# taz.de -- Jahrestag in Tunesien: Hilfe kommt sieben Jahre zu spät | |
> In Tunesien gibt es am siebten Jahrestag der Revolution nichts zu feiern. | |
> Der Unmut in den Armenvierteln ist dafür umso größer. | |
Bild: Protest am Samstag in Tunis | |
TUNIS taz | Tunesiens Regierung will bedürftigen Familien mit einem | |
Sozialprogramm in Höhe von 60 Millionen Euro helfen. Damit möchte | |
Premierminister Youssef Chahed die durch ein Sparprogramm am 1. Januar | |
gestiegenen Preise für rund 250.000 Familien, die unter der offiziellen | |
Armutsgrenze leben, erträglicher machen. | |
Ob die von Staatspräsident Béji Essebsi und Chahed am Samstag verkündete | |
Maßnahme die landesweiten Proteste stoppen können, scheint fraglich. Zwar | |
gingen am Sonntag, dem siebten Jahrestag des Sturzes von Langzeitherrscher | |
Zine el-Abidine Ben Ali, im Zentrum von Tunis nur wenige Hundert Aktivisten | |
auf die Straße. Doch in Armenvierteln wie Ettadhamen und zahlreichen Orten | |
im Süden des Landes treibt die Tatenlosigkeit des Staates immer mehr junge | |
Leute auf die Barrikaden. | |
Khalifa Chibani, Sprecher des Innenministeriums, gab die Zahl der | |
Verhafteten mit 803 an. Die seit den Anschlägen gegen ausländische | |
Touristen vor drei Jahren verschärften Antiterrorgesetze geben der Polizei | |
weitgehend freie Hand. Viele der zwischen 15 und 18 Jahre alten | |
Demonstranten außerhalb von Tunis haben weder politischen Forderungen noch | |
die Hoffnung, dass sich mit den für Mai geplanten Kommunalwahlen ihre | |
Chancen auf einen Job bessern. | |
Brennende Barrikaden, ein Anschlag auf die jüdische Gemeinde und | |
Molotowcocktails auf einen Zug bei Hammam-Lif prägen das Bild des | |
Vorzeigestaates der arabischen Welt kurz vor Beginn der Touristensaison. | |
Sowohl Politiker der reformierten ehemaligen Regierungspartei Nida Tunis | |
als auch der moderaten Islamisten von Ennahda, gaben sich der taz gegenüber | |
sicher, dass eine internationale Verschwörung hinter den Protesten stecke. | |
## Das Lohnniveau stagniert | |
Dabei fordern viele Demonstranten nur, dass die Regierung das neue | |
Finanzgesetz kassiert, energischer gegen Korruption vorgeht und die | |
Lebensmittelpreise wieder senkt. | |
„Mich interessiert herzlich wenig, dass der Friedensnobelpreis nach | |
Tunesien ging und alle Welt uns als Vorreiter des Arabischen Frühlings | |
sieht. Für mich hat sich in sieben Jahren wenig verändert, den Staat kenne | |
ich nur in Form von willkürlichen Polizeibeamten und Korruption“, sagt der | |
25-jährige Hussam Halaoui aus Ettadhamen. In dem nördlichen Vorort von | |
Tunis versuchen islamistische Gruppen seit dem Sturz Ben Alis, junge Männer | |
zu rekrutieren. | |
„Hier hat nur eine kleine Minderheit einen Job, von dem man leben kann“, | |
sagt Halaoui, der sich als Tagelöhner auf dem Markt durchschlägt. Die | |
Preissteigerungen für Lebensmittel sind zwar verhältnismäßig gering, doch | |
das Lohnniveau stagniert seit Jahren, und der Kurs des tunesischen Dinars | |
fällt weiter. Halaouis Mutter verdient als Kassiererin der französischen | |
Supermarktkette Monoprix umgerechnet 200 Euro im Monat, die fünfköpfige | |
Familie muss mit 600 Euro zurechtkommen. | |
Der Staat hat die Milliardenkredite der EU, Weltbank und der Golfstaaten | |
vor allem in den öffentlichen Sektor und die Sicherheit investiert. Die | |
Jugend in Vierteln wie Ettadhamen will nach Umfragen mehrheitlich | |
auswandern, doch selbst für die Überfahrt nach Italien fehlt vielen | |
mittlerweile das Geld. | |
## Tunesien muss zahlen | |
Der 88-jährige Präsident besuchte am Jahrestag des Aufstandes erstmals | |
Ettadhamen und versuchte, in einem Jugendzentrum für die Maßnahmen der | |
Regierung zu werben. | |
In diesem Jahr muss Tunesien die ersten Raten des 2,9 Milliarden Dollar | |
Kredites der Weltbank zurückzahlen und den aufgeblähten öffentlichen Sektor | |
abbauen. Trotz des 2017 wieder gestiegenen Exports landwirtschaftlicher | |
Produkte und neuen Rekordzahlen an Touristen ist ein Viertel des | |
Staatsbudgets in diesem Jahr ungedeckt. Doch auch sieben Jahre nach dem | |
Umsturz treiben die noch immer nicht demokratisch gewählten | |
Regionalbehörden kaum Steuern ein. Ärzte und Geschäftsleute bestimmen von | |
den Finanzämtern meist ungeprüft selbst, wie viel Steuern sie zahlen. | |
14 Jan 2018 | |
## AUTOREN | |
Mirco Keilberth | |
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