| # taz.de -- Gastbeitrag: die Entwicklung Berlins: Die Schattenseiten des Wachst… | |
| > 2017 sind erneut mehr als 40.000 Menschen nach Berlin gezogen. Das bringt | |
| > viele Probleme mit sich. Der Architekt Robert Kaltenbrunner fordert ein | |
| > radikales Umdenken. | |
| Bild: Berlin wächst, und es wird immer enger: Blick auf's Rote Rathaus | |
| Berlin wächst. Berlin ist attraktiv. Vielleicht nicht so schön wie München, | |
| aber äußerst beliebt bei jungen Zuzüglern aus dem Ausland. Ein Hotspot der | |
| Kreativwirtschaft. In den letzten fünf Jahren wuchs die Stadt um rund eine | |
| Viertelmillion Einwohner. Alleine 2017 kamen mehr als 40.000 neue | |
| Berlinerinnen und Berliner. | |
| Und so feiert sich Berlin selbst als „wachsende Stadt“. Alles prima? Weit | |
| gefehlt. Denn mit dem Bevölkerungswachstum wachsen nicht automatisch die | |
| städtischen Qualitäten. So stehen immer beliebter und teurer werdende | |
| (Innen-)Stadtbezirke einem potenziell verödenden Umland gegenüber. In der | |
| Stadt selbst verlieren einzelne Stadtteile ihre Mischungsqualitäten, etwa | |
| Prenzlauer Berg. Und viele Alteingesessene müssen wegen | |
| Mietpreissteigerungen notgedrungen an die Ränder ausweichen. | |
| Als „Stadt der Transformation“ will Berlin endgültig in die erste Liga der | |
| europäischen Metropolen aufsteigen. Dabei steht es im Spannungsfeld der | |
| Städtekonkurrenz nach wie vor auf einer Randposition, und die anderen gehen | |
| weiter, ohne auf Berlin zu warten. Nichts in der globalen Welt steht still. | |
| Vielmehr geht es heute um noch viel einschneidendere Veränderungen als in | |
| den 1990er Jahren. | |
| Die innerhalb des S-Bahnrings gärende Gentrifizierung, Energiewende und | |
| Klimaziele sowie deren Wechselwirkung zum motorisierten Individualverkehr, | |
| aber auch das vorschnelle Abservieren der Staatsaufgabe Wohnungsbau, die | |
| bislang gescheiterte Integration der Migranten, das Normalwerden von Schul- | |
| und Straßenkriminalität: All das sind Herausforderungen, die ein Umdenken | |
| verlangen. | |
| Gemessen daran freilich kann man in Politik und Verwaltung wenig | |
| Anstrengung erkennen, die Stadtentwicklung aktiv und gemeinwohlorientiert | |
| zu lenken. Eher reagiert man auf das, was an privaten Anforderungen oder | |
| Einwänden der Verbände kommt. Man moderiert. | |
| Wenn man das „wachsende Berlin“ nicht als Zustandsbeschreibung, sondern als | |
| Paradigma begreift – wie es die hiesige Politik offenkundig tut –, dann | |
| wäre auch ein Blick auf dessen Schattenseiten dringend geboten. Man muss | |
| sich der Probleme bewusst werden und mit einigen damit verbundenen Mythen | |
| aufräumen. Hier ein Streiflicht zu fünf Aspekten. | |
| ## Bald Express-Siedlungen? | |
| Über viele Jahrzehnte galt es als ausgemacht, dass Berlin über einen | |
| erklecklichen Eigenbestand an Wohnungen verfügen müsse, um aktiven Einfluss | |
| auf die Entwicklung innerhalb seiner Grenzen ausüben zu können. Doch dieser | |
| Konsens ist seit Ende der 1990er Jahre Geschichte. | |
| Gemeinnützige Wohnungsunternehmen sind privatisiert und große Kontingente | |
| an Sozialwohnungen aufgegeben worden. Zudem mutierten, über die Jahre | |
| hinweg, die städtischen Gesellschaften von aktiven Gestaltern zu | |
| bewahrenden Verwaltern, die das Schwergewicht ihrer Aktivitäten in der | |
| Pflege und Verwaltung ihres hergebrachten Bestandes sahen, nicht im Neubau. | |
| Der Motor des städtischen Wohnungsbaus stottert. Die regulatorischen Hürden | |
| sind in fast allen Bereichen gestiegen und erschweren das Schaffen von | |
| Baurecht. Die Bau- und die Grundstückskosten steigen überproportional. Und | |
| ungeachtet des riesigen Bedarfs an bezahlbaren Wohnungen entstehen neue vor | |
| allem im hochpreisigen Segment der Luxuswohnungen. | |
