# taz.de -- Wissenschaftliche Revolution aus Kiel: „Lebensgemeinschaft mit Ba… | |
> Der Mensch sei kein Individuum, sagt der Kieler Evolutionsbiologe Thomas | |
> Bosch. Er erforscht wie wir mit Mikroorganismen zusammenleben. | |
Bild: Normaler Bestand der Darmbakterien: Escherichia-Bakterien | |
taz: Herr Bosch, was bin ich? | |
Thomas Bosch: Sie sind zu 90 Prozent mikrobiell und noch viel mehr aus | |
Viren bestehend. | |
Auf die Masse bezogen oder auf die Zellanzahl? | |
Wir haben mindestens so viele Bakterienzellen wie unsere eigenen und viel | |
mehr bakterielle als eigene Gene in uns. Das Ganze ist eine | |
Lebensgemeinschaft. | |
Sie haben in einem Essay postuliert, dass man deswegen nicht mehr von dem | |
Menschen als Individuum sprechen könne. | |
Wir haben angefangen mit dem Interesse, fundamentale Prozesse des Lebens zu | |
verstehen. Das tut man am besten reduktionistisch, konzentriert auf einen | |
bestimmten Prozess in einem einfachen System. Revolutioniert wurde das um | |
das Jahr 2000 durch eine technische Neuerung in der Biologie: die | |
Gen-Sequenzierung. | |
Was hat sich dadurch verändert? | |
Wir waren überrascht von der Möglichkeit, Erbinformationen und damit Spuren | |
von Lebewesen quantitativ entdecken zu können. Man konnte bis vor 2000 | |
natürlich auch Erbinformationen gewinnen. Doch allein das Genom unseres | |
sehr einfachen Modellorganismus Hydra zu sequenzieren, hat 20 Millionen | |
Dollar gekostet. Heute machen wir so etwas jeden Tag und es kostet noch ein | |
paar Hundert oder vielleicht ein paar Tausend Dollar. Das hat plötzlich | |
gezeigt, dass die Oberflächen von Menschen, Tieren und Pflanzen ständig | |
besiedelt sind. | |
Das heißt, man hat diese Viecher nicht gesehen, sondern man schließt aus | |
dem Vorhandensein von Genmaterial, dass es sie gibt. | |
Durch nachgeschaltete Methoden wie die Elektronenmikroskopie können wir | |
diese kleinen Organismen heute auch sehen. Aber ursprünglich war das | |
tatsächlich so, dass uns die Sequenzierinformation die Augen geöffnet hat: | |
Ich gebe ein Stück Haut, ein Stück Darm in die Maschine hinein und die kann | |
mir sehr genau sagen: Das ist Erbsubstanz von der Haut, von dem Menschen | |
oder von der Hydra. Diese Analysen zeigten uns: Da ist hundertmal mehr | |
Erbsubstanz von Bakterien dabei als aus dem eigentlichen Gewebe. Am Anfang | |
tut man so etwas ab als Kontamination, aber wenn man sorgfältig arbeitet | |
und immer wieder das Gleiche findet, wird man stutzig. So kam es, dass wir | |
und viele andere gemerkt haben, dass das kein Zufall ist. | |
Sie haben daraus weitreichende Schlüsse gezogen. | |
Wenn das Stückchen Haut oder Fäces, das ich sequenziere – nicht nur von | |
Ihnen oder von mir, sondern von Dutzenden von Menschen – immer wieder | |
ähnliche Muster ergibt, dann muss das stabil mit dem Organismus | |
zusammenhängen. | |
Das heißt, jeder Organismus hat eine eigene Gemeinschaft von | |
Mikroorganismen. | |
Jedes Individuum. Es gilt aber auch, dass jede Tierart ihre spezifische | |
Gemeinschaft von Mikroorganismen hat – ein Mikrobiom. Und wenn Sie heute | |
ins Ausland fliegen und wir würden drei Wochen später Ihr Mikrobiom | |
bestimmen, wäre das leicht anders als heute, weil die Ernährung einen | |
