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# taz.de -- Lebensmittelverschwendung in Leipzig: Die Essensretter
> Ein Drittel aller Lebensmittel wird weggeworfen. Lokale Initiativen sagen
> der Verschwendung in Leipzig den Kampf an.
Bild: In der Tonne: Diese Lebensmittel konnten nicht gerettet werden
Leipzig taz | Wenn Laura Nordschild und ihre MitstreiterInnen mit den
großen Tragetaschen und Tupperdosen durch die Straßen streifen, haben sie
eine Mission. Es heißt für sie: Lebensmittel retten. In Restaurants,
Imbissen und auf Märkten fragen sie nach übrig gebliebenen Lebensmitteln,
die sonst in der Mülltonne landen würden. Foodsharing Leipzig nennt sich
die Initiative, die dahintersteht. Die gibt es in Leipzig seit Ende 2013.
Momentan sind rund 400 Aktive unterwegs, die sich Foodsaver nennen.
Beim Lebensmittelretten kann jeder mitmachen. Nach drei erfolgreichen
Probeabholungen ist man dabei. Das Prinzip ist einfach: Die Foodsaver holen
Lebensmittel von Betrieben ab, die diese nicht mehr verkaufen können.
Anschließend teilen sie das Essen untereinander auf oder geben es an
Freunde, die Familie, Nachbarn oder soziale Einrichtungen weiter.
Außerdem haben die AktivistInnen noch sieben „Fairteiler“ aufgestellt. Das
sind öffentlich zugängliche Regale, Fahrräder mit Kisten oder Kühlschränke,
aus denen jeder Lebensmittel herausnehmen oder neue hineinlegen kann. Laura
Nordschild koordiniert die Abholung im Leipziger Osten. „Ich kann gar nicht
anders, wenn man sieht, wie viel immer weggeworfen wird“, erzählt die
Studentin.
Tatsächlich sind die Mengen an weggeworfenen Lebensmitteln gigantisch. Die
Bundesregierung spricht auf Anfrage der Fraktion der Grünen von 8 Millionen
Tonnen in Deutschland im Jahr; die Nichtregierungsorganisation WWF misst
gar 18 Millionen Tonnen Lebensmittel, die nicht in den Mägen der
Verbraucher landen. Nach WWF-Angaben entspricht das einem Drittel des
jährlichen Nahrungsmittelverbrauchs in Deutschland.
## Die Verantwortung der VerbraucherInnen
Zehn Millionen Tonnen Lebensmittelmüll seien dabei vermeidbar. Die
restlichen acht Millionen Tonnen entfallen unter anderem auf Ernteverluste.
Die entstehen zum Beispiel durch die breiten Reifen des Traktors, der
kleine Früchte wie Kartoffeln zerquetscht. Nur durch effizientere
Erntetechniken können diese Verluste verringert werden.
Die vermeidbaren 10 Millionen Tonnen hingegen sind nicht nur
überproduzierte Lebensmittel, die nach Ladenschluss noch auf der Theke
liegen und am nächsten Tag nicht mehr frisch sind – für den Löwenanteil bei
der Verschwendung sorgen die EndverbraucherInnen. Fast 40 Prozent der 18
Millionen Tonnen landen im Hausmüll, weil der Hunger beim Wocheneinkauf zu
groß war oder das Mindesthaltbarkeitsdatum falsch interpretiert wird.
„Das Mindesthaltbarkeitsdatum ist grundsätzlich nur eine Empfehlung für die
Beschaffenheit der Lebensmittel, aber keine Aussage darüber, ob das Produkt
noch gut verzehrfähig ist“, erklärt Anna-Maria Engel. Die promovierte
Agrartechnikerin hat das Foodsharing-Netzwerk in Leipzig aufgebaut. „Das
Mindesthaltbarkeitsdatum ist nur eine Garantie des Herstellers, dass das
Produkt noch bis zu diesem Datum die spezifischen Eigenschaften bietet.
