# taz.de -- Folgen des ausgesetzten Familiennachzugs: Der verlorene Sohn | |
> Im November 2015 kentert ein Boot mit 28 Menschen vor der griechischen | |
> Insel Chios. Seitdem sucht Familie Othman ihr Kind. | |
Bild: „Ich mag das Meer nicht“, sagt Kazem Othman. Dort ist sein Sohn Alnd … | |
HANNOVER / CHIOS taz | Ende Oktober 2017, zwei Jahre nach dem Unglück, | |
sitzt Kazem Othman in seinem Wohnzimmer im Süden Hannovers auf einem | |
schwarzen Schreibtischstuhl und ruft nach seinem Sohn: „Alnd, Alnd, wo bist | |
du?“ Othmans Füße sind nackt, das blaue Hemd spannt sich über seinem | |
breiten Oberkörper. Die Schultern nach vorn gefallen, die Haare grau, der | |
Rücken gebeugt, die Ellenbogen auf den Knien. Ein Mensch im Sturz. | |
Kazem Othman ist 49 Jahre alt, doch er sieht älter aus. In seinen Händen | |
liegt ein schwarzes Smartphone. Othman wischt sich durch Videos und Fotos | |
von Alnd. Ein kleiner Junge mit dem ovalen Gesicht seiner Mutter schaut | |
hoch zu seinem Vater. Seine Ohren stehen etwas ab. Alnd beim Schwimmen. | |
Alnd, wie er in die Kamera lächelt. Alnd, wie er Oud spielt, eine | |
orientalische Laute. Neben Kazem Othman hockt seine Frau Pervin, 43, auf | |
einer Matratze, das schwarze Haar nachlässig mit einem Kopftuch bedeckt. | |
Ihr Blick geht ins Leere. „Ich träume viel von Alnd“, sagt sie. Auf ihrem | |
Schoß zappelt Baby Hedi, acht Monate alt. „Alnd, wo bist du?“ Keine | |
Antworten. Nur Stillstand. | |
In der Nacht zum 11. November 2015 steigen 28 Menschen an der | |
westtürkischen Küste von Izmir in ein kleines weißes Fischerboot. Kinder, | |
Frauen, Männer aus Syrien und dem Irak. Der jüngste Passagier ist noch kein | |
Jahr alt, der älteste 75. Ihr Ziel, die griechische Insel Chios, ist nur | |
etwa acht Kilometer entfernt. Das Wetter ist mild, und das Meer still. Die | |
Lichter der Insel blinken hinüber. Gelbe Sterne im schwarzen Meer. | |
Gegen 3 Uhr stößt der Schleuser das Boot vom Strand und startet den Motor. | |
An Bord sitzt Pervin Othman zwischen ihren Kindern. Sahin, 11 Jahre alt, | |
Gudi 9 Jahre alt. Ihren jüngsten Sohn Alnd hält sie im Arm. Ihr Schwager | |
mit Frau und zwei Kindern ist ebenfalls an Bord. Gegen 3.15 Uhr läuft | |
Wasser ins Boot. Der Mann am Steuer versucht zu wenden. Als der Motor | |
ausfällt, gibt er auf. „Schau nach vorn“, flüstert Pervin Othman ihrem | |
Jüngsten ins Ohr. Das Boot kippt. Pervin Othman schluckt Wasser, taucht | |
auf, hört Schreie. Verliert ihr Zeitgefühl. Irgendwann wird sie aus dem | |
Wasser gezogen. Alnd ist weg. So erzählt es Pervin Othman zwei Jahre später | |
auf der Matratze in ihrem Wohnzimmer. | |
Gegen 4.30 Uhr notiert die türkische Küstenwache: 22 Überlebende, 4 Tote, 2 | |
Vermisste. | |
Erste Leiche: weiblich, 20 bis 25 Jahre alt, rot gefärbte Haare, blaue | |
Jeans. Liegt mit dem Rücken nach oben im Wasser. Zweite Leiche: Jogginghose | |
mit Blumenmuster, pinke Jacke, pinke Schuhe, 2 bis 3 Jahre alt. Dritte | |
Leiche: grüne Jacke, schwarz-gelbe Handschuhe, 3 bis 4 Jahre alt. Vierte | |
Leiche: weiblich, 55 bis 60 Jahre alt, 100 bis 110 Kilo. Vermisst: Roder | |