| Hinzu kommt: Trotz aller Bekenntnisse zu mehr Nutzungsmischung führt die | |
| aktuelle Problemstellung zu einer einseitigen Orientierung auf eine | |
| quantitativ ausgerichtete Wohnungspolitik. Das Resultat werden aller | |
| Voraussicht nach eher monofunktionale und sozial homogene | |
| „Express-Siedlungen“ sein, also genau das Gegenteil von dem, was für eine | |
| sinnvolle urbanistische Perspektive erforderlich ist. | |
| Nach dem historischen Fehler, den Wohnungsbau über lange Zeit sträflich zu | |
| vernachlässigen, droht nun durch kurzatmige Lösungsversuche ein zweiter, | |
| vielleicht noch folgenreicherer Fehler. Denn die lange Lebensdauer von | |
| Gebäuden und urbanen Infrastrukturen führt zu Pfadabhängigkeiten, die auf | |
| lange Sicht kaum zu ändern sind. | |
| ## Bürgerbeteiligung | |
| Mit dem Rückzug der öffentlichen Hand verlagern sich Macht und | |
| Entscheidungsbefugnisse von den politisch legitimierten Organen hin zu | |
| privaten Unternehmen und global agierenden Investoren. Im gleichen Maße | |
| aber steigt offenkundig das Interesse der Menschen an dem, was ihre Stadt | |
| und ihre Umgebung betrifft. | |
| Andererseits erweist sich Partizipation als etwas grundsätzlich | |
| Ambivalentes. Seit Ende der 1970er Jahre ist das zweistufige | |
| Beteiligungsrecht fester Bestandteil unseres Planungsrechts. Das Modell | |
| zeigt allerdings Grenzen, weil es in der Regel fallbezogen und reaktiv ist | |
| und weil der Regelkreis für planerische Handlungsalternativen so definiert | |
| ist, dass übergeordnete Zusammenhänge vernachlässigt werden. | |
| Bürger unterstellen nicht selten eine fehlende Ernsthaftigkeit des | |
| Beteiligungsangebots. Investoren beklagen den zeitlichen – und damit auch | |
| finanziellen – Aufwand der Verfahren, und implizit die Unsicherheit von | |
| dessen Ausgang. Und von fachlicher Seite bestehen oft Vorbehalte wegen der | |
| Qualität der Ergebnisse („Konsens bis zum Nonsens“) beziehungsweise wegen | |
| der Selektivität des Beteiligungsverfahrens („die üblichen Verdächtigen“… | |
| Doch auch Bewohner und Bürger selbst tragen zur unbefriedigenden Situation | |
| bei. Denn ein heute weit verbreitetes Verhaltensmuster ist das | |
| „Not-in-my-back-yard-Syndrom“, das sich auf die simple Abwehr eines als | |
| nachteilig erkannten Planungsvorhabens beschränkt. Gerade sozial besser | |
| gestellte Schichten, die zur Verteidigung ihrer Besitzstände eher in der | |
| Lage sind, vertreten oft eine solche „Nimby“-Haltung. | |
| Einfache Antworten auf diese Problemlage gibt es nicht. Eine offene, | |
| konsensorientierte Planung stößt auf unüberwindliche Grenzen, wenn | |
| machtvolle Interessen im Spiel sind. Sicher ist nur, dass Stadtentwicklung | |
| heute auch eine aktivierende Auseinandersetzung mit Vorstellungen und | |
| Wünschen möglichst vieler Bürger sein sollte. | |
| ## Kreative Stadt für Reiche | |
| Richard Florida ist jener, der all den Stadtpolitikern, | |
| Wirtschaftsförderern und Urbanisten den Kopf verdreht hat mit seiner | |
| Theorie der „Creative Class“, der „kreativen Klasse“. Die hat er zwar n… | |
| erfunden, aber er war es, der dafür gesorgt hat, dass Kreativität zu einem | |
| Schlüsselbegriff der Stadtentwicklung wurde. | |
| Das klingt so schön nach Kunst und Kultur, aber Florida steckte auch | |
| IT-Entwickler, Ingenieure und Rechtsanwälte mit in den Sack. Akademiker | |
| konnten sich nun als Speerspitze des Fortschritts fühlen, und sie sollten | |
| sich wohlfühlen. Ganz schnell wurde das Kreativquartier auch in Berlin zum | |
| Heilsversprechen. Dabei hätte man wissen können, dass man damit zu kurz | |
| springt. Etwa weil die kreative Klasse bei Weitem nicht so mobil ist, wie | |
| ihr unterstellt wird. | |
| Mehr noch: „Die soziale Mischung und Andersartigkeit im Stadtteil ist | |