Nach Ablauf des Datums können sich Geruch, Farbe, Konsistenz und Mehrwert
des Produkts verändern“, erklärt sie. Anders sei das beim Verbrauchsdatum,
das auf schnell verderblichen Lebensmitteln wie Fisch oder Fleisch zu
finden ist. „Wenn das Verbrauchsdatum überschritten ist, sollte man das
Produkt nicht mehr essen.“
Engel koordiniert innerhalb Sachsens den Austausch zwischen den Foodsavern
und den Betrieben, die überschüssige Lebensmittel zur kostenlosen Abholung
anbieten. Der größte Kooperationspartner ist die Kaufland-Filiale in
Lindenau. Dort schauen die Foodsaver dreimal pro Woche vorbei. „Bei anderen
Ketten schaffen wir die Abholung logistisch nicht. Meistens sind wir mit
dem Fahrrad unterwegs. Außerdem werfen große Ketten so viel weg, dass wir
die Reste nicht mal unter uns im Freundeskreis aufteilen könnten“,
berichtet sie.
Mit den Tafeln steht Foodsharing Leipzig nicht in Konkurrenz. Ein
Kooperationsvertrag besagt: „Wo die Tafeln abholen, gehen wir nicht
abholen. Manchmal kommt es aber vor, dass selbst die Tafeln zu viel haben.
Dann holen wir auch dort etwas ab“, erzählt Engel.
## Lieber beim Bauer um die Ecke kaufen
Engel koordiniert und organisiert, weil sie glaubt, andere Menschen so für
einen nachhaltigen Lebensstil begeistern zu können. „Das Zweigradziel
können wir nicht mehr erreichen. Dafür müssten wir in zwei Jahren bei null
Treibhausgasemissionen ankommen. Das ist utopisch.“ Trotzdem solle jeder
Einzelne über sein Konsumverhalten nachdenken und zum Beispiel mit einer
möglichst fleischfreien und regionalen Ernährung der klimaschädlichen
industriellen Landwirtschaft entgegenwirken. „Mit der Share-Economy, wie
wir sie leben, kann man durchaus etwas erreichen und Menschen aufwecken“,
glaubt die Aktivistin.
Lokale Initiativen wie Foodsharing Leipzig versuchen den Folgen der
globalen Ernährungspolitik im Kleinen entgegenzuwirken. Wolfram Günther,
Grünen-Abgeordneter im Sächsischen Landtag, möchte die
Lebensmittelverschwendung auf politischer Ebene strukturell bekämpfen. Im
Landtag fordert er die Regierung Kretschmer (CDU) über Anträge dazu auf,
Grundstücke in öffentlicher Hand gezielt an BetriebsgründerInnen zu
verpachten, die ihre landwirtschaftlichen Erzeugnisse regional vertreiben
wollen.
„Wer beim Bauern um die Ecke kauft, der hat ein stärkeres Bewusstsein für
den Wert der landwirtschaftlichen Produktion und wirft weniger weg“, glaubt
Günther. Doch seine Vorschläge stoßen im Landtag auf taube Ohren: „Unsere
Anträge werden in der Regel abgelehnt und überhaupt ist kein großes
Interesse erkennbar, sich hier mit der Notwendigkeit von Veränderungen zu
beschäftigen“, erklärt Günther. Auch von der Bundesregierung erwartet er
keine ernst gemeinten Initiativen gegen die Lebensmittelverschwendung.
„Julia Klöckner will sich als konservative Landwirtschaftsministerin
profilieren“, denkt Günther über die CDU-Bundesministerin.
Für Laura Nordschild und die anderen Foodsaver steht fest: Solange aus
Brüssel, Berlin oder Dresden keine handfesten Gesetze gegen das große
Wegwerfen kommen, werden sie weiter Märkte und Restaurants nach
Lebensmittelresten durchforsten.
7 May 2018
## AUTOREN
Nils Jewko
Manuel Mehlhorn
## TAGS
Schwerpunkt taz Leipzig
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Lebensmittel
Verschwendung
Landwirtschaft
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Konsum
Lebensmittelverschwendung
Obst und Gemüse
Foodsharing
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