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# taz.de -- Ausstellung im Zürcher Migros Museum: Der Körper als Währung
> Zusammenbrechende Frauen, öffentlich masturbierende Männer: Eine Zürcher
> Schau zeigt, was passiert, wenn Körper zum Kunstobjekt werden.
Bild: In der Ausstellung: Vanessa Beecrofts' „VB35 Performance“
Typisch Eskimo! Kaum zeigt man ihm zum ersten Mal in seinem Leben eine
Schallplatte, schon steckt er sie in seinen Mund und versucht wie ein
Kleinkind daran herumzukauen. Geradezu entzückend primitiv erscheint der
Inuit Nanook in dieser berühmten Szene aus „Nanook of the North“, einem der
ersten langen Dokumentarfilme der Welt. Aber Moment: Scheint es auf den
zweiten Blick nicht so, als folge der Protagonist beim Nagen an der
Schallplatte bloß einer Anweisung des Filmemachers? Und jagt er nicht an
anderer Stelle mit traditionellen Waffen, obwohl die Inuit zu seiner Zeit
eigentlich schon Gewehre benutzten?
Jene zweifelhafte Darstellung von Nanook als edlem Wilden bespricht der
israelische Videokünstler Guy Ben-Ner in „Escape Artists“ mit einer Gruppe
Migranten in einem Flüchtlingsheim in Holot, Israel. Knapp zwei Jahre lang
hat Ben-Ner mit den hier dauerhaft stationierten Menschen Workshops über
filmische Manipulationstechniken abgehalten. Dabei geht es nicht nur darum,
wie sich Eindrücke durch bestimmte Schnitte und Montagen vermitteln lassen
– sondern auch darum, wie das repräsentationspolitische „Andere“ durch d…
Medium Film konstruiert wird. Die praktisch im Flüchtlingslager gefangenen
Migranten erlernen so einen Weg, alternative Realitäten zu konstruieren und
konstruierte Realitäten kritisch zu hinterfragen.
Als eindeutig ermächtigendes Projekt gehört „Escape Artists“ zu den
unkontroversesten Werken, die in [1][„Extra Bodies“ im Migros Museum in
Zürich zu sehen sind]. Kein Wunder, schließlich ist die Thematik der
Ausstellung heikel: Es geht um den Einsatz des „anderen Körpers“ in der
zeitgenössischen Kunst, um die Arbeit mit wegen ihrer biosozialen Rolle
ausgewählten Statisten. Menschliche, in vielen Fällen marginalisierte
Körper werden hier zum Element eines kapitalistischen Tauschgeschäfts. Dass
diese Praxis zu Zeiten der wirtschaftlichen Deregulation der 90er Jahre
einen Boom erlebte, erscheint dem Ausstellungskurator Raphael Gygax nur
logisch: „Der Körper wurde damals zur Währung – und damit auch für den
Künstler als Ressource verfügbar.“
Als wohl berühmtester und umstrittenster Vertreter jener Praxis eröffnet
Santiago Sierra, der seine Statisten gegen ein geringes Entgelt tätowierte,
in Pappkartons steckte und öffentlich masturbieren ließ, die Ausstellung.
Eine Schwarzweißfotoserie dokumentiert eine Performance aus dem Jahr 2000,
in der zwei Asylsuchende einen langen Holzpfahl für mehrere Stunden
waagerecht zur Galeriewand halten – nach dem Schweizer Arbeitsgesetz eine
der wenigen minderwertigen Arbeiten, die Geflüchtete übernehmen dürfen.
## Nackte Beine und gebeugte Körper in Stilettos
Auch Vanessa Beecroft treibt die Darsteller ihrer Performances an ihre
körperlichen und psychischen Grenzen: In ihren Performances müssen Models
so lange starr in einer Pose verharren, bis sie vor Erschöpfung
zusammenbrechen. Damit inspirierte sie zwar unter anderem Kanye West zu den
Modenschauen für seine Yeezy-Kollektion, erntete aber auch harsche Kritik,
unter anderem von dem feministischen Künstlerkollektiv Toxic Titties, das
2001 eine Beecroft-Performance in der Gagosian Gallery unterwanderte.
