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# taz.de -- Haft für Geflüchtete auf Lesbos: Verurteilung ohne Beweise
> 32 Migranten sollen wegen eines Sitzstreiks im überfüllten Lager Moira
> ins Gefängnis. Dabei waren manche gar nicht dabei.
Bild: Auch vor einer Woche protestierten Geflüchtete wieder gegen die überfü…
LESBOS/BERLIN taz | Zwei Jahre und zwei Monate Haft – Abdoul M. kann das
Gerichtsurteil nicht fassen. Über zwei Jahre soll der Senegalese in ein
griechisches Gefängnis für einen Sitzstreik, an dem er gar nicht
teilgenommen hat.
Vier Tage lief der Prozess gegen ihn und 34 weitere Geflüchtete, die auf
der griechischen Insel Lesbos vor einem Jahr gegen die Zustände im
überfüllten Flüchtlingslager Moria protestiert haben sollen. Damals kam es
zu Ausschreitungen mit der Polizei, ein Beamter wurde verletzt. Zahlreiche
Menschen wurden festgenommen und sitzen seitdem in Haft.
Am Freitag wurde das Urteil gesprochen: zweijährige Gefängnisstrafen für 32
der 35 Männer, kollektiv wegen der Verletzung eines Polizeibeamten. Die
Anwälte wollen in Berufung gehen.
Abdoul konnte vor Gericht nachweisen, dass er zum Zeitpunkt der Proteste
einen Termin mit einem Psychologen der Organisation Ärzte ohne Grenzen
hatte. Auf dem Rückweg ins Flüchtlingscamp sei er von Sicherheitskräften
festgenommen worden, gewaltsam: „Drei Polizisten haben auf mich
eingeschlagen, bis ich das Bewusstsein verlor.“ Abdoul wurde später ins
Krankenhaus gebracht.
Willkürliche Verhaftungen
Abdouls Verurteilung ist nicht die einzige ohne Beweisgrundlage: Keinem der
Angeklagten konnte individuell nachgewiesen werden, einen Polizeibeamten
verletzt zu haben. Stattdessen sprechen Augenzeugen von massiver
Polizeigewalt gegen die DemonstrantInnen.
Am 17. und 18. Juni 2017 hatte eine Gruppe mehrheitlich afrikanischer
Geflüchteter einen Sitzstreik vor dem Europäischen Asylbüro auf Lesbos
organisiert. Sie forderten, dass alle Menschen, die seit über sechs Monaten
im überfüllten Lager Moria leben müssen, auf das Festland weiterziehen
dürfen. Die Polizei löste die Proteste mit Tränengas auf.
Auf Videos ist zu sehen, wie Beamte auf MigrantInnen einprügeln und sie mit
Steinen bewerfen. Die Gewalt eskalierte: Autos wurden beschädigt und
kleinere Feuer breiteten sich aus. Es kam zu zahlreichen Festnahmen, 35
Geflüchtete wurden anschließend einem Haftrichter vorgeführt.
Doch die Festnahmen seien völlig willkürlich erfolgt, ohne Anhaltspunkte,
wer an den Ausschreitungen beteiligt gewesen sei, meint die Anwältin
Lorraine Leete. Menschen im afrikanischen Sektor seien gewaltsam und völlig
willkürlich nur aufgrund ihrer Hautfarbe aus ihren Wohncontainern gezogen
worden.
„Diese Prozesse hätten nie stattfinden dürfen“
Die Staatsanwaltschaft dagegen meint, die Polizei habe nur MigrantInnen
festgenommen, die tatsächlich protestiert und mit Steinen geworfen hätten.
Sie kündigte an, Untersuchungen gegen elf Beamte aufzunehmen, von denen
damals Gewalt ausging.
Dem unabhängigen Komitee internationaler Menschenrechtsbeobachter, das den
Gerichtsprozess auf Chios begleitet hat, geht diese Maßnahme nicht weit
genug. Sprecher James Nichol glaubt: ein Großteil der Polizisten war bei
den Festnahmen von Rassismus getrieben. „Diese Prozesse hätten nie
stattfinden dürfen“, meint Nichol. „Von Anfang an gab es keine belastbare
Beweise gegen die Angeklagten.“
Zwar sind die Haftstrafen für die Geflüchteten vorübergehend ausgesetzt.
Aber das Urteil zeigt: Festnahmen durch die Polizei sind grundsätzlich
legitim, Widerstand gegen die Zustände in den Lagern wird nicht geduldet.
Auf den griechischen Inseln kommt es immer wieder zu Protesten von
Geflüchteten. Seit dem EU-Türkei-Deal sitzen die Menschen dort oft
monatelang in überfüllten Lagern fest. Dabei hatte der griechische
Staatsrat nur drei Tage vor Prozessauftakt entschieden, dass es nicht
rechtens sei, die Bewegungsfreiheit der Menschen einzuschränken, und berief
sich auf die unmenschlichen Lebensbedingungen in den Hotspot-Lagern.
Nur zwei Tage später wurde diese Entscheidung de facto durch eine
Asylrechtsreform gekippt. Daraufhin war es erneut zu friedlichen Protesten
auf Lesbos gekommen, die Rechtsextreme angriffen. Mehrere Geflüchtete
wurden verletzt.
30 Apr 2018
## AUTOREN
Lucia Heisterkamp
Valeria Hänsel
## TAGS
Geflüchtete
Lesbos
Refugees
Lager
Protest
Urteil
Haft
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Ungarn
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