# taz.de -- Sieben Jahre nach der Revolution: Tunesiens Sehnsucht nach Frühling | |
> Im benachteiligten Süden des Landes warten die Leute vergeblich auf ein | |
> besseres Leben. Und manche wollen nicht mehr einfach nur warten. | |
Bild: Kasserine liegt am Fuße der Chaambi-Berge, wo sich immer noch bewaffnete… | |
KASSERINE taz | Mohamed tritt abrupt auf die Bremse. Der Unternehmer kennt | |
den Checkpoint auf dem Weg zu seinem Marmorwerk am Fuße der kahlen Berge, | |
die ein paar Kilometer von Kasserine entfernt in der Sonne liegen. In der | |
Stadt selbst ist es kalt und regnerisch. Die Soldaten haben sich Masken | |
über das Gesicht gezogen. Normalerweise stoppen sie den Besitzer der | |
Marmorfabrik nicht. Man kennt sich in Kasserine, trotz der 90.000 | |
Einwohner. | |
Mohamed Missaoui hat die Marmorfabrik von seinem Vater übernommen. Die zu | |
Tischplatten geschliffenen Steine exportiert er nach Italien oder an die | |
Touristenhotels an der tunesischen Mittelmeerküste. Es ist ein altes | |
Geschäft: Schon zu römischen Zeiten vor 2.000 Jahren exportierte man Marmor | |
aus Nordafrika übers Mittelmeer. | |
Wegen der ausländischen Gesichter an Bord des Jeeps stutzt der Soldat in | |
schwarzer Kampfmontur und winkt den 45-Jährigen an den Straßenrand. Am | |
Stadtrand von Kasserine beginnen die Ausläufer der Chaambi-Berge – | |
militärisches Sperrgebiet. „Meldet euch, wenn ihr etwas seht“, gibt der | |
herbeigerufene Chef der Spezialeinheit nach Durchsicht der Papiere mit auf | |
den Weg. Ein Radpanzer rollt über die Landstraße, die durch grüne Felder | |
führt. | |
„Dabei gibt es schon lange keine Terroristen mehr“, sagt Mohamed, während | |
sein Jeep auf einer Brücke einen ausgetrockneten Flusslauf überquert, über | |
den sich die jungen Bewaffneten in den Bergen lange Zeit mit Lebensmitteln | |
aus der Stadt versorgt haben. Sie kommen aus dieser Gegend, aber hier | |
tappten sie immer wieder in die Falle der tunesischen Spezialkräfte. | |
## Kredite innerhalb des alten Netzwerks | |
Es waren meist junge, perspektivlose Männer, die sich seit Ende der | |
Revolution vor sieben Jahren in die Berge aufmachten, von islamistischen | |
Extremisten angelockt. „Hier im Süden Tunesiens hat sich für die meisten | |
jungen Leute wenig verbessert“, erläutert Fabrikant Mohamed. „Durch den | |
Wertverlust des Dinars und die steigenden Preise kommen viele Familien kaum | |
noch über die Runden. Die wenigsten jungen Männer haben einen Beruf. Viele | |
arbeiten tageweise für Schmuggler.“ | |
34 Arbeitsplätze hat der Unternehmer in seiner Marmorfabrik geschaffen. | |
Felsen werden in einem fünf Kilometer entfernten Steinbruch gesprengt, in | |
die Fabrik transportiert und in einer 20 Meter hohen Halle zu Tischplatten | |
oder Fliesen verarbeitet. Zwei Meter hoch sind die gigantischen Sägen, die | |
sich wassergekühlt und ohrenbetäubend durch die Steine fressen. | |
„Doch die Export- und Importregeln der EU erschweren mein Geschäft“, | |
beklagt Mohamed. Nur wer die komplette Produktion exportiert, profitiert | |
von Steuer- und Kreditvergünstigungen – „da ich aber auch an die Hotels an | |