Im Migros Museum ist von alldem wenig zu sehen. Eine Fotografie zeigt
lediglich nackte Beine und gebeugte Körper in Stilettos, die Gesichter der
Models sind abgeschnitten. Damit entspricht die fotografische Dokumentation
von „VB35 Performance“ den Ansprüchen der Ausstellung: Der andere Körper
soll nicht noch weiter skandalisiert und, zum Beispiel durch eine
Live-Performance, zum Event-Spektakel gemacht werden. So bleibt genug Raum,
sich die Frage zu stellen, die über fast all den gezeigten Arbeiten
schwebt: Darf man gesellschaftliche Ausbeutungs- und Machtverhältnisse
reproduzieren, um sie zu kritisieren?
Als Gino de Dominicis bei der Venedig-Biennale von 1972 einen Mann mit
Downsyndrom als eine Art Tableau vivant in eine Ecke setzte und einige
seiner älteren Werke betrachten ließ, löste er einen Skandal aus. Trotz der
gelegentlichen Faszination für die von psychisch kranken oder inhaftierten
Menschen geschaffene Art brut hatte der von der Norm abweichende Körper des
jungen Mannes namens Paolo Rosa in der Kunstwelt des 20. Jahrhunderts
keinen Platz – und wurde wenige Tage nach der Eröffnung aus der Biennale
verbannt.
Angesichts Ólafur Elíassons Lampenbastelfabrik bei der diesjährigen
Biennale wirft de Dominicas Arbeit neue Fragen auf. Elíasson lässt
Geflüchtete unter den Blicken der Besucher „Green Lights“ anfertigen, die
später für einen guten Zweck weiterverkauft werden. Zwar wird der
marginaliserte andere Körper hier nicht als Schockwerkzeug, sondern als
selbstbeweihräuchernde Manifestation der Offenheit und Toleranz des
Kunstfeldes benutzt – objektiviert wird er dennoch in beiden Arbeiten.
## Zu Werkzeugen und Statisten denunzierte Körper
Dem emigrierten Körper, der die gesellschaftspolitischen Diskurse der
letzten Jahre maßgeblich prägte, ist im Migros Museum eine ganze
Ausstellungsetage gewidmet. Zu sehen ist hier unter anderem eine
Videoarbeit des polnischen Künstlers Artur Żmijewski. Für „Glimpse“
bereiste er Flüchtlingslager in Berlin, Paris, Calais und Grande-Synthe.
In wackligen Schwarzweißaufnahmen fährt die Kamera die Körper der
Geflüchteten hinab, zeigt sie beim Fegen und beim Aufhängen ihrer vom Regen
durchnässten Kleidung. In einem brutalen Akt der Assimilation streckt der
Künstler schließlich seine eigene Hand ins Bild und bemalt das Gesicht
eines Flüchtlings mit weißer Farbe.
Dass die Kunst die Statistenrolle marginalisierter Körper nicht nur
reproduzieren und damit reflektieren, sondern auch umkehren kann, zeigt
Jonas Staats „New World Summit“. Staats wurde eingeladen, in Rojava, der
demokratischen Föderation Nordsyriens, ein öffentliches Parlamentsgebäude
zu errichten. In dem kugelförmigen, nach allen Seiten hin geöffneten
Gebäude soll eine direkte Demokratie praktiziert werden, die den ansässigen
Kurden ermöglicht, sich durch eine direkte Präsenz von der Rolle als „Extra
Bodies“ zu lösen, die ihnen unter anderem im Kampf gegen Assad zuteil
wurde. Den zu Werkzeugen und Statisten denunzierten Körpern einen Raum zur
Entfaltung bieten – sicherlich die unproblematischste Weise, künstlerisch
mit ihnen umzugehen.
9 Jan 2018
## LINKS
[1] http://www.migrosmuseum.ch/de/ausstellungen/ausstellungsshydetails/?tx_muse…
## AUTOREN
Donna Schons
## TAGS
Körperkult
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