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# taz.de -- Kommunalwahl in Tunesien: Kinder der Revolution
> Sieben Jahre nach dem Arabischen Frühling finden in Tunesien freie
> Kommunalwahlen statt. Jugendaktivisten sehen darin eine Chance für
> Wandel.
Bild: Aktivisten in Tunis: „Wir sind für den Bruch mit den Volksverrätern u…
Tunis/Sidi Bouzid taz | Die Programme sind fast identisch. Bessere
Infrastruktur, mehr Grünflächen, ein städtisches Schwimmbad und
Arbeitsplätze lauten die Wahlkampfversprechen, die aus den Lautsprechern
der konservativ-islamischen Ennahda (Renaissance) schallen. Ihr
Wahlkampfzelt in Sidi Bouzid steht unweit dem der Partei Nida Tounes des
Präsidenten. Dort ist dasselbe zu hören, mit mehr Fokus auf Investoren.
Seit Tunesiens zwei wichtigste politische Kräfte zusammen in der Regierung
sitzen, grassieren Korruption und Vetternwirtschaft und die Bürger haben
den Glauben an einen Wandel verloren. Zum ersten Mal seit der Revolution
vor sieben Jahren finden nun Kommunalwahlen statt, in allen 350 Gemeinden
des Landes.
Wer im verwahrlosten Sidi Bouzid, wo Ende 2010 der Arabische Frühling
seinen Anfang nahm, politisch aktiv ist, weiß längst, was die Bürger
wollen: Jobs und eine Kommunalverwaltung, die nicht in Form eines korrupten
Beamten daherkommt, dem man für die einfachsten Verwaltungsvorgänge Geld
zustecken muss.
Ennahda-Chef Rashid Ghannouchi, Führer der tunesischen Islamisten, halten
viele bereits für den Wahlsieger. Doch im Interview mit der taz an seinem
Parteisitz in Tunis merkt man es dem 76-Jährigen an, dass er Angst vor den
unabhängigen Kandidaten hat. Und vor den Nichtwählern. Ghannouchi ist
erfahren genug, um die Wahlen nicht abzulehnen. „Doch klar ist, dass wir
kein neues Chaos brauchen“, warnt er.
## Der jungen Generation eine Stimme
Zu den Leuten, vor denen Ghannouchi Angst hat, gehört Wala Kasmi, die
zufrieden von der Terrasse im 7. Stock ihres Bürogebäudes in Tunis auf die
Straße blickt. Zwischen dem weißgetünchten Gründerzeit-Theater auf der
anderen Straßenseite und dem zwei Kilometer entfernten Glockenturm „wird
seit der Revolution Tunesiens Zukunft geschrieben“ flüstert die 28-Jährige.
Ihr Start-up-Unternehmen „Synergy“ hat sie bewusst vor zwei Jahren hier auf
der Avenue du Bourguiba gegründet, „damit die junge Generation im Zentrum
der Macht eine Stimme hat“.
„Dégage“, „geh“, hatten Anfang 2011 die Massen auf dem schnurgeraden
Prachtboulevard ihrem unbeliebten Präsidenten Ben Ali zugeschrien. Der
Langzeitherrscher floh nach Saudi-Arabien. Nun sind es junge Tunesier, die
ihre Heimat verlassen, weil sie keine Zukunft finden.
An diesem Morgen haben sich in Wala Kasmis Büro 15 junge Frauen und Männer
versammelt, mit Laptops. „We Code Land“ heißt Kasmis Idee: In zwölf Städ…
lernen junge Arbeitslose, wie man Apps und Webseiten programmiert. „Ob
Akademiker oder Langzeitarbeitslose – We Code Land soll jeden befähigen,
sich selbstständig zu machen“, erklärt die Unternehmerin.
Sie betont: „Jeder muss für den Kurs zahlen und für Anfahrt und
Übernachtung selbst sorgen. Die All-inclusive-Mentalität, die viele
internationale Organisationen anbieten, führt zu nichts.“ Kasmi wurde im
Dezember zu Tunesiens Internetunternehmerin des Jahres gewählt.