Othman, 5 Jahre alt. Blaue Schuhe, schwarze Jacke, und sein Cousin Alnd | |
Othman, 6 Jahre alt. Blaue Jeans, blaues T-Shirt, blaue Schuhe. | |
## Familiennachzug auf dem offenen Meer | |
Als das Boot untergeht, lebt Kazem Othman in einer Flüchtlingsunterkunft in | |
Magdeburg und wartet auf die Klärung seines Asylstatus, und auf seine Frau, | |
die Kinder und seinen Bruder. Fotos aus der Zeit zeigen einen schmalen, | |
frischen Mann, der in die Kamera lächelt. Wie einer, der weiß: Das | |
Schlimmste liegt hinter mir. | |
Zwei Monate zuvor war er aufgebrochen, aus Kamischli im Norden Syriens, | |
über die Balkanroute nach Europa. Im Mai 2014 überfiel ein IS-Kommando die | |
Region um Kamischli und tötete 15 Menschen, darunter vermutlich 7 Kinder. | |
So entstand bei den Othmans die Idee von Deutschland. „Wegen der Sicherheit | |
der Kinder“, sagt Kazem Othman. Seine Stimme bricht. Othman spricht ihn | |
nicht aus. Aber dieser Satz ist da: Was wäre wenn? Was wäre, wenn sie nicht | |
geflohen wären? Wenn sie nicht in das Boot gestiegen wären? Dann wäre Alnd | |
vielleicht noch da. | |
Im November 2015 beschließt die Große Koalition aus Union und SPD, den | |
Familiennachzug für subsidiär Schutzbedürftige auszusetzen. Kazem Othman | |
ist damals noch im Asylverfahren, im Heim gehen Gerüchte um, wessen | |
Familien betroffen sein könnten. Othman bekommt Angst, dass es Pervin und | |
die Kinder vielleicht nicht mehr rechtzeitig nach Deutschland schaffen. | |
Deswegen die Überfahrt. | |
Gerade stritten sich Union und SPD in den Sondierungen für eine neue Große | |
Koalition, ob der Familiennachzug für Flüchtlinge mit subsidiärem Schutz | |
weiter ausgesetzt bleiben soll. Am Schicksal der Familie Othman zeigt sich, | |
was das bedeuten kann. | |
Einen Tag nach dem Unglück vor Chios erfährt Kazem Othman über Verwandte, | |
dass das Boot, das seine Familie nach Europa bringen wollte, Griechenland | |
niemals erreichte. „Ich wollte aus dem Fenster springen“, sagt Othman über | |
diesen Moment. | |
Jetzt, zwei Jahre später, sagt Kazem Othman in die Stille seines | |
Wohnzimmers hinein: „Vielleicht wurden Alnd und Roder gerettet.“ | |
Von wem? | |
„Von griechischen Fischern. Das hat ein Mann erzählt.“ | |
Welcher Mann? | |
„So ein Mann auf Facebook“ | |
Zwei Tage nach dem Unglück meldete sich ein Mann bei Kazem Othman. Mohammad | |
S., ein Freund eines Freundes, ebenfalls aus Syrien und ebenfalls auf der | |
Flucht. Er hatte den Suchaufruf der Othmans auf Facebook gesehen. Die | |
Fotos der verlorenen Kinder und die Angaben zum Unglück. Er habe Alnd und | |
Roder auf Lesbos gesehen, schrieb er. Auf einem Fischerboot im Hafen. Die | |
Kinder seien der griechischen Küstenwache übergeben worden und anschließend | |
in einem Krankenwagen davongefahren. „Wir waren überglücklich“, sagt Kazem | |
Othman. | |
## Nicht alle Toten schaffen es in die Statistik | |
Später stellte sich heraus: Der Mann hatte sich wohl geirrt. Vielleicht | |
auch einfach gelogen. Irgendwann war er nicht mehr erreichbar. Tiefste | |
Verzweiflung oder das größte Glück auf Erden. Für Familie Othman ist das | |
