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# taz.de -- Flüchtlinge in Mexiko: Moderne Menschenopfer
> Flüchtende in Mexiko finden nur an wenigen Orten Unterstützung. In der
> Zufluchtsstätte „La 72 Hogar“ können sie zur Ruhe kommen.
Bild: Menschen versuchen in der Nacht, auf einen Güterzug aufzuspringen
Jeder Besucher der Ruinen von Palenque in Südmexiko oder der Pyramiden von
Tikal in Guatemala ist entsetzt über den religiösen Brauch der Maya,
Menschen zu opfern, um die Götter zu besänftigen. Wie blutig, wie grausig!
Die Beschreibungen der Reiseführer jagen dem schockierten Touristen Schauer
über den Rücken. Unfassbar, unvorstellbar! Was für eine Bestialität.
Etwa auf halbem Weg zwischen Palenque und Tikal liegt das grenznahe
Städtchen Tenosique und an seinem Rand die Zufluchtsstätte „La 72 Hogar“.
72 ist keine Jahreszahl, keine bürokratische Zuordnung. 72 ist die Zahl der
Leichen nach einem Massaker an Flüchtlingen. Wieso und von wem sie
umgebracht wurden, ist weiterhin nicht aufgeklärt.
In der Kirche dieses Flüchtlingsheims hängen Abbildungen der
identifizierten Opfer um das Kreuz herum wie Antlitze von Märtyrern. Es
wirkt, als wären auch diese 72 Menschen geopfert worden, auf einem Altar
der wirtschaftlichen Sachzwänge und des politischen Zynismus. Die
Schrecken, die uns umgeben, betrachten wir mit abgestumpfter Geduld, im
Gegensatz zu den Schrecken der fernen Vergangenheit.
Fray Tomás, der Priester, der dieses Heim leitet, kennt einige der
Angehörigen. Sie haben sich inzwischen bei Rechtsanwälten und Behörden hoch
verschuldet, um Näheres über das Schicksal ihrer Liebsten zu erfahren. Denn
bisher gibt es keinen einzigen Fall, in dem das Verschwinden eines
Flüchtlings aufgeklärt oder gar der Täter angeklagt worden wäre. Jeder weiß
von einem Verschwundenen zu erzählen. Die vielen Einzelfälle addieren sich
zu einer gewaltigen Dunkelziffer.
Trotz des Mahnmals ist die Herberge ein Trost spendender Ort. Hier wird Not
gelindert, hier können die Flüchtenden kurz durchatmen auf ihrem langen Weg
durch Mexiko hinauf in den gelobten Norden. Nur wenige ziehen schon nach
einigen Tagen weiter, manche beantragen sogar Asyl, jeder Dritte – vor
allem die Familien – bleibt hier, bis der administrative Prozess
abgeschlossen ist. Zudem hat es in den letzten Jahren eine starke Zunahme
unbegleiteter Jugendlicher gegeben. 2016 stellten sie mehr als die Hälfte
der neu registrierten Flüchtlinge. Auch immer mehr Mädchen sind allein
unterwegs. Deren Zahl hat sich in den letzten drei Jahren verdreifacht.
## Gemeinsame Träume
Das Zentrum musste immer wieder anbauen. Es besteht aus einer Vielzahl
unterschiedlicher Gebäude, jedes in einer anderen Farbe, freundlich und
zuversichtlich. Alle Mauern sind bemalt, selbst die Decke, als
Sternenhimmel, lokale Künstler führen die Tradition der murales fort. Die
berühmten Wandmalereien von Diego Rivera zeichneten die Unerbittlichkeit
der Geschichte nach, die als Wiederholung an Orten wie diesem sichtbar
wird. Die Verzweiflung, die Opfer, alles dargestellt auf diesen Wänden, wie
auch die gemeinsamen Träume, die zur Veränderung und Verwandlung führen
könnten, im Gegensatz zu den individuellen Sehnsüchten, die meist
Illusionen bleiben werden.
