# taz.de -- Debatte Arabischer Frühling in Tunesien: Alte verwalten Junge | |
> Wie kann die gesellschaftliche Transformation gelingen? Nur wenn junge | |
> Menschen begründete Hoffnung auf eine ökonomische Perspektive haben. | |
Bild: Protestkundgebung gegen steigende Preise und Steuererhöhungen im Januar … | |
Proteste und Demonstrationen in ganz Tunesien, ein toter Demonstrant, | |
[1][hunderte Festnahmen.] Die Proteste richten sich gegen die Erhöhung der | |
Mehrwertsteuer und der Sozialversicherungsbeiträge bei gleichzeitigen | |
Preiserhöhungen. Die Maßnahmen sind Teil des Sparhaushalts 2018, auf den | |
sich Tunesien mit seinen Gläubigern geeinigt hat, und sie treffen die Armen | |
und die Mittelschicht. | |
Hohe Arbeitslosigkeit unter Jugendlichen, fehlende Lebensperspektiven waren | |
Auslöser des Arabischen Frühlings. Initialzündung für den Sturz Ben Alis, | |
der am 14. 1. 2011 flüchtete, war die Selbstverbrennung des jungen | |
Gemüsehändlers Mohamed Bouazizi. Mit seinem wirtschaftlichen und sozialen | |
Elend konnte sich eine ganze Klasse junger Menschen identifizieren. | |
Tunesien ist der letzte demokratische Hoffnungsträger des Arabischen | |
Frühlings. Doch misst man den Erfolg des Modells Tunesien an der | |
Lebenssituation der tunesischen Jugend, fällt die Bilanz mager aus. Kein | |
Land hat im Verhältnis zur Einwohnerzahl so viele junge Leute [2][bei den | |
Terrormilizen des Islamischen Staates]. Und 40 Prozent der Jugendlichen | |
würden gerne ihr Land verlassen. Die italienischen Behörden haben 2017 fast | |
8.000 Tunesier aufgegriffen. Zwei Drittel davon Männer, zwischen zwanzig | |
und dreißig Jahre alt. Ein großer Teil der tunesischen Jugend ist | |
frustriert, wirtschaftlich und politisch abgehängt. | |
Eine Kaste alter Politiker, verkörpert im greisen Staatspräsidenten Beji | |
Caid Essebsi (92), regiert das Land zusammen mit der islamistischen | |
Ennahda. Das Credo beider Parteien ist ein absoluter Neoliberalismus. Der | |
Kampf gegen Arbeitslosigkeit beschränkt sich darauf, den üppigen | |
Beamtenapparat weiter aufzublähen. | |
## Problem Korruptionsamnestie | |
Trotz eines neuen Antikorruptionsgesetzes und eines verstärkten | |
strafrechtlichen Vorgehens existiert die Parallelwirtschaft weiter. Die | |
Behörden vermuten, dass in der über 30 Jahre andauernden Ära von Ben Ali | |
mehr als drei Milliarden Dollar Bestechungsgelder geflossen sind. Personen, | |
gegen die ein Verfahren wegen Korruption aus dieser Zeit läuft, könnten nun | |
mit dem neuen Antikorruptionsgesetz gestohlene Gelder preisgeben und | |
zurückzahlen – und dadurch ungestraft davonkommen. Kritiker sehen in dieser | |
Korruptionsamnestie einen Widerspruch zu den Idealen der Revolution. Sie | |
befürchten, dass die alten, kriminellen Eliten wieder in die Gesellschaft | |
integriert werden. | |
Und die Superreichen denken ohnehin nicht daran, im eigenen Land zu | |
investieren und für mehr Wohlergehen zu sorgen. Ihnen und einer | |
saturierten, städtischen Mittelschicht sind die abgehängten Jugendlichen | |
und ihre Brüder, die Bootsflüchtlinge, so fern wie einem deutschen | |
Grenzbeamten. | |
Tunesien hängt am Tropf internationaler Geldgeber. Geberländer und | |
Finanzinstitutionen haben für die Jahre 2016 bis 2020 Investitionen vor | |
