# taz.de -- #MeToo in China: Die Reis-Hasen-Bewegung | |
> Der chinesische Harvey Weinstein ist ein renommierter Hochschulprofessor. | |
> Erst hat die Regierung den Protest unterstützt. Nun wird er ihr zu groß. | |
Bild: Eine der Anführerinnen von #MeToo in China: Journalistin Sophia Huang Xu… | |
PEKING taz | Als Xue Lin vor ziemlich genau zwei Jahren von ihrem Boss in | |
dessen Büro gebeten wurde, dachte sie, er würde ihr eine Gehaltserhöhung | |
und eine Beförderung anbieten. Das ist in chinesischen Betrieben kurz vor | |
dem Frühlingsfest so üblich. | |
Doch als die heute 31-Jährige das Büro ihres Chefs betrat, ging es über die | |
Lobhuldigungen ihrer Arbeit hinaus. Spätestens als er ihr mit dem Stuhl | |
immer näher rückte und schließlich seine Hand auf ihr Knie legte, stand sie | |
auf und wollte den Raum verlassen. Er bedrängte sie und presste schließlich | |
seinen Mund gegen ihr Gesicht. | |
Xue Lin hat ihren Job kurze Zeit später gekündigt und woanders eine neue | |
Arbeit gefunden. Den wahren Grund für ihre Kündigung hatte sie aber nie | |
jemandem mitgeteilt. Nicht einmal engen Freunden. Sie schämte sich. Bis sie | |
nun vor einigen Wochen den Vorfall ins Netz stellte, versehen mit dem Logo | |
#MeToo – wie inzwischen Hunderte Chinesinnen, die sexuell belästigt oder | |
gar Opfer sexueller Gewalt wurden. | |
Sexuelle Übergriffe gibt es überall. Doch die meisten Chinesen dachten, in | |
ihrem Land sei das ein sehr viel geringeres Problem. Schließlich gehe es in | |
China weniger sexualisiert zu als etwa im Westen. Und eine Macho-Kultur | |
gäbe es in der Volksrepublik angeblich auch nicht. | |
Sexismus in der Volksrepublik | |
Umso überraschter sind viele nun, dass #MeToo auch in ihrem Land hohe | |
Wellen schlägt. Seit Monaten gibt es an mehr als 40 Universitäten Proteste. | |
Angelehnt an die #MeToo-Bewegung in den USA haben Studentinnen und | |
Studenten in einem gemeinsamen offenen Brief ihre Hochschulen aufgefordert, | |
Regeln zum Schutz vor sexueller Belästigung aufzustellen. Professoren von | |
mehr als 80 Unis haben diesen Aufruf inzwischen unterzeichnet. | |
Chinas Harvey Weinstein heißt Chen Xiaowu. Er ist in akademischen Kreisen | |
ein angesehener Hochschullehrer an der renommierten Pekinger | |
Beihang-Universität. Sechs ehemalige Studentinnen warfen ihm Anfang des | |
Jahres vor, sie über mehrere Jahre hinweg regelmäßig sexuell belästigt zu | |
haben. | |
Den Anfang des Aufschreis machte Luo Xixi, eine heute in den USA lebende | |
Akademikerin. Sie hatte vor 14 Jahren ihre Doktorarbeit bei dem Professor | |
abgelegt. Er soll vor zehn Jahren versucht haben, sie zu vergewaltigen. Luo | |
[1][veröffentlichte ihre Anschuldigung auf dem chinesischen | |
Kurznachrichtendienst Weibo] und versah die Nachricht mit #WoYeShi – die | |
chinesische Bezeichnung für #MeToo. Ihr Eintrag ging in China viral. | |
#WoYeShi hat in den sozialen Netzwerken schon mehr als vier Millionen | |
Anhängerinnen. Täglich werden es mehr. Die Ergebnisse anonymer Umfragen | |
zeigen denn auch, dass die Debatte in China bitter nötig ist. Eine Studie | |
von zwei Professoren an der Universität Hongkong fand heraus, dass 80 | |
Prozent der arbeitenden Frauen in China während ihrer Laufbahn mindestens | |
einmal sexuell belästigt worden sind. Eine Studie der Universität Peking | |
belegte, dass 35 Prozent aller chinesischen Studenten sogar bereits an oder | |
vor der Universität sexuelle Gewalt oder Belästigung erlebt haben. | |
Die Bewegung wächst | |
Und die junge Bewegung kann bereits erste Erfolge für sich verbuchen. Nach | |
wochenlangen Protesten hat Chinas Bildungsministerium angekündigt, | |
Mechanismen gegen sexuelle Belästigung auf Universitätsgeländen | |
einzuführen. Man habe „null Toleranz“ gegenüber sexuellem Fehlverhalten, | |
heißt es. Die Maßnahmen richteten sich vor allem gegen Professoren und | |
andere höhergestellte Bedienstete an den Hochschulen, heißt es. Welche | |
Maßnahmen genau vorgesehen sind, teilte das Ministerium nicht mit. Aber so | |
viel: Man nehme das Problem ernst. | |