Besonders eindrücklich ist eine große Karte Mexikos, auf welcher die
Fluchtroute eingezeichnet ist, mit gnadenloser Präzision: die
Eisenbahnlinien, die Wüsten, die Kontrollen: Pistolen stellen Orte der
Gewalt dar, Dollarscheine repräsentieren Zahlzwänge, zum Beispiel das zu
entrichtende Schutzgeld, um auf einen Güterzug aufspringen zu dürfen (man
braucht 700 Dollar, um nach Mexiko-Stadt zu gelangen – die „Illegalen“
müssen viel mehr zahlen als die Legalen, obwohl sie nicht einmal dritter
Klasse reisen).
Flüchtlinge verursachen nicht nur Kosten, wie oft behauptet wird, sie sind
ein nicht zu unterschätzender Wirtschaftsfaktor, eine Einnahmequelle für
eine ganze Industrie, die Fluchtgewinnler. Die Undurchdringlichkeit der
Grenze lässt die Preise entlang der gesamten Route ansteigen. Am alten
Bahnhof von Tenosique ist ein ganzer Stadtteil mit billigen Absteigen und
Lokalen entstanden, hier wirken die polleros (die Schlepper, wortwörtlich:
die Hühnchenrupfer).
„Letzte Woche sind fünfzehn Flüchtlinge an den Gleisen von Gangstern
überfallen worden“, erzählt Fray Tomás. „Einer von ihnen hatte eine Kugel
in der Lunge. Die anderen trugen den Verletzten ins Krankenhaus, dort ist
er gestorben. Sie haben beschlossen, sich nicht aus dem Staub zu machen,
sondern zu bleiben, um Anzeige zu erstatten. Sie fordern vom Staat
Aufklärung, denn ansonsten würden Fälle wie dieser wie immer unter den
Tisch fallen. Ausgestoßene haben sich in soziale Kämpfer verwandelt. Ich
hoffe, dass sich jene, die hier waren, für soziale Veränderung einsetzen
werden, auch in den USA.“
## Ein humanitärer Korridor
Es bedarf, erklärt er, wegen der vielen Gefährdungen entlang des Weges als
Erstes eines humanitären Korridors, um die Flüchtlinge vor Überfällen und
Betrug zu schützen. Kaum einer durchquert Mexiko, immerhin dreitausend
Kilometer, ohne mindestens einmal Gewalt zu erfahren. So ein Anliegen wirkt
gegenwärtig, nicht nur in Zentralamerika, als utopisch. Schon hört man die
Stimmen der Fremdenhasser, man würde dadurch die illegale Migration
befördern.
Fray Tomás zeichnet ein düsteres Panorama der Gegenwart. In Honduras wird
die Lage zunehmend schlimmer, in Guatemala steht den Bewohnern von dreißig
Dörfern ihre Vertreibung durch agroindustrielle Großprojekte bevor (der
Friedensvertrag von 1996 sah zwar eine Landreform vor, aber dazu kam es
nie; weniger als zwei Prozent der Bevölkerung besitzen siebzig Prozent des
Bodens). Auch Mexiko respektiere die Rechte der Flüchtlinge nicht. Es drohe
ein Kollaps der Hilfe, ein Zusammenbrechen der solidarischen Energie, eine
Überforderung der empathischen Kräfte.
Tenosique hat vom Staat den Titel „pueblo magico“ (magisches Dorf)
verliehen bekommen. Ein Titel, der zur tourismuswirksamen Verschönerung
führen soll. Die Folge: sozial Anrüchiges wie etwa Flüchtlinge werden aus
dem Städtchen gedrängt. Das ist der Unterschied zu den Maya: Jene
Geopferten sollen unsichtbar werden.
7 Mar 2018
## AUTOREN
Ilija Trojanow
## TAGS
Migranten
Mexiko
Grenze
Flucht
Schwerpunkt Flucht
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Migration
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Bunker
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Theater
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