# taz.de -- Bühnenpremiere in Hannover: Archetypische Erinnerungsarbeit | |
> Die Inszenierung von Ilja Trojanows „Macht und Widerstand“ ist ein | |
> virtuos gespielter Balanceakt zwischen Distanzierung und Umarmung | |
Bild: Folterer und Opfer, untrennbar biographisch verbunden in „Macht und Wid… | |
HANNOVER taz | Kein Herr ohne Knecht. Auch Macht ist als solche ohne | |
aktiven Widerstand nicht wahrnehmbar, geradezu inexistent – und müsste | |
nicht länger Ohnmacht suggerieren durch eine ausgeklügelte Politik des | |
Angstmachens mittels Überwachen, Bespitzeln, Denunzieren und Wegsperren. | |
Macht und Widerstand halten dialektisch das System am Laufen. | |
Der mit diesem Wortpaar betitelte Roman Ilija Trojanows analysiert das | |
Verhältnis auf dokumentarisch-fiktionale Weise. Aus Recherchen über die | |
äußeren Zerstörungen und inneren Verwüstungen des real existierenden | |
Stalinismus in seinem Geburtsland Bulgarien hat der Autor zwei | |
Repräsentanten dieser Prinzipien gebastelt. | |
Der Erste ist der selbst ernannte Anarchist Konstantin Scheitanow, der in | |
revolutionärer Luntenanzünderlaune eine Stalinstatue sprengte und dafür | |
zehn Jahre lang Arbeitslager, Einzelhaft und Folter erleiden musste. Der | |
Zweite: Metodi Popow, der bei der Geheimpolizei als „Michelangelo des | |
Verhörs“ bekannt war und mit Dissidenten bestückte Gefängnisse verwaltete. | |
Zwei extreme Biografien, zwei exemplarische Produkte totalitärer Staaten: | |
Scheitanow vs. Popow – eine hochdramatische Situation. | |
Die gestaltet Trojanow als minutiöse Gegenüberstellung der jeweils eigenen | |
Sicht der Dinge und füttert sie mit Originalzitaten aus Staatsakten an. | |
Fast 500 Seiten Lesefutter, das Dušan David Pařízek, Regisseur aus dem | |
ähnlich geprägten Tschechien, mit dem aus Bulgarien stammenden Ensemblestar | |
des Deutschen Theaters Berlin, Samuel Finzi, fürs Schauspiel Hannover | |
adaptiert. Nicht dokutheaternd, nicht tränendrückend Staatsterror | |
bebildernd, nicht billig auf Parallelen zur Aufarbeitung der NS- und | |
SED-Geschichte verweisend, sondern als geradezu archetypischen Versuch über | |
Erinnerungsarbeit. | |
Pařízek nutzt das Angebot der Vorlage – und verbindet die Protagonisten mit | |
einer grob gestrickten Rahmenhandlung. Schauspielerin Sarah Franke kümmert | |
sich als Konstantins Nachbarin mitleidig liebend um das Opfer des | |
Unrechtsregimes – und will bei Metodi in Erfahrung bringen, ob er ihr | |
Erzeuger ist. Ihre Mutter, einst politischer Häftling, hatte dies auf dem | |
Totenbett gebeichtet. Aber der Vaterschaftskrimi wird nur angedeutet und | |
das Erlösungsdrama bleibt erfolglos. | |
## Lebenselixier Erinnerung | |
In all den Jahren des Weggesperrtseins hat Konstantins Überlebenswille alle | |
Möglichkeiten wohliger Herzensregung in sich eliminiert. „Ist dir die Liebe | |
auch suspekt?“, wird er in einer Szene atemberaubend unmöglicher | |
Zärtlichkeit gefragt – und antwortet: „Was ist das, das die Menschen Liebe | |
nennen? Ein jeder liebt. Der Folterer, der deinen Kopf gegen die Wand | |
schlägt, liebt seine beiden Engelchen. Der Offizier, der sich | |
kompromittierende Lügen über dich ausdenkt, spielt am Abend liebevoll mit | |
seinem Hund. Alle zehntausend Mitarbeiter des Amts haben jemanden geliebt. | |
Was ist Liebe außer Streben nach emotionalem Komfort?“ | |
Dieses Streben wäre für ihn Verrat an sich selbst: Erinnerung, die | |
Veröffentlichung und damit Anerkennung seiner Vergangenheit ist | |
letztmögliches Lebenselixier. Damit ist er auf seine Art ebenso Produkt des | |
Systems wie Metodi. Dieser benötigt seine Erinnerungen zur | |
Selbstversicherung, an die richtige Sache geglaubt und ihr pflichtschuldig | |