der Rahmen ihres Lebens. Ein Rahmen, der sie nicht mehr entlässt. Wie soll | |
man ein Kind aufgeben, von dem man nicht weiß, ob es tot ist oder lebendig? | |
3.119 Tote und Vermisste zählt die Internationale Organisation für | |
Migration für das Jahr 2017 auf dem Mittelmeer. 2016 waren es 5.143, ein | |
Jahr zuvor 3.785. Der Türkei-Deal, die von Deutschland finanzierten Boote | |
der libyschen Küstenwache und die Frontex-Flotte, die die Meerenge zwischen | |
Griechenland und der Türkei nach illegalen Booten durchpflügt, wirken. Die | |
Zahl der Toten geht zurück. Ebenso die Zahl derer, die es über das | |
Mittelmeer schaffen. Zwischen Januar und November 2017 erreichten 164.754 | |
Menschen die EU per Boot. 2016 waren es rund doppelt so viele. | |
Doch die Zahlen der Ankommenden, das zeigen die Statistiken ebenfalls, | |
steigen in den letzten Monaten langsam wieder an. Die Menschen steigen | |
wieder in die Boote. Trotz EU-Türkei-Deal, trotz der Frontex-Schiffe – und | |
trotz der Gefahr. Nach Angaben der UN starb im Jahr 2015 einer von 1.000 | |
Menschen bei dem Versuch, per Boot von der Türkei nach Griechenland zu | |
gelangen. Auf der zentralen Mittelmeerroute starben zwei von 100. | |
Vermutlich waren und sind es noch mehr. Nicht alle Tote schaffen es in die | |
Statistik. Wer nicht gesehen wird von Küstenwache, Frontex oder anderen | |
Geflüchteten, wer in Stille stirbt, der stirbt als Unsichtbarer. Manche | |
Körper verschwinden für immer. Manche tauchen Monate später wieder auf. Als | |
anonyme Leichen, die erst mit Hilfe von DNA-Proben identifiziert werden | |
können. Das Meer nimmt und gibt, und wen es behält, der hinterlässt eine | |
Leerstelle. Nicht nur in den Statistiken, auch in den Familien. | |
## „Ich werde Alnd suchen, bis ich sterbe“ | |
Mitte November 2017. Vor genau zwei Jahren und zwei Tagen sind Alnd und | |
Roder verschwunden. Es ist 6 Uhr morgens. Kazem Othman läuft durch die | |
verschlafene Abflughalle des Flughafens Schönefeld in Berlin und sucht sein | |
Gate. Othman will nach Chios. Er will zur Polizei gehen, | |
Hilfsorganisationen besuchen und mit Menschen sprechen, die Alnd und Roder | |
vielleicht gesehen haben könnten. Es ist eine Reise, die Alnd nach Hause | |
bringen soll. „Ich werde Alnd suchen, bis ich sterbe“, sagt Kazem Othman. | |
So lange es Ungewissheit gibt, so lange gibt es Hoffnung. So lange ist Alnd | |
irgendwo am Leben. | |
Othman ist seit 24 Stunden wach. Am Abend nahm er den Zug von Hannover nach | |
Berlin. Seit sieben Stunden wartet er hier auf seinen Flug nach Athen. Sein | |
blaues Hemd trägt nächtliche Knitter. Seine Wangen graue Stoppel. Seinen | |
blauen Rucksack trägt er in der rechten Hand. Der Rucksack ist flach und | |
leicht. Er reist mit wenig Gepäck. Ein schwarzer Pullover, eine Packung | |
Taschentücher und eine rote Dokumentenmappe. Dokumentation einer | |
zweijährigen Suche, einer Odyssee durch deutsche, griechische, türkische | |
Behörden, Ämter und Organisationen, die in ein paar Tagen endgültig vorbei | |
sein könnte. | |
