| # taz.de -- Ein neuer Feiertag für den Norden: Etwas Besseres als Luther | |
| > Die Nordländer wollen einen neuen Feiertag einführen. Es läuft auf den | |
| > Reformationstag zu, dabei wäre der Matrosenaufstand viel schöner – und | |
| > viel norddeutscher. | |
| Bild: Trauriger, mutmachender Tag: Die Revolution begräbt ihre Opfer in Kiel 1… | |
| Bremen taz | Dagegen, dass die norddeutschen Bundesländer einen Feiertag | |
| einführen wollen, lässt sich wenig einwenden. Ein Tag weniger | |
| Arbeitsstress, das ist eine feine Sache, und Baden-Württemberg und Bayern | |
| hat die Vielzahl altertümlicher, christlich motivierter Sonderurlaubstage | |
| wirtschaftlich auch nicht komplett ruiniert. Insofern sind Vorbehalte von | |
| Industrie- und Handelslobbyist*innen nicht ganz schlüssig. | |
| Aber selbst wenn die Ausrufung eines Feiertags eine rein pragmatische | |
| Angelegenheit wäre, wäre der Welttoilettentag besser als der 31. Oktober, | |
| auf den sich die norddeutschen Regierungschef*innen vorverständigt haben; | |
| und es ist ein Glück, dass wenigstens in Bremen die Uneinigkeit der | |
| rot-grünen Koalition den reaktionären Durchmarsch vorerst stoppt | |
| Pragmatisch spricht gegen den Reformationstag, dass am 1. November in | |
| Niedersachsens Nachbarland Nordrhein-Westfalen ebenso wie in den Südländern | |
| seit jeher frei ist – wegen Allerheiligen. Wer also Insellösungen scheut, | |
| müsste sich hier der Macht der älteren Tradition beugen, und wem Stockungen | |
| der Logistikkette Sorgen bereiten, der kann mit einer solchen Abfolge der | |
| Betriebsunterbrechungen nicht glücklich werden. | |
| Immerhin: Die zweite Jahreshälfte ist eine bessere Variante als der | |
| feiertagsüberfrachtete Mai, der schon jetzt regelmäßig die Akteur*innen des | |
| staatlichen Bildungssystems an den Rand des Wahnsinns bringt. Der 8. Mai, | |
| Tag der Befreiung vom Naziregime, ist ein wichtiges Datum, keine Frage, | |
| aber als Feiertag taugt er nicht, weil er immer wieder mit Himmelfahrt | |
| zusammenfällt – oder ganz knapp daneben. | |
| Weder im September noch im November gibt es jedoch in Norddeutschland | |
| gesetzliche Party-, Frei-, Ruhe-, Gedenk- oder Trauertage, was erstaunlich | |
| ist, weil sich ja anhand der Daten vom 3. bis zum 11. November nahezu die | |
| gesamte deutsche Geschichte zusammenfassen lässt: das wichtigste Brauchtum | |
| (Karnevalsbeginn), die schändlichsten Verbrechen (Reichspogromnacht) – und | |
| die schönsten und die demokratischsten Impulse wie etwa der | |
| Matrosenaufstand in Kiel und Wilhelmshaven, mit dem die Novemberrevolution | |
| von 1918 begann. | |
| ## Konzentrat des gesellschaftlichen Lebens | |
| Das führt auf den Punkt, der zentral bei dieser Debatte sein müsste – und | |
| es nicht ist: Einen Feiertag festzulegen ist nämlich keine rein | |
| pragmatische Entscheidung. Es geht nicht nur um einen freien Tag. Ein Fest, | |
| jedes Fest, ist ein Ereignis der Gesellschaft: Sie sind, wie die | |
| Ethnolinguistin Jeanine Fribourg einst herausgearbeitet hat, | |
| „Zusammenfassung, ja in gewisser Weise Konzentrat des gesellschaftlichen | |
| Lebens“. | |
| Am und im Festtag spiegelt und bestätigt sich ein Gemeinwesen. Hier kann | |
| es, im Aussetzen des Alltags, seinen Sinn behaupten, sein Selbstverständnis | |
