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# taz.de -- Samische Minderheit Schwedens im Film: Was für Lappen
> Die Regisseurin Amanda Kernell bietet einen sensiblen Blick auf die
> Diskriminierung der Samen. Der Film ist ein packendes
> Coming-of-Age-Drama.
Bild: Die widerspenstige Samin: Elle Marja (Cecilia Sparrok)
„Ihr seid Lappen genau wie ich“, schreit das samische Mädchen verzweifelt,
festgehalten von vier schwedischen Halbwüchsigen, bis einer der Jungen ihr
mit ihrem eigenen Messer ein Stück Ohr herausgeschnitten hat. Es ist
eigentlich ein Ritual der Samen, um ihre Rentiere zu markieren, daher
könnte die Herabsetzung für einen Ureinwohner Lapplands größer nicht sein.
„Jetzt stinken meine Hände auch“, stellt der Junge nur verächtlich fest,
als er endlich von dem Mädchen ablässt, das daraufhin eine einsame
Entscheidung trifft: sie will keine Sámi mehr sein. Die Szene beruht auf
einem authentischen Ereignis, das die Autorenfilmerin Amanda Kernell in
ihrem Spielfilmdebüt „Sameblod“ (Das Mädchen aus dem Norden) in Szene
gesetzt hat. Der Originaltitel und die nicht synchronisierte Fassung
treffen die raue Grundstimmung des Films übrigens viel besser als die
deutsche Version.
Die Zahl der Samen hat sich auch im wirklichen Leben nicht ohne Grund in
den vergangenen Jahrzehnten drastisch verringert. Ihr hartes Leben im hohen
Norden mit Rentierzucht und altertümlichen Traditionen, oft bestaunt und
offen angefeindet von den restlichen Schweden, ist für viele junge Samen
keine Option mehr. Aus sozialer Scham verleugnen sie ihre Herkunft,
verlassen ihre Familien, geben sich neue Namen und nehmen eine andere
Identität an. Offen gesprochen wird jedoch nicht darüber.
Um dieses Tabu zu brechen, erzählt Amanda Kernell einfühlsam in ihrem Film
von dieser kulturellen Abspaltung, die zum Teil ihren eigenen Erfahrungen
entspricht, auch wenn die Haupthandlung in einem Schweden der 1930er Jahre
angesiedelt ist und auch historische Ereignisse verarbeitet. Der Film
entstand aus ihrem 2015 gedrehten und preisgekrönten Kurzfilm „Stoerre
Vaerie“ (Northern Great Mountain), der die Geldgeber von einer
Spielfilmproduktion überzeugte und später Teil des Drehbuchs wurde.
## Vorgeführt wie Zirkuspferde
Es ist die Geschichte der begabten 14-jährigen Elle Marja (Cecilia
Sparrok), einer Sámi, die mit ihrer Schwester Njenna (Erika Sparrok) in
einem Internat für samische Kinder auf ihr Leben als Rentierzüchterin
vorbereitet werden soll. Schnell wird sich die stolze und aufmüpfige Elle
Marja bewusst, dass für sie und ihre MitschülerInnen keine weiterführende
Schule vorgesehen ist, auch wenn die Lehrerin (Hanna Alström) ihr Potenzial
durchaus erkennt.
Vorgeführt wie Zirkuspferde, werden die samischen Kinder in ihrer schweren,
groben Tracht durch das Dorf getrieben und sind Zielscheibe für Pöbeleien.
Höhepunkt der Demütigungen stellt neben dem Schnitt in das Ohr durch die
Nachbarjungen eine rassenbiologische „Schädelvermessung“ dar, die in der
Schule durchgeführt wird.
Offensichtlich als minderwertig betrachtet, werden die Kinder von einem
angereisten Ärzteteam so kalt und herzlos vermessen, dass man sich als
Zuschauer ihrer totalen Entblößung schämen muss. Der Diskriminierung leid,
ergreift Elle Marja die Flucht – zuerst zum verbotenen Tanz ins
Nachbardorf, dann in die große Stadt Uppsala, wohin sie ihrer ersten Liebe
folgt, auch wenn weitere Schmach folgen wird.
Kühle, ruhige Bilder (Kamera: Sophia Olsson und Petrus Sjövik) betonen das
Raue dieses Kampfes um Existenz und Würde inmitten einer kargen Landschaft.
Doch unter der Oberfläche brodeln Gefühle, bei denen kaum mehr als eine
einzige Träne über versteinerte Gesichter rinnt, obwohl der Schmerz
überbordend sein muss. Denn verbunden mit Elle Marjas Entscheidung, eine
schwedische Identität anzunehmen sowie Namen und Tracht abzulegen, ist die
endgültige Verleugnung ihrer Schwester, die ebenso unter der Trennung
leidet wie sie selbst.
## Besetzung ein echter Glücksfall
Erst mit dem Tod der Schwester Jahrzehnte später finden sich die beiden
wieder, unglücklich vereint. Ungelenk geworden, in Stöckelschuhen und
zerrissenen Nylon-Strümpfen kämpft sich die alte Dame Christina (Maj Doris
Rimpi), zu der Elle Marja geworden ist, den alten Hausberg hinauf, um beim
traditionellen Markieren der Kälber zuzusehen, und ist dabei nicht viel
mehr als eine im wahrsten Sinne flüchtige Besucherin. Versöhnung und
Rückkehr sehen anders aus. Wie so oft im skandinavischen Film gelingt es
dabei mit einem konsequenten „underacting“ über ein Kino der Blicke und des
Schweigens in jeder Minute Authentizität herzustellen, bei der ein Hauch
von Schwermut über jedem Bild hängt.
Doch ein Happy End ist für die erst 32-jährige Regisseurin undenkbar, nur
zu gut weiß sie, wovon sie spricht. Als Tochter eines samischen Vaters und
einer schwedischen Mutter war Amanda Kernell zeitlebens ebenso nah dran an
der Rentierzüchter-Familie ihres Vaters wie auf der Flucht davor. Dass ihr
Film funktioniert, ist fast ein kleines Wunder, setzte die Regisseurin mit
kleinstem Budget bei der Hälfte der Darsteller auf samische
Schauspieldebütanten aus dem Umfeld ihrer Familie. Doch das Spiel und die
Geschichte überzeugen in jeder Minute.
Auch wenn in dieser kleinen Gemeinschaft jeder jeden kenne, sei die
Darstellersuche zäh gewesen und habe nicht selten direkt bei den Familien
zu Hause stattgefunden, um überhaupt interessierte Jugendliche zu finden
und das Misstrauen zu zerstreuen, gibt Amanda Kernell in einem Interview
Einblick in die schwierigen Produktionsbedingungen. Das Wagnis, gleich
beide Hauptrollen mit den zwei noch gänzlich unbekannten Schwestern Cecilia
und Erika Sparrok zu besetzen, die das selten gesprochene Südsamisch
beherrschen, kann man im Nachhinein als echten Glücksfall bezeichnen.
Die Geschichte über die Mechanismen der Ausgrenzung von Minderheiten, den
Mut zur Rebellion und ihre lebenslange Brandmarkung in einer westlichen
Gesellschaft funktioniert als universelles Drama ebenso wie als zeitlose
Coming-of-Age-Geschichte. Ein beeindruckendes Spielfilmdebüt!
5 Apr 2018
## AUTOREN
Morticia Zschiesche
## TAGS
Film
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