Kazem Othmans Deutsch ist nicht sonderlich gut. Er versteht viel, aber er | |
braucht lange, um die richtigen Wörter zu finden. Englisch spricht er | |
nicht. Auch kein Griechisch. Kein Türkisch. Sprachen, die er brauchen | |
würde, um sein Kind zu finden. Jeder Anruf bei einer Behörde, jede E-Mail, | |
jeder Brief muss übersetzt werden, von Freunden oder Verwandten. Manchmal | |
hilft auch Google Translate. Auch für diese Reise brauchte er Hilfe. Bei | |
den Tickets, den Terminabsprachen. | |
Manchmal übernimmt der Frust bei Kazem Othman. Dann wird er ungeduldig. | |
Früher, in Syrien, war er derjenige, der die Dinge regelte. Familienvater, | |
Geschäftsmann. Heute ist er oft nur noch Beisitzer. Verdammt zum Warten. | |
## Den Inhalt der meisten Dokumente versteht Othman nicht | |
Kazem Othman ist nicht der Einzige, der nach Alnd sucht. Und diese Reise | |
ist nicht die erste. Kurz nach dem Verschwinden der Kinder reiste der | |
Bruder von Kazem Othman nach Lesbos. Er wollte nachsehen, ob nicht doch | |
etwas dran war an der Geschichte mit den Fischern und den beiden geretteten | |
Kindern. Drei Monate lang suchte er die Insel ab. Mit Fotos der Kinder ging | |
er in Krankenhäuser, in Flüchtlingslager, in Leichenhallen und auf den | |
illegalen Flüchtlingsfriedhof der Insel. Nichts. Auch ein DNA-Abgleich | |
brachte keine Spur. Othman heuerte einen griechischen Anwalt an, schickte | |
ihn in die Türkei und nach Lesbos, um nach Alnd zu suchen. | |
Alnd und Roder: einfach weg. | |
Geht ein Mensch verloren, kann beim Internationalen Roten Kreuz ein | |
Suchanfrage gestellt werden. Dort liegen nun Bilder von Alnd und Roder in | |
der Kartei. Othman hat sich auch an die Caritas gewandt und an die | |
Diakonie. An NGOs in Griechenland und Deutschland. Bisher ohne Erfolg. | |
„Warum haben uns die Behörden nicht geholfen?“, fragt sich Kazem Othman, | |
wenn er durch seinen rote Mappe blättert. In den Händen die | |
Eingangsbestätigungen des Roten Kreuzes. Den Bericht der türkischen | |
Küstenwache, die notarielle Beglaubigung für seinen griechischen Anwalt. | |
Deutsch, Englisch, Griechisch, Türkisch. Den Inhalt der meisten Dokumente | |
versteht Kazem Othman nicht. Was er aber weiß: Alnd ist weg, und bisher hat | |
ihm keiner sein Kind zurückgebracht. Dass der Suchantrag des Roten Kreuzes | |
noch immer läuft, lässt Kazem Othman nicht gelten. Auch nicht die | |
Suchaufrufe einer deutschen und einer griechischen NGO. Für ihn zählen | |
Gefühle, weniger die Fakten. Alnd ist weg, und jeder, der ihn nicht | |
zurückbringt, ist entweder zu wenig aktiv oder zu desinteressiert. Deswegen | |
die Reise nach Chios. Für Kazem Othman gilt: Wenn nicht er sein Kind sucht, | |
wer dann? | |
Einen Tag später: Als die Fähre von Athen in Chios einläuft, steht Kazem | |
Othman auf dem ersten Deck und schaut aus dem Fenster in die dunkle Nacht. | |
Sein Gesicht ist noch etwas grauer als am Vortag, noch etwas stoppeliger. | |
Othman ist wortkarg. Was, wenn er Alnd nicht findet? Was, wenn alles | |
umsonst ist? | |
Hoffnung und Zweifel. Kazem Othmans ständige Reisebegleiter. Mal übernimmt | |