allem in den Bereichen Umwelt, Energie und soziale Entwicklung von rund 6,5 | |
Milliarden US-Dollar vereinbart und weitere 8,3 Milliarden US-Dollar | |
zugesagt. Auch Deutschland ist pro Jahr mit fast 300 Millionen Euro dabei. | |
Allerdings ist in allen drei Bereichen von Reformen wenig zu spüren: Im | |
Kampf um Posten und Pöstchen, im bewegten Machtkarussell eitler Politiker | |
herrscht der Reformstau. Die Kommunalwahlen, ein wichtiger Baustein für | |
Bürgerbeteiligung, werden immer wieder verschoben, während sich die | |
Müllberge in den Ortschaften häufen. | |
„Die politische und gesellschaftliche Transformation der nordafrikanischen | |
Länder kann nur gelingen, wenn die jungen Menschen begründete Hoffnung auf | |
eine ökonomische Perspektive haben“, schreibt die Gesellschaft für Politik | |
und Wissenschaft. Zwar ist es Tunesien und den meisten nordafrikanischen | |
Staaten gelungen, das Bildungsniveau der Bevölkerung zu heben – mit | |
Ausnahme von Marokko und Sudan. Aber eine Anhebung des Bildungsniveaus ist | |
keine Beschäftigungsgarantie. Wo es zu wenig Arbeit gibt, sind junge | |
Erwachsene von Staat und Familie abhängig. Die Jugendlichen befinden sich | |
in einem Wartestadium, in dem die Hoffnung auf ökonomische und | |
gesellschaftliche Teilhabe schwindet. | |
## Neoliberale Ausrichtung der Politik | |
Hinzu kommt die demografische Entwicklung. Dabei steht Tunesien mit seinen | |
heute elf Millionen Einwohnern besser da als andere arabische Staaten. In | |
den sechziger Jahren hatten Syrien und Tunesien noch etwa gleich viele | |
Einwohner, nämlich fünf Millionen. Heute aber gibt es etwa doppelt so viele | |
Syrer wie Tunesier. Der Grund ist einfach: In den sechziger Jahren hat | |
Präsident Habib Bourguiba dafür gesorgt, dass die Pille zugelassen und | |
kostenfrei war, Abtreibung erlaubt wurde. | |
Das Bevölkerungswachstum überfordert die Staaten und die familiäre | |
Solidarität. Hinzu kommt, dass die Modernisierung traditionelle Strukturen | |
auflöst, und die neoliberale Ausrichtung der Politik tut ihr Übriges, um | |
soziale Reformansätze im Keim zu ersticken. So wächst eine Generation von | |
Enterbten heran: ökonomisch, politisch, kulturell. | |
„Während die Generation der 1960er Jahre an die staatlichen Utopien glaubte | |
und von der wirtschaftlichen Prosperität profitierte, ist die heutige | |
Generation in ihrem Sozialaufstieg blockiert“, schreibt Professor Rachid | |
Ouaissa vom Centrum für Nah- und Mitteloststudien. Statt um politische | |
Themen wie Meinungsfreiheit gehe es den meisten jungen Menschen um die | |
Sicherung ihrer Grundbedürfnisse. So das Fazit einer aktuellen Studie, die | |
im Auftrag der Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) in acht Ländern im Nahen | |
Osten und Nordafrika durchgeführt wurde. | |
Diese Jugend kämpft um Teilhabe, ein würdiges Leben, um Arbeit, | |
Perspektiven. Und jene, die Gerechtigkeit auf ihre Fahnen geschrieben | |
haben? Die Linke ist in Tunesien zersplittert und wirkt mit ihren „ismen“ | |
unattraktiv. Tunesien braucht eine neue linke politische Alternative von | |
unten. Wie Podemos in Spanien, wo die Jugendarbeitslosigkeit mit 38,2 | |
Prozent kaum weniger hoch ist. | |
12 Jan 2018 | |
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## AUTOREN | |
Edith Kresta | |
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