# taz.de -- Berlin und der Babyboom: „Nicht nach dem Gießkannenprinzip“ | |
> Staatssekretär Boris Velter (SPD) über die Gesundheitspolitik in der | |
> wachsenden Stadt, über fehlende Kreißsäle und Hebammen – und | |
> Investitionen. | |
Bild: Streik von PflegerInnen der Charité für mehr Personal | |
Herr Velter, Berlin wächst und erlebt gerade einen kleinen Babyboom. Es | |
häufen sich Berichte von Schwangeren, die auf überfüllte Kreißsäle stoßen. | |
Braucht die Stadt mehr Kreißsäle? | |
Boris Velter: Ja, aber punktuell. Denn es gibt nicht überall die gleiche | |
Auslastung. | |
Können Krankenhäuser einfach mehr Kreißsäle aufmachen? | |
Es ist kompliziert. Wir legen vonseiten der Senatsverwaltung für Gesundheit | |
zwar die Anzahl der Betten in der Frauenheilkunde und der Kinderheilkunde | |
fest. Es ist aber den Krankenhäusern überlassen, wie sie mit den Kreißsälen | |
umgehen. Das ist ein Problem. Wir sind derzeit im Dialog mit jedem | |
einzelnen Krankenhaus: Wie sie räumliche Möglichkeiten schaffen können, | |
Kreißsäle zu erweitern, wie sie Personalfragen lösen können. Denn es nutzt | |
ja nichts, einen Kreißsaal zu haben, aber kein Personal dafür. | |
Die fehlenden Hebammen … | |
Genau, es hängt alles mit allem zusammen. Wir sind da dran. | |
Gesundheitssenatorin Dilek Kolat hat schon im vergangenen Jahr einen runden | |
Tisch Geburtshilfe mit rund 50 Vertreterinnen und Vertretern von Eltern, | |
Geburtskliniken, Hebammen, Krankenkassen, Ausbildungsstätten, Ärzten und | |
Verwaltung initiiert, der im Februar ein Aktionsprogramm für eine sichere | |
und gute Geburt verabschiedet hat. Da geht es unter anderem darum, dass die | |
Hebammenschulen ihre Ausbildungskapazitäten bis 2020 von derzeit 202 auf | |
332 Ausbildungsplätze erhöhen und wir bessere Arbeitsbedingungen für | |
Hebammen schaffen. Außerdem werden wir 20 Millionen Euro in den Ausbau von | |
Kreißsälen investieren. Am Ende des Jahres wird es mehr Kreißsäle geben als | |
2017. | |
Kommen wir mal auf die Bettenanzahl zu sprechen, die durch den | |
Krankenhausplan vorgegeben ist. Gilt da: mehr Menschen, mehr Betten? | |
Nein. In der wachsenden Stadt reden wir zwar nicht über Schließungen, | |
sondern eher über Erweiterungen. Aber die große Herausforderung ist, nicht | |
mit der Gießkanne herumzulaufen: Jeder kriegt jetzt drei Betten mehr. | |
Sondern trotzdem auf die Auslastung der Fachgebiete und die Qualität zu | |
achten. Wo eine gute Versorgung für Patienten und Patientinnen geleistet | |
wird, müssen mehr Betten hin. Im Vergleich zu Regionen mit abnehmender | |
Bevölkerung, wo man das Problem hat, in der Fläche überhaupt noch ein | |
Krankenhaus aufrecht zu erhalten, sind wir hier in einer guten Situation. | |
In den Krankenhausplänen ist die Anzahl der Betten für fünf Jahre | |
festgeschrieben. Ist das nicht ein unflexibles Modell? | |
Wir arbeiten auf der Basis von Prognosen zur Bevölkerungsentwicklung. | |
Bislang haben wir den prognostizierten Bereich nicht verlassen. Allerdings | |
sind noch nicht alle Betten realisiert, die für 2016 geplant wurden. | |
Beispielsweise sind im Jahr 2017 in der Geriatrie rund 200 Betten noch | |
nicht in Betrieb genommen worden. Auch in den psychiatrischen Fachgebieten | |
sind insgesamt in ähnlicher Größenordnung noch Betten aufzubauen. Zum Teil | |
warten die Krankenhäuser noch auf die Genehmigung eines Anbaus. 2020 gibt | |
es den nächsten großen Plan, erstmals auch mit Brandenburg zusammen. | |
Grundsätzlich gibt es aber die Möglichkeit der Einzelfallentscheidungen im | |
Rahmen des Krankenhausplans. Das beabsichtigen wir auch dieses Jahr zu tun, | |
wir werden Anpassungen vornehmen. | |
Welche Bereiche betrifft das? | |
Den Bereich der Neonatologie, mehr Geburten heißt ja leider auch mehr | |
komplizierte Geburten und mehr kranke Kleinkinder. Das heißt, man braucht | |