der eine die Führung, mal der andere. Je näher Othman seinem Ziel kommt, | |
desto öfter wechseln die beiden ab. | |
## Die Strände der Türkei leuchten in der Morgensonne | |
In der Ferne blinken gelb die Lichter der türkischen Küste. Es ist 4 Uhr | |
morgens. Ungefähr um diese Zeit ist das Boot mit seiner Familie damals | |
gesunken. Irgendwo da draußen. „Ich mag das Meer nicht“, sagt Kazem Othman. | |
Er dreht sich weg. Othman ist ein stolzer Mann. Seine Tränen soll nicht | |
jeder sehen. | |
Als die Sonne aufgeht, steht Kazem Othman am Hafen von Chios und schaut | |
hinaus zum Meer. Hinüber zur Türkei und den weißen Stränden, die in der | |
Morgensonne leuchten. „Alnd, wo bist du?“ | |
Sein erster Termin ist erst in ein paar Stunden. Ein Hotel hat sich Othman | |
nicht gebucht. Frühstücken will er nicht. Das Geld für diese Reise hat er | |
sich geliehen. In Hannover lebt die Familie von Sozialleistungen. Ihre | |
Lebensmittel holen sie bei der Tafel. Alles was übrig bleibt, geht in die | |
Suche nach Alnd. Bisher ein paar tausend Euro, so erzählt er es. Frühstück, | |
Schlaf, Erholung sind da Nebensache. In einer Ecke des Hafens liegt ein | |
kleines weißes Fischerboot. „In so einem sind sie gefahren“, sagt Othman | |
und starrt lange auf das Boot. Etwa drei Meter lang und keine zwei Meter | |
breit. Zwei schmale Sitzbänke. Zu klein für 28 Menschen. | |
Kurz nach 10 Uhr im ersten Stock eines schlichten Wohnhauses im Zentrum von | |
Chios, der gleichnamigen Hauptstadt der Insel. Zwei Zimmer mit Balkon, ein | |
weißer Tisch, ein Flipchart, ein paar Stühle. Die Zentrale von Praksis. | |
Eine NGO, die sich um Kinder und Jugendliche kümmert, die ohne Familie die | |
Insel erreichen. Ein Foto von Alnd liegt auf dem Tisch. | |
## „Suchen Sie in Athen“ | |
Fünf Erwachsene, zwei Mitarbeiter von Praksis, zwei Übersetzer und Kazem | |
Othman, sprechen ein Gemisch aus Englisch, Griechisch und zwei arabischen | |
Dialekten. Wieso ist Othman hier, und warum kommt er erst jetzt?, fragen | |
die Mitarbeiter. Wer hat die Überlebenden damals gerettet: die griechische | |
oder die türkische Küstenwache? Die Antworten gehen irgendwo verloren im | |
Chaos der Übersetzung. Nach einer Stunde und einem weiteren Übersetzer per | |
Telefon ist klar: In der Datei von Praksis tauchen Alnd und Roder nicht | |
auf. Hätten es die Kinder 2015 nach Chios geschafft, sie wären vermutlich | |
schon längst auf dem griechischen Festland. „Suchen Sie in Athen“, rät ein | |
Praksis-Mitarbeiter. Kazem Othman hört zu. Still, die linke Faust fest vor | |
den Mund gepresst. | |
Nach Angaben von Human Rights Watch warten derzeit rund 13.500 Geflüchtete | |
in den Auffangzentren der Ägäischen Inseln auf die Bearbeitung ihrer | |
Asylanträge. Die Lager sind überfüllt, die Behörden überlastet. Die | |
Temperaturen fallen, es fehlt an ärztlicher Versorgung und Unterbringung. | |
Wer hat da Zeit für die Toten und ihre Familien? Die Internationale | |
Organisation für Migration spricht von einem „politischen Vakuum“. Es fehle | |
an Zusammenarbeit auf Behördenebene, ausreichend Ressourcen für | |