Trotz der massiven Proteste bestritt Hochschullehrer Chen die Vorwürfe. Die | |
ehemaligen Studentinnen hätten sich bloß wichtig machen wollen. Und | |
überhaupt: Er habe „nichts Illegales“ getan. Die Uni hat ihn inzwischen | |
gefeuert. Ihm wurde auch die Lehrerlaubnis entzogen. Das | |
Bildungsministerium kündigte an, weitere Schritte gegen ihn einzuleiten, | |
etwa die Entziehung seiner akademischen Titel. | |
Trotzdem gibt sich Chen weiterhin selbstbewusst: Ihm müsse erst einmal | |
Fehlverhalten nachgewiesen werden. Chen setzt offenbar darauf, dass die | |
Frauen nicht bereit sein werden, öffentlich Details preiszugeben. Auch in | |
China ist bei sexuell konnotierten Vorfällen eine häufig anzutreffende | |
Reaktion: Die Opfer sind selbst schuld. | |
Noch immer ist die Vorstellung, wer sexuell belästigt werde, müsse dies | |
entsprechend auch provoziert haben, weit verbreitet. | |
Opfer haben selber Schuld | |
„Sexuelle Belästigung wird als Schande und Abwertung des Opfers gesehen | |
oder sogar als vom Opfer selbst verursacht“, sagt Feng Yuan, Mitgründerin | |
der Frauenrechtsorganisation Equality. Gerade die Schulbildung habe junge | |
Frauen in keiner Weise ermutigt, über Übergriffe zu reden. | |
Daher kommt es in China wegen sexueller Gewalt auch nur selten zu Anzeigen, | |
geschweige denn zu Verurteilungen. „Die meisten Opfer trauen sich nicht“, | |
beklagt Wang Ming, eine der ersten Mitinitiatorinnen der Protestaufrufe. | |
„Trotz der vielen Veränderungen der letzten Jahrzehnte haben wir in China | |
nach wie vor eine sehr konservativ geprägte Kultur“, sagt Wang. | |
Anders als in den USA haben sich Prominente in China auch noch nicht | |
geoutet. Und was ebenfalls auffällt: Frauen ab 30 beteiligen sich kaum an | |
dem Protest oder sie machen ihre Aussagen anonym. Deswegen war die Aussage | |
Luos über ihre Erlebnisse auch so bemerkenswert. Sie selbst meinte, ihr | |
Mut, sich zu äußern, rühre auch daher, dass sie seit einigen Jahren in den | |
USA lebe, wo sie vor Vergeltungsschlägen, wie sie sie in China hätte | |
erleben können, geschützt sei. In ihrem neuen Umfeld betrachte sie das | |
Thema weniger als tabu. | |
Getragen wird die Bewegung vor allem von jungen Frauen um die 20. Sie | |
posten in den sozialen Netzwerken zu Millionen #WoYeShi und haben das | |
Internet-Schlagwort an ihren Profilfotos angehängt. Sie sind es auch, die | |
in den Einträgen eifrig über sexuelle Belästigung im Alltag diskutieren. | |
Aktivismus mit Risiko | |
Dabei ist ihr Engagement nicht ohne Risiko. Als vor drei Jahren eine | |
Gruppe, die sich die „Feministischen fünf“ nannte, Aktionen in Bussen und | |
Bahnen starten wollte, wurde sie prompt verhaftet. Die chinesische Führung | |
befürchtete ähnliche subversive Aktionen wie die Femen-Aktivistinnen, die | |
etwa in der Ukraine mit Nacktaktionen auf sich aufmerksam machten, um gegen | |
den Umgang mit Prostituierten in ihrem Land zu protestieren. | |
Mit dem Thema Feminismus an sich hat die kommunistische Führung kein | |
Problem, sagt die chinesische Frauenrechtlerin Feng. Die Gleichberechtigung | |
von Mann und Frau sei sogar Teil der kommunistischen Doktrin. Doch mit | |
öffentlichkeitswirksamen Aktionen sehe die Führung ihre Autorität generell | |
infrage gestellt. | |
Und auch jetzt hat die Regierung die Forderungen der #MeToo-Bewegung | |
zunächst unterstützt und das Verhalten des Hochschulprofessors ja auch | |
gemaßregelt. Doch zu groß werden soll die Bewegung nicht. Die Petition der | |
Studenten ist seit einigen Wochen im chinesischen Internet nicht mehr zu | |
finden. #MeToo-Einträge in den sozialen Netzwerken werden nach wenigen | |
Minuten zensiert und gelöscht. | |
Die Aktivistinnen lassen sich nicht beirren und zeigen sich kreativ. Ihr | |
neuer Hashtag, das inzwischen ebenfalls mehr als zwei Million Mal | |
weitergeleitet wurde: die Schriftzeichen für Reis und Hase. Auf Chinesisch | |
ausgesprochen ergibt das: MiTu. | |
28 Feb 2018 | |
## LINKS | |
[1] https://www.weibo.com/ttarticle/p/show?id=2309404191293831018113 | |
## AUTOREN | |
Felix Lee | |
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