Einfluss hat. Das heißt, es gibt ein Kernmikrobiom, das dynamisch ist und | |
das sich im Laufe unserer Lebenszeit ändert. Bakterien scheinen kausal am | |
Alterungsprozess beteiligt zu sein. Und nicht nur die Oberflächen von | |
Tieren und Pflanzen sind besiedelt: Wenn sie ein Blatt aufschneiden, | |
kriechen da Hunderte und Aberhunderte von Mikroorganismen raus. | |
Leute, die biologische Landwirtschaft betreiben, sprechen ja schon lange | |
davon, dass es auf die Mikroorganismen im Boden ankomme. | |
Bei der Pflanzenzucht wird alles auf die Genetik ausgerichtet. Dabei ist | |
die Genetik nur ein ganz kleiner Teil und die Umwelt, der Boden, die | |
Mikroorganismen im Boden, auf den Blattoberflächen, in den Blättern oder in | |
den Wurzeln sind entscheidend für die Fitness und damit für die | |
Ertragsfähigkeit. | |
Inwiefern beeinflussen diese Mikroorganismen die Pflanzen? | |
Da kommt eine dritte Revolution in der Technik hinzu – neben der | |
Sequenzierung der Erbinformation und dem mikroskopischen Sichtbarmachen: | |
die Fähigkeit, dass wir Organismen heute keimfrei halten können. Das erste, | |
was der Biologe merkt, ist: So etwas gibt es in der Natur nicht. Tiere, die | |
man keimfrei macht, sind in der Physiologie, in der Fitness, im Wachstum, | |
im Verhalten erheblich verändert im Vergleich zu Kontrolltieren. | |
Was heißt das fürs Krankenhaus, einen Raum, den man versucht, keimfrei zu | |
halten? | |
Der Blick der Mikrobiologen war bisher ausschließlich auf Krankheitserreger | |
gerichtet. Wir wissen heute: Es gibt etwa 200 wirkliche Krankheitserreger | |
und Billionen von Bakterien und all die, die mit uns leben, sind gutartig. | |
Das heißt, ein weiterer Paradigmenwechsel findet derzeit statt: Wir lassen | |
die pathogenen Mikroben als Ausnahme zwar nicht außer Acht, konzentrieren | |
uns aber auf die gutartigen Mikroben, die wir noch gar nicht verstehen. | |
Unsere neue Sicht ist, dass alle unsere Organe mit einer spezifischen | |
Bakterienpopulation besiedelt sind, die wir als einen Filter ansehen, der | |
dafür sorgt, dass Krankheitserreger nur schwer Zugang zum Gewebe haben. Wir | |
wissen heute, dass eine Störung des natürlichen Mikrobioms diesen Filter | |
durchlöchert. | |
Das heißt ja, gerade ein Antibiotikum würde mich anfällig machen. | |
Durch jede Antibiotikagabe störe ich dieses Gesamtmikrobiom. Mein Kollege | |
Martin Blaser hat in seinem Buch „Missing Microbes“ deutlich gemacht, was | |
die Zunahme der Antibiotika seit dem Zweiten Weltkrieg für uns bedeutet. Er | |
erklärt damit die vielen neuen Krankheiten: entzündliche Darmerkrankungen, | |
Hauterkrankungen, neurodegenerative Erkrankungen – all diese chronischen | |
Krankheiten lassen sich möglicherweise auf diese Zunahme an Antibiotika | |
zurückführen. Das heißt aber nicht, dass man keine Antibiotika nehmen | |
sollte, wenn man einen wirklichen Krankheitserreger hat. Das heißt nur, man | |
muss sich bewusst sein, was man tut. | |
Welche Rolle spielt dabei mein Immunsystem? | |
Hier findet ein weiterer Paradigmenwechsel statt. Bis 2013 galt die | |
Vorstellung, das Immunsystem wäre zur Abwehr von Krankheiten da. Heute | |
wissen wir, dass es dazu da ist, diese gutartigen Mikroben in einer | |
bestimmten Zusammensetzung zu halten. Es gibt viel zu wenige | |
