breiter Bevölkerungsschichten angesichts
der Verknappung bezahlbaren Wohnraums hinterlässt offenbar Spuren. Dass
Besetzungen ein legitimes Mittel sind, um auf die Wohnungsnot aufmerksam zu
machen, erkennt inzwischen die Mehrheit aller BerlinerInnen an: 53 Prozent.
Das geht aus einer Forsa-Umfrage hervor, die die Berliner Zeitung in
Auftrag gegeben hat.
Noch deutlicher fällt das Urteil der WählerInnen von Rot-Rot-Grün aus.
Statt unmittelbar räumen zu lassen, bevorzugen sie den Weg des Dialogs.
Besetzungen sollen zunächst geduldet, mit den BesetzerInnen verhandelt
werden. Das fordern 64 Prozent der WählerInnen der Linken, 63 Prozent jener
der Grünen und 45 Prozent der AnhängerInnen der SPD.
Der Senat wird nicht umhinkommen, dies mit einzubeziehen, wenn er sich auf
den künftigen Umgang mit Besetzungen verständigt. Ursprünglich sollte sich
der rot-rot-grüne Koalitionsausschuss bereits an diesem Dienstag mit der
Thematik befassen, nun ist der Termin noch einmal verschoben.
Aus dem Hause der Stadtentwicklungssenatorin Katrin Lompscher (Linke) heißt
es dennoch, es sei klar, dass das Thema Besetzung bald auf der Tagesordnung
stehen werde. Die Frage, die auf dem Tisch liegt: Soll die Berliner Linie
abgeschafft bzw. modifiziert werden oder hält man fest an dem Modell, ein
[1][politisches Problem] auf die Polizei abzuwälzen?
## Das ist die Berliner Linie
Innerhalb von 24 Stunden nach Bekanntwerden einer Besetzung soll eine
Räumung erfolgen, so besagt es die Berliner Linie bisher. Die Regelung ist
nicht in Stein gemeißelt, kein Gesetz, sondern hat den Charakter einer
verwaltungsinternen Empfehlung. Sie erschwert aber jene Offenheit, die sich
viele BerlinerInnen wünschen. Auch weil selbst landeseigene
Wohnungsbaugesellschaften die Polizei zur Räumung rufen.
So zuletzt geschehen vor zwei Wochen am Pfingstsonntag, als AktivistInnen
ein leer stehendes Wohnhaus in der Neuköllner Bornsdorfer Straße
[2][besetzt hatten]. Verhandelt wurde zwar, letztlich aber stellte der
Geschäftsführer der Wohnungsbaugesellschaft Stadt & Land einen Strafantrag.
[3][Die Polizei holte 56 BesetzerInnen aus dem Haus].
Auf Anfrage teilte sie mit, dass sie keine „starre 24-Stunden-Frist“
praktiziere, sie aus einer Räumungspflicht aber erst entlassen sei, „wenn
feststeht, dass ein Strafantrag nicht mehr gestellt wird oder nicht mehr
wirksam gestellt werden kann“.
Was wie ein rein repressives Instrument daherkommt, war bei seiner
Installierung 1981 durchaus progressiv gemeint. Die vom damaligen
Regierenden Bürgermeister Hans-Jochen Vogel (SPD) formulierte Berliner
Linie war eine Reaktion auf eine Besetzungswelle, im Zuge deren etwa 165
Häuser in Westberlin besetzt worden waren. Sie beinhaltete zwar die
24-Stunden-Regel gegen Neubesetzungen, sollte aber bereits besetzte Häuser
auch schützen. Diese sollten nur dann geräumt werden, wenn die Eigentümer
Strafanträge stellen und eine zügige Sanierung zusichern. Für 105 Häuser
führte das zu einer Legalisierung.
Der großzügige Teil der Berliner Linie, die vom damaligen Senat auch als
„Berliner Linie der Vernunft“ bezeichnet wurde, kam nur noch ein zweites
Mal zur Anwendung: in der Zeit zwischen Mauerfall und Wiedervereinigung,
als in Ostberlin mehr als 100 Häuser besetzt wurden. Damals beschloss der
Senat, die Berliner Linie ab dem Stichtag 24. Juli 1990 im Osten der Stadt
umzusetzen. Allen bis dahin besetzten Häusern sollten Verträge angeboten
werden.
## Druck auf die Räumungsbefürworter
Weil es seitdem nicht mehr zu Massenbesetzungen kam, ist nur noch der
repressive Teil der Linie übrig geblieben: die schnelle Räumung. Doch
dieses Vorgehen ist auch innerhalb der Regierungsparteien nicht mehr
mehrheitsfähig. Die Befürworter der Räumungspolitik, Bürgermeister Michael
Müller und Innensenator Andreas Geisel (beide SPD), stehen unter Druck.
Zwei Tage nach der beendeten Besetzung in Neukölln fasste der
Landesvorstand der Berliner Linken einen einstimmigen Beschluss: „Die
Räumungen waren falsch.“ Eindeutig positionierte sich die Partei gegen die
Berliner Linie: Dass Innensenator Geisel auf dieser bestanden habe, „hat
die Bemühungen der Vertreter*innen der Senatsverwaltung für
Stadtentwicklung und Wohnen torpediert und eine nachhaltige Lösung
verhindert, die zu diesem Zeitpunkt bereits in greifbarer Nähe schien“.
Linken-Staatssekretär Sebastian Scheel hatte vor Ort mit den BesetzerInnen
verhandelt und fordert, dass die Wohnungsbaugesellschaft und die
AktivistInnen an den Verhandlungstisch zurückkehren.
Katalin Gennburg, Stadtentwicklungsexpertin der Linksfraktion, fordert eine
„neue Berliner Linie der Vernunft“ und die Entkriminalisierung von
Besetzungen. Ähnlich äußerte sich die wohnungspolitische Sprecherin der
Grünen-Fraktion, Katrin Schmidberger.
## Murrende SPD
Am Samstag beschloss der SPD-Landesparteitag: „Die Kritik der
Besetzer*innen an der aktuellen Situation auf dem Wohnungsmarkt teilen
wir.“ Und weiter: „Spekulativer Leerstand, die Umwandlung in
Eigentumswohnungen oder Scheinsanierungen auf Kosten der Mieter*innen
zeigen, dass die Politik viel zu lange eine wachsende Stadt gefeiert hat,
ohne die richtigen Weichen gestellt zu haben.“
Der ehemalige Stadtentwicklungssenator Michael Müller, der mit einem
miserablen Ergebnis bei der Wahl zum Landesvorsitzenden abgestraft wurde,
darf das durchaus als Kritik begreifen. Müller selbst sagte: „Wir können
nicht Polizei und Innensenator alleine lassen, weil uns das Anliegen
sympathisch ist und deshalb die Berliner Linie infrage stellen. Klar ist,
Rechtsbruch ist Rechtsbruch.“
Das sehen viele anders, am ehesten die AktivistInnen der #besetzen-Kampagne
selbst. Sie enterten während des Parteitages die Bühne. Auf ihrem
Transparent forderten sie: „Strafanträge fallen lassen“. Vielleicht bringen
sie auch die Berliner Linie zu Fall.
5 Jun 2018
## LINKS
[1] /Wohnraum-in-Berlin/!5504366/
[2] /Aktivistinnen-besetzen-leeres-Haus/!5507245/
[3] /Hausbesetzungen-in-Berlin/!5507255/
## AUTOREN
Erik Peter
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