Ermittlungen in einzelnen Fällen und Betreuung von betroffenen Familien. Wo | |
der Staat Lücken lässt, übernehmen oft nichtstaatliche Organisationen. Doch | |
ganz können sie die Lücke nicht füllen. Für betroffene Familien bedeutet | |
das: Chaos. Und im schlimmsten Fall: Ungewissheit auf Lebenszeit. | |
Am nächsten Morgen auf Chios: Was kommt nach der Hoffnung? Noch mehr | |
Hoffnung. Kazem Othman hat die Nacht in einem Hotel verbracht. Er will | |
jetzt zur Hafenpolizei. Alles versuchen. Nicht aufgeben. | |
Er schlendert am Hafen von Chios entlang. Es ist Mittagszeit, die Cafés | |
sind voll. Schulkinder radeln über die Promenade. An einer Straßenecke | |
liegt ein brauner Hund in der Sonne. „Alnd mochte Hunde“, sagt Kazem | |
Othman. Er lächelt. Hinter der kleinen Stadt ragen gelbbraun die Berge in | |
den Himmel. | |
## Über Nacht hat Othman eine neue Theorie entwickelt | |
Neben Othman läuft Awad Awad, den alle nur Samy nennen. Samy hat | |
Riesenhände und ein Herz aus Gold. Er ist einer der Übersetzer aus dem | |
Gespräch vom Vortag. Samy lebt seit zwölf Jahren auf Chios, ist | |
Inselmaurer, Übersetzer und Ersthelfer für Flüchtlinge. Mit Menschen im | |
Wasser kennt er sich aus. Dass Alnd und Roder es auf die Insel geschafft | |
haben, glaubt er nicht. „Kleine Kinder im Wasser“, sagt er in gebrochenem | |
Englisch. „Schwimmen?“ Sein Zeigefinger deutet nach unten. „Nein.“ Er | |
schüttelt den Kopf. Helfen will er trotzdem. | |
Kazem Othman will das nicht hören. Über Nacht hat er eine neue Theorie | |
entwickelt: Was, wenn Alnd und Roder in der Türkei sind? Er zeigt hinaus | |
aufs Meer. In der Sonne leuchtet eine orange Boje. | |
Stirbt ein Mensch, dann wird getrauert. Verschwindet ein Mensch, bleibt nur | |
die Leere. Und die Theorien. Alnd wird von einer Kinderorganisation in | |
Athen festgehalten. Alnd lebt bei einer griechischen Familie in | |
Thessaloniki. Alnd ist in der Türkei. Kazem Othman hat viele Erklärungen | |
für das Verschwinden seines Sohns. | |
Psychologen nennen das Bewältigungsmechanismus. Jeder Strohhalm ist besser | |
als der Tod. Das gleiche Muster setzt ein, wenn Menschen einen Angehörigen | |
in Gewaltsituationen verlieren. Ein Bruder oder einen Vater, der | |
vermeintlich lebenslang in Kriegsgefangenschaft sitzt, ist besser für das | |
Herz als einer, der tot ist. Die Hoffnung ist das Leben, das Aufgeben des | |
geliebten Menschen sein Tod. | |
Auf der Wache der Hafenpolizei lässt eine junge Frau die Namen von Alnd und | |
Roder durch das System laufen. Ohne Erfolg. | |
## 1.000 Euro für Informationen über Alnd | |
Am Abend sitzt Kazem Othman auf einer kleinen Mauer am Hafen und wartet auf | |
die Fähre, die ihn zurück nach Athen bringen soll. In seiner Hand liegt | |
sein Telefon. Bilder von Alnd und seinen Brüdern ziehen vorbei. „Alnd war | |
ein ganz Schlauer“, sagt Othman. Er lächelt. Erzählt von Stunden im | |
Freibad. Von seinen drei Internetcafés, von seiner Frau, die als Friseurin | |
arbeitete. Er zeigt ein Foto, Pervin, schön und glücklich. „Das war davor�… | |
sagt er. | |
Nach dem Unglück vor zwei Jahren wartete Pervin Othman sechs Monate in der | |