| oftmals kein Wert, sondern Hindernis für die durch eine flexibilisierte | |
| Ökonomie in der Arbeitswelt zunehmend überforderten Wissens- und | |
| Kulturarbeiter, die sich im Privaten nach der Ruhe und Geborgenheit des | |
| eigenen Milieus sehnen“, sagt der Stadtforscher Kai Vöckler. | |
| Nun wusste die österreichische Zeitschrift derive jüngst zu vermelden, dass | |
| Florida die Scherben seiner 15-jährigen Beratungstätigkeit zusammenkehrt | |
| und einräumt, dass die Kreativstadt Reichtum für wenige bringt und | |
| Verdrängung für viele – steigende Mieten und Lebenskosten, Airbnb- und | |
| Tourismus-Overkill, prekäre Kreativ- und Dienstleistungs-Jobs. | |
| Natürlich sind etwa wissensbasierte Technologien nach wie vor wichtig. Aber | |
| aus ihnen allein Maximen für die Stadtentwicklung abzuleiten ist falsch. Es | |
| kommt darauf an, bezahlbares Wohnen mit den Chancen jener Ökonomien zu | |
| vereinbaren: Wirtschaftsförderung und Sozialpolitik, nicht | |
| Wirtschaftsförderung als Sozialpolitik. | |
| ## Mehr Grün in die Stadt | |
| Das Gerede vom steinernen Berlin war seit jeher Unfug und verstellt den | |
| Blick auf die enormen Grünflächen, die der Stadt Struktur und Anmut | |
| verleihen. Mit den Anwachsen der Bevölkerung um die vorletzte | |
| Jahrhundertwende und einer akuten Wohnungsnot entwickelten | |
| sozialreformerische Städteplaner neue Ideen von der Stadt. | |
| Wegweisend war Martin Wagner, der 1915 über das „Sanitäre Grün der Städte… | |
| promoviert hatte und dafür gefeiert wurde. „Die Spielplätze dürfen von den | |
| Wohnquartieren nicht mehr als 10 Minuten, die Parkanlage nicht mehr als 20 | |
| Minuten, die Sportplätze nicht mehr als 30 Minuten entfernt liegen“, hieß | |
| es dort, und so veränderte Wagner die Stadt, als er in jungen Jahren | |
| Baustadtrat von Schöneberg und 1926 Stadtbaurat von Gesamt-Berlin wurde. | |
| Seine Idee von Berlin war die einer „Stätte glücklicher Arbeit und | |
| glücklicher Muße“. Stadtgärten und Volksparks sollten auch den Bewohnern | |
| der Mietskaserne frische Luft und die Anmut kultivierter Naturräume | |
| zugänglich machen. Zudem waren sie Orte der Begegnung und des offenen | |
| sozialen Austauschs. Doch solche Ansätze sind heute allenfalls noch ein | |
| Desiderat. | |
| ## Für eine neue Bodenpolitik | |
| Weil in Berlin Stadtentwicklungspolitik vor allem Finanzpolitik war, ist | |
| die aktuelle Debatte um die Liegenschaftspolitik überfällig. Die allgemeine | |
| Wahrnehmung ist ja so falsch nicht: Was zählt, ist das schnelle Geld. Und | |
| die internationalen Immobilieninvestoren kennen seit Jahren nur ein Motto | |
| in Berlin: Kaufen! | |
| Der Senat muss endlich eine neue Geschäftsgrundlage dafür schaffen, wie in | |
| Zukunft auf Grund und Boden mehr Einfluss genommen werden kann. Besser | |
| noch: Bodenvorratspolitik betreiben. Nur so kommt man zu den zentralen | |
| Fragen. Was soll wann auf oder mit dieser Fläche geschehen? Wer vergibt | |
| sie, und an wen? Es müssen Verfahren entwickelt und verrechtlicht werden, | |
| die auch soziale, gesellschaftliche und kulturpolitische Gesichtspunkte bei | |
| der Vergabe von Grundstücken berücksichtigen. | |
| Nun wäre es naiv, anzunehmen, dass das einfach ist. Wie wägt man ein | |
| urbanes Gartenprojekt gegen bezahlbaren Wohnraum ab? Wie neue Arbeitsplätze | |
| mit einem Wohnprojekt für schwer erziehbare Jugendliche? Doch es gibt | |
| Vorbilder, Amsterdam etwa mit seinem Erbbauverfahren. | |
| Unreflektiert auf Wachstum zu setzen heißt, dass die Berliner Mischung | |
| verloren geht – und damit ihr ureigenstes Stadtmodell. | |
| 17 Aug 2018 | |
| ## AUTOREN | |
| Robert Kaltenbrunner | |
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| Michael Müller | |
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