Krankheitskeime, als dass man erklären könnte, warum selbst so einfache | |
Organismen wie die Hydra 30 Prozent ihrer gesamten aktiven Gene für eine | |
Armada an Immunmolekülen einsetzen. So sind wir zu der These gekommen, dass | |
das Immunsystem der wesentliche Gestalter dieses Metaorganismus aus dem | |
Wirt und seiner Mikrobenpopulation ist. | |
Ist das in der Medizin angekommen? | |
Die Dermatologie weiß sehr genau, dass ein gestörtes Mikrobiom fatale | |
Konsequenzen hat. In vielen Fällen ist die Kausalität aber noch nicht | |
wirklich klar. Wir ahnen die kausale Rolle des Mikrobioms bei entzündlichen | |
Darmerkrankungen, weil es eine seltsame, aber sehr erfolgreiche Therapie | |
gibt: die fäkale mikrobielle Transplantation. Man nimmt den Stuhl eines | |
sogenannten gesunden Spenders und injiziert ihn in den Darm des Patienten. | |
In vielen Fällen führt das zu einer Linderung seiner Symptome. Und weil wir | |
wissen, dass das Einzige, was im Stuhl wirklich drin ist, Bruchstücke, | |
Komponenten oder Stoffwechselprodukte von Bakterien sind, ahnen wir, dass | |
ein Ungleichgewicht hier zu diesem Krankheitsbild führt. | |
Das heißt, es sind gar keine Bakterien im Darm? | |
Doch, es gibt jede Menge davon. Diese Bakterien verdauen unsere Nahrung und | |
sondern Stoffwechselprodukte ab. Diese kleinen abgesonderten Moleküle sind | |
wesentlich an der Kommunikation mit unseren Darmzellen, vermutlich auch mit | |
unseren Hautzellen und – ganz spannend – mit unseren Nervenzellen | |
beteiligt. Wir haben vor Kurzem gezeigt, dass die Darmperistaltik, das | |
unbewusste rhythmische Zusammenziehen des Darms, beeinflusst wird von den | |
Bakterien. Wenn wir die Bakterien wegnehmen, hört die rhythmische | |
Periodizität der Darmpumpen auf. Und wenn wir sie wieder dazugeben, kommt | |
das wieder. Selbst wenn wir Extrakte von Bakterien zugeben, können wir | |
diesen Effekt retten. | |
Wie haben Sie das festgestellt? | |
Im Tierversuch mit keimfreien Süßwasserpolypen. Dass die Abwesenheit von | |
Bakterien im Darm zu diesen Rhythmusstörungen führt, beweist uns, dass es | |
eine direkte Kommunikation zum Nervensystem gibt. Andere Kollegen haben | |
gezeigt, dass sich keimfreie Mäuse in puncto Ängstlichkeit völlig anders | |
verhalten als normale Mäuse. Wir können dieses Verhalten manipulieren, | |
indem wir in den Mäusen Bakterien zurückgeben. | |
Von wegen „alles nur Elektrik …“ | |
Für Biologen ergibt sich ein ganz neues logisches Bild von Lebensprozessen. | |
Diese funktionieren ganz eng getaktet mit vielen, vielen anderen | |
Organismen. Die ersten vielzelligen Organismen sind vielleicht 450 | |
Millionen Jahre alt. 3,5 Milliarden Jahre vorher gab es schon ein komplexes | |
Netzwerk von Bakterien und Viren. Die haben all das schon gelernt, was wir | |
jetzt auch können: Sie haben gelernt, miteinander zu reden, sie haben | |
Moleküle, sie versuchen einander auszustechen oder arbeiten zusammen. Auf | |
diesem Biofilm haben sich komplexe Lebensformen wie vielzellige Tiere und | |
Pflanzen entwickelt. Dass die Lebensprozesse ohne diese Mikroorganismen | |
nicht ablaufen, war uns vor zehn Jahren nicht bewusst. | |
3 Jun 2018 | |
## AUTOREN | |
Gernot Knödler | |
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