Türkei, bis sie eine Einreiseerlaubnis nach Deutschland bekam. Monate, in | |
denen sie sich jeden Tag fragte, warum sie in das Boot stieg. Eine Antwort | |
hat sie bis heute nicht. | |
„Was soll ich jetzt meiner Frau sagen?“, fragt Othman am Hafen von Chios. | |
Zurück auf dem griechischen Festland. Kazem Othman verlässt die Fähre von | |
Chios. In seiner Jackentasche piepst es. Eine englische Nachricht in einem | |
WhatsApp-Chat, von seinem Anwalt. Dessen Büro liegt unweit des Hafens. Wenn | |
Othman dem Anwalt schreibt, dann übersetzt er mit Google Translate Arabisch | |
auf Englisch. Der Anwalt übersetzt dann wieder auf Griechisch. Rund 2.000 | |
Euro habe er schon an den Anwalt überwiesen, sagt Othman. Was genau hat er | |
mit dem Geld gemacht? Othman kann es nicht sagen. Eine Reise in die Türkei, | |
eine nach Lesbos. Jeweils ohne Ergebnis. Othman ist unzufrieden. „Der | |
Anwalt kann gut reden, aber er arbeitet nicht gut“, sagt er auf Deutsch. | |
Trotzdem erhofft sich Othman Hilfe. Der Anwalt hilft ihm durch das Dickicht | |
der griechischen und türkischen Behörden. Einen anderen Leitfaden hat er | |
nicht. | |
Kennengelernt hat Othman ihn vor rund einem Jahr, über einen Freund eines | |
Freundes. Ein Betrüger wie sich vor wenigen Monaten rausstellte. Er | |
forderte 1.000 Euro für Informationen über Alnd. Kazem Othman zahlte. Heute | |
soll der Anwalt eine Anzeige gegen diesen Mann stellen. | |
## Er will nicht weinen. Die Tränen kommen trotzdem. | |
Der Anwalt, ein Mann in den Fünfzigern, empfängt mit brennender Zigarette | |
in seinem Büro. Er serviert Kaffee. Der Anwalt lächelt und legt los. Dann | |
bricht babylonisches Chaos aus. Ein Gemisch aus Griechisch und Arabisch. | |
Othman versucht dem Anwalt klarzumachen, dass er die 1.000 Euro von dem | |
Betrüger wiederhaben will. Und dass der sich darum kümmern soll. Othman | |
kritzelt Zahlen auf ein Blatt. Der Anwalt kritzelt zurück. Kazem Othman | |
versucht einen Übersetzer anzurufen. Niemand hebt ab. | |
Im Bus zum Flughafen schaut Kazem Othman Richtung Boden. Er ist | |
frustriert. Vom Anwalt, von seiner Sprachlosigkeit, von der Reise. Wieder | |
eine Hoffnung weniger. Seine Augen sind rot. Er will nicht weinen. Die | |
Tränen kommen trotzdem. Den Rest der Rückreise versinkt Othman in Stille. | |
Ein paar Tage später. Kazem Othman ist zurück in Hannover. Besucht wieder | |
seinen Deutschkurs. Denkt über die Zukunft nach. Seine Aufenthaltserlaubnis | |
läuft noch bis zum Februar 2019. Auch seine Frau hat einen Aufenthaltstitel | |
für drei Jahre. Die Familie möchte in Deutschland bleiben. Die Kinder | |
fühlen sich wohl. Kazem Othman würde gerne arbeiten. Aber wie, ohne die | |
richtigen Wörter? | |
„Ich bin nicht nach Deutschland gekommen, um von Sozialhilfe zu leben“, | |
sagt Othman. Und Alnd? Ist irgendwo. Vielleicht. Kazem Othman plant seine | |
nächste Reise. Er glaubt, Alnd könnte in der Türkei sein. Dort will er hin. | |
So bald wie möglich. | |
14 Jan 2018 | |
## AUTOREN | |
Gesa Steeger | |
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