gedient zu haben. Denn auch er hat nichts anderes mehr als dieses Gestern, | |
vegetiert wie Konstantin einsam dahin – finanziert sein leeres Dasein bei | |
einem Sicherheitsdienst, nachdem ihn seine Partei als nützlichen Idioten | |
aussortiert hat. | |
Während Trojanow seine Identifikation mit Konstantin nicht verhehlt, ihn | |
mit elegantem Sprachduktus versieht und als Opfer des gerechten Tuns, als | |
den Guten beschreibt, gibt er Metodi eine recht vulgär geschwätzige Stimme, | |
lässt ihn als Baustein des repressiven System der Böse sein. Markus John | |
beginnt seine Interpretation dieser Rolle zwar als grober Kerl im | |
Unterhemd, zeigt aber schnell, dass Pařízek beide Protagonisten gleich | |
menschlich zeichnen will. So wird John immer leiser, warmherziger, wenn ihn | |
seine potenzielle Tochter mit seiner Vergangenheit konfrontiert. | |
Finzi entwickelt aus geducktem Spiel einen bebenden Idealisten, der bei den | |
Stasi-Archiv-Verwaltern vorspricht: „Ich habe als Observationsobjekt so | |
viele Menschen beschäftigt wie ein mittelständisches Unternehmen, nun | |
möchte ich mich mit ihnen beschäftigen.“ Als er aber seine Personalakte | |
ausgehändigt bekommt, ist es die skelettierte PR-Version – kein Wort über | |
seine Ziele, Motivation, keines über Haft und Folgen. Marginalisierung | |
seiner Person durch Schwärzung von Textstellen, Vernichtung von Dokumenten | |
und eine kafkaesk undurchdringlich erscheinende Bürokratie des Vertuschens. | |
## Keine Aufarbeitung | |
Mit überzeugend beiläufiger Präzision arbeitet die Bühnenfassung das | |
Grundprinzip politischer Wenden heraus: Die alte Nomenklatura macht nach | |
dem Umsturz unter neuer Überschrift weiter. So benannte sich die | |
Bulgarische Kommunistische Partei einfach in Bulgarische Sozialistische | |
Partei um, gab sich ein sozialdemokratisches Outfit, holte die Nato ins | |
Land, öffnete sich der EU, ohne die Macht der alten Kader zu unterminieren. | |
Die natürlich kein Interesse an Aufarbeitung ihrer Folterherrschaft hat und | |
Gesetze erlässt, die Täter vor den Opfern schützen. | |
Da ist Konstantin nur Störenfried, Nestbeschmutzer. Der Versuch, aus einer | |
solchen Geschichte Zukunft, aus eigenen Erfahrungen eine neue Heimat im | |
eigenen Land zu generieren, bleibt den Protagonisten verwehrt. So ist auf | |
der Bühne statt eines wohlig Sicherheit bietenden Zuhauses nur das Gerippe | |
eines Raumes zu sehen – gleichzeitig auch Zeichen für die geforderte | |
Transparenz. Drumherum ist für Kantinenschäbigkeit gesorgt, in der das | |
Ensemble bei Kaffee und Wodka auf die Stichworte wartet. | |
Metodi und Konstantin, „Macht und Widerstand“, das ist in Hannover ein | |
virtuos einfühlsam gespielter Balanceakt zwischen Distanzierung und | |
Umarmung, da Pařízek auch in emotionalen Aufschwüngen bohrend genau die | |
Antriebe der Figuren erkundet, nicht bewertet. Dabei mit clownesken | |
Zwischenspielen, Witzen, schrägen Blasmusikeinlagen, kurzfristigen | |
Durchtauschen der Rollen entspannt und auch eine Furzchoreografie einbaut. | |
Absurde Fußnoten, die den beängstigend karg ausgearbeiteten Folterszenen | |
als Resonanzraum zur Wirkkraft verhelfen. Ohne dass es je deprimierend | |
wird. | |
Stets ist ein Kampf um Würde zu erleben, durchglüht vom heiligen Zorn der | |
Aufklärung. Und ein Appell gegen die „Vergiss es“-Aufforderung der | |
Nachgeborenen, die auf der Bühne dahingehend zitiert werden, sie seien | |
nicht apathisch, sie wollten einfach nur leben. Macht ohne Widerstand wird | |
akzeptiert – was den zu früh Geborenen nicht mehr möglich ist. | |
Sa, 17.12, 20 Uhr, Schauspielhaus Hannover. Weitere Aufführungen: 27. 12, | |
3. 1., 15. 1. | |
18 Dec 2016 | |
## AUTOREN | |
Jens Fischer | |
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