der tunesischen Küste liefern muss, leide ich unter dem Klientelsystem, das | |
alle tunesischen Unternehmer im Würgegriff hat.“ Kredite für Investitionen | |
vergeben Tunesiens Banken lieber innerhalb der alten Netzwerke aus der Ära | |
Ben Ali, zu denen Privatunternehmer aus dem Süden keinen Zugang haben. | |
Unternehmer wie Mohamed Missaoui kann man im Süden Tunesiens an einer Hand | |
abzählen, sagt ein Vorarbeiter. Er steuert mit einem großen Lastenkran | |
tonnenschwere Brocken in die Produktionshalle. Mit bloßem Auge blickt man | |
von hier auf die 1.500 Meter hohen Gipfel der Chaambi-Bergkette. | |
## Einen Monat als Schmuggler | |
Der Krieg in den Bergen hat an Intensität verloren, aber er dauert an. Über | |
Chaambi fliegen US-Aufklärungsflieger, die von der italienischen | |
Mittelmeerinsel Pantelleria aus starten. Mohamed und sein Vorabeiter sind | |
in den letzten Jahren mehrmals am Fabrikgelände maskierten Männern | |
begegnet. „Sie glaubten, dass es hier bei uns Sprengstoff gibt, aber zogen | |
ab, als sie nichts fanden“, sagt Mahdi, ein Bergbauingenieur. | |
Wie Mohamed ist Mahdi froh, dass die Armee weiter Präsenz zeigt. „Doch nach | |
der Zerschlagung vieler Terrorzellen im ganzen Land müssen nun Lösungen für | |
die drängenden Probleme Tunesiens her“, sagt er. „Die Terrorgefahr ist für | |
die Behörden eine gute Ausrede dafür, dass sie nichts am korrupten System | |
aus der Zeit vor 2011 ändern.“ | |
Mohamed macht kaum noch Gewinn. Sein Familienbetrieb ist einer von nur | |
einem Dutzend privater Investitionen in Kasserine. Vorarbeiter Mahdi schaut | |
weniger sorgenvoll auf die Berge als auf die Kollegen in der Fabrikhalle. | |
„Wenn hier alle ihren Job verlieren würden, stünden ein paar Hundert | |
Demonstranten mehr auf der Straße“, meint er. | |
In Kasserine hat Tunesiens jüngste Protestwelle noch nicht das Ausmaß | |
erreicht wie in anderen Orten. Denn die Chaambi-Region ist nicht nur | |
Kampfzone, sondern auch ein offener Markt – die Grenze zu Algerien ist nur | |
50 Kilometer entfernt, Benzin aus Libyen und begehrte Waren wie Zigaretten, | |
Drogen und technische Geräte werden auf großen Parkplätzen gehandelt. Mit | |
einer Tour als Fahrer für einen Schmugglerring kann man sich einen Monat | |
über Wasser halten, erzählt Ahmed in einem Café am Platz „14. Januar“ im | |
Zentrum. Hier ging die Jugend vor sieben Jahren gegen die Polizei, Ben Ali, | |
Arbeitslosigkeit und die Zwänge des Familienlebens auf die Straße. „Ben Ali | |
ist weg, alles andere ist geblieben“, sagt Ahmed, der seit Jahren nach | |
einem vernünftigen Job sucht. | |
## Ohne Schmuggler eskaliert es erst recht | |
Früher, erinnert er sich, war diese Region die Kornkammer Tunesiens. „Nun | |
verdient man umgerechnet 6 Euro pro Tag als Aushilfe auf den Plantagen. | |
Davon kann man zwei Schachteln Zigaretten kaufen.“ Der Frust ist groß: Am | |
Freitag hat sich in Kasserine ein mehrere Hundert Mann starker Protestzug | |
auf den Weg gemacht. Anders als in Tunis gibt es kein politisches Ziel. | |
„Wir haben nichts mehr zu verlieren“, sagt Ahmed schlicht. | |