Tunesiens Regierung setzt auf die Rezepte der Vergangenheit. Nach
Straßenprotesten will Premierminister Youssef Chahed 250.000 bedürftige
Familien mit einem Sozialprogramm in Höhe von 60 Millionen Euro
unterstützen. Zusammen mit dem 91-jährigen Staatspräsident Bédi Caid
Essebsi muss der 44-Jährige aber zugleich ein Dilemma lösen: Die Weltbank
fordert die Rückzahlung eines Milliardenkredits, während im Süden Tunesiens
die Arbeitslosigkeit höher ist als zu Zeiten der Revolution und ein Viertel
des Staatsbudgets ungedeckt ist.
Schmuggel nach Libyen und Algerien macht mittlerweile einen Großteil der
Wirtschaftsleistung Südtunesiens aus. Selbst 7 Jahre nach dem Umsturz
treiben die lokalen Finanzämter kaum Steuern ein. Gutverdienende bestimmen
meist ungeprüft selbst, wie viel sie dem Staat überweisen.
## Kommunalpolitik hinter verschlossenen Türen
„Kein Wunder, dass die neuen Regierungen nach 2011 nicht in der Lage waren,
einen Ausweg aus der Misere zu finden“, sagt die politische Aktivistin
Chaima Bouhlel in ihrem kleinen Büro im Villenviertel Belvedere. Über
Radiosendungen und Podiumsdiskussionen motiviert sie Lokalpolitiker und
Parlamentarier, über ihre Arbeit zu sprechen. Umgekehrt bietet das den
Bürgern eine Plattform, die Politiker zur Rechenschaft zu ziehen.
„Der Kampf gegen Korruption auf Gemeindeebene macht doch erst Sinn, wenn
man konkret weiß, was hinter den seit Jahrzehnten für die Bürger
verschlossenen Büros der Kommunen vor sich geht“, sagt sie.
Chaima Boulel spricht schnell und gewandt englisch, ihre Sätze sind
geschliffen. Die Tochter eines Ägypters und einer Tunesierin hat die
Energie Kairos mitgebracht, lacht ihr Kollege Mohamed. Erst nach der
Revolution kam sie nach Tunis, „um das Vakuum nach der Revolution nicht den
Radikalen oder alten Netzwerken zu überlassen“.
Als größten Erfolg feiern die Aktivisten die Offenlegung der
Besitzverhältnisse aller Regierungs- und Parlamentsmitglieder und ihrer
Familien. Boulel blättert in einem der dicken Ordner auf ihrem Tisch, die
von einem Boten des Staatsarchivs geliefert wurden. „Als wir um die
Herausgabe der Dokumente baten, kamen diese prompt und wie vom Gesetz
vorgeschrieben“, lacht sie. Ihr Team arbeitete sich wochenlang durch 28.000
Deklarationen, die seit 1987 abgegeben wurden.
Nie zuvor hatte jemand um Einblick gebeten. „Unsere Anfrage zeigt, dass
nicht die Existenz von neuen Gesetzen die neue Freiheit ausmacht, sondern
der Wille der Bürger, auf die Umsetzung dazu pochen.“ Das will sie nun auch
in die Kommunen tragen: „Auf dem Land ist vielen gar nicht klar, welche
Rechte sie haben. Sie können an allen Gemeindeversammlungen teilnehmen –
aber fast niemand nutzt diese Chance.“
Plötzlich schlägt die Aktivistin mit der Hand auf den Tisch. „Von den
Volksvertretern höre ich oft, dass sich das Volk ja nicht für Politik
interessiert. Dabei reden die Leute den ganzen Tag darüber, sie wissen nur
nicht, wie sie sich konstruktiv einbringen können.“
5 May 2018
## AUTOREN
Mirco Keilberth
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Tunesien
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