| bestimmen. Wie kann das aussehen, im 21 Jahrhundert? Welche Traditionen | |
| passen zu unseren Vorstellungen vom Zusammenleben? Welche regionalen | |
| Gemeinsamkeiten gäbe es, die einer inklusiven Gesellschaft entsprechen? Wie | |
| kann Demokratie identitätsstiftend wirken? | |
| Diese Fragen zu stellen, scheint in einer Zeit geboten, in der das Modell | |
| der liberalen Demokratie der Bundesrepublik und eines aus den Regionen sich | |
| speisenden friedlichen Europas eine schwere Krise erlebt. Das wären Fragen, | |
| die in einer Feiertagsdiskussion eine Rolle spielen müssten. | |
| ## Der Glaube ist Privatsache, der Staat ist für alle da | |
| Stattdessen hängen sich – und das belegt ein geradezu widerwärtig | |
| verkommenes Staatsverständnis und eine bestürzend unterbelichtete Idee von | |
| Gesellschaft – Norddeutschlands Ministerpräsident*innen und die sie | |
| stützenden Parteien an die Rockschöße des abgehalfterten evangelischen | |
| Klerus und wollen den Reformationstag staatlich begehen. | |
| Dieser bedenkliche Schulterschluss von Staat und Kirche, der nahe an die | |
| funktionale Verwechslung beider geht, spricht in geradezu aggressiver | |
| Dummheit aus dem niedersächsischen Ministerpräsidenten Stephan Weil (SPD), | |
| wenn er, wie jüngst im Kloster Loccum, behauptet, „Gewissheit und | |
| Gemeinschaft zu vermitteln“ wäre „die gemeinsame Aufgabe von Staat und | |
| Gesellschaft, von Politik, Kirchen und vielen Verantwortlichen mehr“. | |
| Staat, Kirche, Gesellschaft, Politik – für Weil alles dieselbe Suppe. | |
| Wollen ja doch alle das Gute. Eine solche Identifikation hätte vielleicht | |
| im Norddeutschen Bund und im Preußen der Kulturkampfzeit – in dem | |
| selbstredend der Reformationstag begangen wurde – deskriptiv etwas für sich | |
| gehabt: Das Bündnis von Thron und Altar diente nicht nur dazu, | |
| konfessionelle Machtstrukturen zu verfestigen, sondern auch, den Ausschluss | |
| missliebiger politischer Kräfte abzusegnen. | |
| Nein, das ist kein Argument gegen traditionelle bekenntnisbezogene | |
| Festtage: Diese spiegeln, dass auch die Arbeits- und Alltagswelt sich nicht | |
| in einem luft- und kulturleeren, von Konfessions- und Glaubenskriegen | |
| verschonten Raum entwickelt haben. Sie sind geschichtlich geprägt, und dass | |
| wir nur so selten frei haben, ist in erster Linie Martin Luthers Schuld, | |
| ein Grund mehr, gerade diesen Typen nicht zu feiern. | |
| Wer aber den Rhythmus des Alltags zeitgemäß verändern und mitgestalten | |
| will, wer Feiertage als neue Inseln für Öffentlichkeit etablieren will, | |
| sollte nicht versuchen, gemeinsame Sache mit einer Bekenntnisinstitution zu | |
| machen, und insbesondere nicht mit der Kirche oder der Partei der Mehrheit. | |
| Denn der Glaube und die Überzeugungen, das ist Privatsache. Der Staat | |
| hingegen ist für alle da. Auch für die Minderheiten, die die | |
| Regierungschefs mit ihren politischen Mehrheitsbeschaffern so effektvoll | |
| versuchen, durch die Reformationstagsfeierei auszugrenzen. | |
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| 16 Feb 2018 | |
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| ## AUTOREN | |
| Benno Schirrmeister | |
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