entsprechende Frühchenstationen, wo sie optimal versorgt werden Bei der | |
Versorgung der Älteren werden wir beobachten, wie sich der schrittweise | |
Aufbau von bereits geplanten geriatrischen Betten auf die Auslastungszahlen | |
auswirkt. | |
Zur Planung gehören ja auch Finanzen: Die Berliner Krankenhausgesellschaft | |
kritisiert, dass das Land zu wenig in die Sanierung von Gebäuden | |
investiert, dass selbst die im Doppelhaushalt festgelegte Summe nicht | |
ausreichend wäre. Sehen Sie das auch so? | |
Jeder Gesundheitspolitiker oder jeder, der in diesem Bereich Verantwortung | |
trägt, würde sich mehr Investitionen wünschen, auch einen Abbau des | |
Investitionsstaus in der Vergangenheit. Das kann aber objektiv nicht | |
geleistet werden. Aber ich freue mich, dass es im zweistelligen | |
Millionenbereich Zuwächse gibt. | |
Sie sagen, mehr Investitionen wären objektiv nicht leistbar. Zeigt sich | |
darin nicht das Versagen einer langjährigen Entwicklung im | |
Gesundheitsbereich? In Berlin wurden Krankenhäuser privatisiert, | |
geschlossen oder zusammengelegt. Kann man da nicht mehr gegensteuern? | |
Man muss irgendwann das ganz große Rad drehen, das ist so. Aber was | |
interessant ist: Die Gesundheitsministerkonferenz, also die Konferenz aller | |
Gesundheitsminister aller Bundesländer, hat einstimmig beschlossen, dass | |
der Bund sich bei den Investitionen mit einem Bundesprogramm beteiligen | |
soll. Die sehen also, dass es da Bedarfe gibt. Heute sind die Länder für | |
die Investitionen zuständig und die Krankenkassen für die Betriebskosten. | |
Diese Konstruktion führt in allen Bundesländern zu einer Unterfinanzierung | |
im Bereich der Investitionen. Die Krankenhäuser müssen also selbst gucken, | |
wo sie das Geld herbekommen, um Investitionen tätigen zu können. Eine neue | |
Bundesregierung muss diese Situation ändern, man kann die Krankenhäuser | |
nicht alleine lassen. | |
Der Ärztekammerpräsident Günter Jonitz beklagt, dass aus Krankenhäusern | |
Gesundheitsfabriken gemacht wurden. Würden Sie dem zustimmen? | |
In Krankenhäusern arbeiten Menschen am Menschen, das ist keine Fabrik. | |
Natürlich gibt es riesige Baustellen und ökonomische Zwänge, da muss man | |
dran arbeiten. Im Übrigen ist auf Bundesebene verabredet, dass die Pflege | |
künftig neben den Fallpauschalen bezahlt wird. Das wird die Situation | |
entscheidend verändern. Aber dass sich alle Akteure des Gesundheitswesens | |
wirtschaftlich verhalten müssen, ist für mich selbstverständlich. | |
Was ist denn daran selbstverständlich? | |
Wir zwingen 72 Millionen Menschen, in ein solidarisches System einzuzahlen. | |
Daraus leitet sich eine Verpflichtung des Staates und aller Akteure ab, mit | |
diesem Geld ordentlich umzugehen. Wir sprechen von dreistelligen | |
Milliardenbeträgen. Die Beiträge, die wir alle monatlich zahlen, dürfen | |
nicht wie in einem Selbstbedienungsladen einfach herausgenommen werden, | |
sonst zahlen wir ja gleich das Doppelte oder Dreifache. | |
Aber mit der Kritik von Günter Jonitz sind doch eher solche Situationen | |
gemeint: Man geht in die Notaufnahme, die ist überfüllt, die Ärzte sind | |
überlastet und am Ende wartet ein Patient mit Schmerzen stundenlang, bis er | |
behandelt wird. Gesundheit ist doch ein sensibler Bereich. Da kann man | |
nicht einfach sagen, ja es gibt ein paar Baustellen, aber eigentlich ist | |
alles gut. | |
Die Notfallversorgung muss man tatsächlich auf Bundes- und Landesebene | |
reformieren. Wir sind da als Land Berlin auch federführend in der | |
Diskussion mit den Bundesländern und haben Verbesserungsvorschläge. Die | |
ambulante Notfallversorgung wird nicht so in Anspruch genommen, wie wir uns | |
das wünschen würden. | |
Wie meinen Sie das? | |
Neun von zehn Kindern, die in der Notaufnahme landen, werden danach wieder | |
ambulant weiterversorgt. Das heißt, viele müssten gar nicht ins | |