Wo keine bewaffneten Gruppen oder Schmuggler als Arbeitgeber zur Verfügung | |
stehen, eskaliert die Lage erst recht. Ein Besucher aus der Kleinstadt | |
Tella berichtet von einer neuen Generation von Demonstranten, die gut | |
organisatiert und mit Wut im Bauch die Polizei aus der Stadt getrieben | |
habe. „Sie sind kaum volljährig und haben anscheinend den Willen, den | |
ganzen Frust im Südwesten Tunesiens auf die Straße zu tragen.“ Sie wollten | |
sich an den Polizeibeamten für Schlagstock- und Tränengaseinsätze rächen. | |
Da hilft es wenig, dass die Armee die öffentlichen Gebäude bewacht. | |
Moaz Ghasalli wundert sich nicht über diese Wut. Der 36-Jährige aus | |
Kasserine ist in seiner Freizeit Aktivist gegen die durch den größten | |
Betrieb im Ort verursachte Umweltverschmutzung. Das Betriebsgelände der | |
staatlichen Papierfabrik SNCPA (Société Nationale de Cellulose et de | |
Papier) liegt mitten in der Stadt und beschäftigt über 800 Menschen. 12.000 | |
Tonnen Papier werden hier jährlich mit veralteten Methoden hergestellt. Der | |
Preis für die einzige staatliche Investition Kasserines ist hoch: Die | |
Quecksilberkonzentration im Grundwasser liegt weit über dem Grenzwert, die | |
Rate der Fehlgeburten steigt nach Einschätzung der Aktivisten stetig an. | |
## Geschlafen wird in Schichten | |
„Doch Messungen werden von den Behörden in Tunis vorgenommen“, schimpft | |
Familienvater Moaz. „Hier haben wir keine Institutionen, die sich für die | |
Belange der Bürger einsetzen.“ Zusammen mit Freunden renoviert er an den | |
Wochenenden einen Park, denn die Jugend Kasserines hat keinen Treffpunkt. | |
Erst im Mai, nach den Kommunalwahlen, will die Kommune den Plan | |
unterstützen. | |
Da in allen Gemeinden Tunesiens immer noch nicht gewählte technische | |
Verwaltungen arbeiten, viele noch aus der vorrevolutionären Zeit, steht die | |
Zeit auf kommunaler Ebene still. Die Folgen kennt Moaz Gharsalli nur zu | |
gut. Hauptberuflich inspiziert er für das Sozialministerium die Gefängnisse | |
der Region. Er berichtet von katastrophalen Haftbedingungen: In vielen | |
Haftanstalten teilen sich bis zu 100 Männer eine Zelle; geschlafen wird in | |
Schichten, weil nicht genug Betten da sind. | |
„Die Beamten und die Anstaltsleitung kooperieren mit uns und wollen die | |
Situation verbessern, aber sie haben nicht das Know-how oder das Geld“ | |
beklagt er. Also läuft alles so weiter. „70 Prozent der jungen Männer im | |
Gefängnis sitzen aus nichtigen Gründen oder unschuldig ein. Im Gefängnis | |
erst kommen sie mit Kriminellen oder Radikalen in Kontakt. Es ist ein | |
Teufelskreis.“ | |
In diesen Tagen werden Tunesiens Gefängnisse immer voller. Hunderte von | |
Menschen sind nach den jüngsten Unruhen verhaftet worden. Die neue | |
Generation der Protestler schreckt auch vor massiver Gewalt nicht zurück. | |
„Es ist ein Wettlauf gegen die Zeit – für Europa und die Politiker in | |
Tunis“, sagt Moaz Ghasalli. „Entweder man bietet den jungen Menschen hier | |
eine Perspektive, oder sie machen sich auf den Weg.“ | |
14 Jan 2018 | |
## AUTOREN | |
Mirco Keilberth | |
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