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# taz.de -- Markus Söders neueste Idee: Lass mal über Werte reden
> Bayerns Ministerpräsident will Wertekunde-Unterricht für Kinder aus
> Migrantenfamilien. Keine schlechte Idee – und zwar am besten für alle.
Bild: Welche Werte repräsentiert diese 50er-Jahre-Puppenschule?
Es vergeht kaum mehr ein Morgen, an dem keiner unserer liebsten mittelalten
weißen Männer etwas im wahrsten Sinne des Wortes Aufregendes sagt. Jetzt
will der bayerische Ministerpräsident Markus Söder die ohnehin schon vom
Stigma-Stempel „Migrationshintergrund“ gebrandmarkten Kinder von
Zugewanderten in deutscher Wertekunde unterrichten. Im [1][Interview mit
der Bild am Sonntag (BamS)] sagte Söder: „Wir führen sogenannte
Deutschklassen ein. Dort wird Kindern und Jugendlichen aus
Zuwandererfamilien intensiv Deutsch vermittelt, aber gleichzeitig auch
Wertekunde. Nur diejenigen Schüler kommen dann in den Regelunterricht, die
unsere Sprache sprechen und unsere Werte verstehen.“
Erster Gedanke: Völliger Blödsinn. Mal ganz davon abgesehen, dass allein
Söders Hinweis auf das Sprechen „unserer Sprache“ (Hochdeutsch oder
Bairisch?) in Zeiten von Multilingualität und einer sich ständig
verändernden Sprachlandschaft undifferenziert daherkommt, bleibt diese
Forderung ein trauriges Symptom unseres Integrationsverständnisses. Die
klare Botschaft: Integration ist eigentlich mehr so Assimilation, denn ihr
(die anderen) müsst unsere Werte (meins, meins, meins!) erst noch in der
Schule lernen.
Man stelle sich die Szene auf dem Schulhof vor: Valentin (7) und
Sophie-Helene (fast 8) wissen von kartoffeldeutschem Haus aus
logischerweise schon alles über „unsere“ Werte und dürfen sich deshalb
Bruchrechnung, englischen Vokabellisten und somit dem direkten Weg zum
Abitur widmen. Maja (auch fast 8) und Esra (wirklich schon 8) müssen leider
noch in den Werte-Förderunterricht, denn Ethik ist außerhalb des Westens
nirgends je angekommen. Eine Grundschul-Dystopie, die Kinder aus
Migrantenfamilien ungeachtet von Milieuzugehörigkeit in einen Topf wirft,
ihnen noch einen fetten Stein mehr in den Weg legt und von früh auf
vermittelt: Wir sind schlauer als ihr – und nur ihr habt Aufholbedarf.
Jetzt könnte dieser neueste Söder’sche Gedankenerguss aber auch etwas Gutes
sein; nämlich Anlass zu einer Debatte darüber, welche Werte wir allen
Schülerinnen und Schülern in diesem Land vermitteln wollen.
Markus Söder (schon 51) verspricht sich vom Wertekunde-Unterricht für
Migranten, dass dieser Intoleranz und Antisemitismus vorbeugen kann. Aber
Intoleranz und Antisemitismus gehen uns alle an, ebenso wie Rassismus,
Sexismus oder Homophobie. Strukturelle Diskriminierung ist unser tagtäglich
selbstgemachtes Systemproblem: Herr Weber bekommt die Wohnung oft eher als
Herr Truong, der Mann den Job eher als die Frau, „schwul“ und „behindert�…
gelten allzu oft noch als Beleidigungen. Skandalös ist auch die bis heute
anhaltende Unsichtbarkeit deutscher Kolonialgeschichte, die fehlende
Aufarbeitung von Verbrechen und Ausbeutung unter deutscher Fahne und somit
auch das Fehlen einer postkolonialen Perspektive im Schulsystem.
## Keine Utopie
Was, wenn in der Schule, ungeachtet von Reisepass und Religion, Diversität
gelehrt würde, anstelle des klassischen Duos Toleranz (Deckwort für „Ich
bin privilegierter, also erlaube ich“) und Anpassung? Klingt fast
romantisch, ist aber keine Utopie, sondern bildungspolitisch umsetzbar.
Es ist eine Chance, dass Kinder diverser Herkunftsgeschichte neue
Perspektiven zur Frage einbringen, in welchem Deutschland wir – und zwar
wir alle – gut und gerne leben wollen. Valentin und Esra könnten im
gemeinsamen Fach Wertekunde wahrscheinlich deutlich mehr voneinander
lernen, als Söder so glaubt.
Eigentlich sagt er es ja selbst, vielleicht ohne es zu verstehen: „Bayern
ist christlich-abendländisch geprägt mit jüdischen und humanistischen
Wurzeln.“ Die Wurzeln unserer Werte liegen, noch vor jeglichen religiösen
Überzeugungen, in der Humanität und den Menschenrechten. Beides ist wichtig
genug, um alle mindestens ein Mal darin zu unterrichten, sei es in der
Schule oder im Rahmen einer verpflichtenden Weiterbildung für
Berufspolitiker.
10 Apr 2018
## LINKS
[1] https://www.bild.de/politik/inland/markus-soeder/wir-brauchen-deutschklasse…
## AUTOREN
Lin Hierse
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Schwerpunkt Flucht
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Lesestück Meinung und Analyse
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