Krankenhaus. Und auch viele Erwachsene, die kommen, könnten ambulant | |
behandelt, also erst mal vom Haus- oder Facharzt angeguckt werden. Aber | |
manche kriegen vielleicht keinen Arzttermin und gehen dann ins Krankenhaus. | |
Man muss die Notaufnahmen neu organisieren. Eigentlich bräuchte man eine | |
„fast lane“, wo dann Fälle landen, wo es primär darum geht, ein Medikament | |
zu verschreiben oder Sicherheit zu geben, damit die schnell wieder raus | |
sind aus der Notaufnahme. | |
Das ginge ja nur mit mehr Personal. | |
Ja und nein. Berlin ist da sogar Vorreiter: In den Notaufnahmen waren wir | |
das erste Bundesland, das Vorgaben beim Personal gemacht hat. Aber es ist | |
auch eine Organisationsfrage. Trotzdem: Die Notfallversorgung ist eine | |
große Baustelle. Die Länder sollten da die Kompetenz bekommen, abzuweichen | |
von dem jetzigen Versorgungsauftrag. Ich hätte auch keine Angst davor, mehr | |
Verantwortung in der politischen Steuerung zu tragen. | |
Was heißt das konkret? | |
Ich wünsche mir einfach die Freiheit, die Notfallversorgung lokal so zu | |
lösen, wie es am sinnvollsten ist. | |
Wie ist es denn jetzt? | |
Es gibt starre gesetzliche Vorgaben: Die ambulante Notfallversorgung muss | |
die Kassenärztliche Vereinigung (KV) organisieren, dann gibt es die | |
Notfallversorgung in den Krankenhäusern, aber da landen dann ganz viele | |
Fälle, die im KV-Bereich zu versorgen wären. | |
Und was schwebt Ihnen vor? | |
Es gibt ja das Bund-Länder-Programm Soziale Stadt. So etwas wäre auch schön | |
im Gesundheitsbereich. Es gibt tolle lokale Angebote von motivierten | |
Ärzten, zum Beispiel im Neuköllner Rollbergkiez. Die erzählen, dass bei | |
ihnen in der Praxis nicht nur medizinische Fälle landen, sondern auch viele | |
soziale Fragen auftauchen. Wie gehe ich mit dem Jobcenter um, die Miete | |
geht hoch, ich komme mit den Kindern nicht klar und so weiter. Deshalb | |
möchte dieses Kollektiv ein umfassenderes Angebot schaffen. Sie wollen ein | |
Medizinisches Versorgungszentrum aufbauen, aber es soll auch Sozialarbeit, | |
andere Unterstützungsangebote bis hin zu Dolmetschern geben. Also auch | |
nichtmedizinische Hilfsangebote, um den Gesundheitszustand der Menschen im | |
Kiez zu verbessern. Dahin könnte die Reise gehen. Dass man mehr Lösungen | |
vor Ort findet, aber der Sozialstaat den Kommunen das Geld zur Verfügung | |
stellt. | |
Sie haben ja vor Ihrer Zeit als Staatssekretär viel auf Bundesebene | |
mitgewirkt. Hat das Ihre Perspektive verändert? | |
Aus dieser Perspektive betrachtet ist es erstaunlich, wie lange es dauert, | |
bis gesundheitspolitische Entscheidungen auf Bundesebene in der | |
Versorgungsrealität ankommen. Man muss da stringentere Vorgaben machen, das | |
Problem sind nicht die Landesministerien, sondern die Macht der Akteure. | |
Das klingt irgendwie diffus. | |
Ganz konkret: Der Staat müsste stärker in die Zulassung von Ärzten mit | |
reingehen. Jetzt ist die Situation so, dass Ärzte und Krankenkassen unter | |
sich verabreden, wo sich wer niederlassen kann. Das führt dann bis heute zu | |
einer Kumulation. Wo viele Privatpatienten sind, da lassen sich viele Ärzte | |
nieder. In den Wedding geht aber kaum jemand. Da muss es klarere Vorgaben | |
geben. Und auch was die Transparenz angeht: Als Land oder Bezirk haben wir | |
derzeit keinen Überblick über grundlegende Daten, etwa, wie viele Ärzte | |
hier eigentlich sind und was sie für Öffnungszeiten haben. Da muss man ewig | |
herumtelefonieren, das ist eine unendliche Black Box. Aber zuallererst muss | |
man die zwei Versicherungssysteme abschaffen. Das ist ein fundamentales | |
Ärgernis. Zwei Versicherungssysteme, die unterschiedlich behandelt werden, | |
weil sie unterschiedlich honoriert werden, das ist einfach skandalös. | |
27 Mar 2018 | |
## AUTOREN | |
Jasmin Kalarickal | |
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