| # taz.de -- ICE Berlin-München: Grüße aus dem Tunnel | |
| > Die Schnellstrecke Berlin–München ist fertig. Doch für unseren Autor sind | |
| > die knappen vier Stunden, die man nun brauchen wird, keine Revolution. | |
| Bild: Jetzt geht's ganz schnell von Berlin nach München und zurück | |
| Als ich noch lebte, um zu rauchen, und nicht wie heute ab und zu eine | |
| rauche, um netter zu leben, hatte ich das Nürnberg-Problem. | |
| Nachdem sich die Schneckenpost ICE Berlin–München durch Brandenburg, | |
| Sachsen-Anhalt und Sachsen durchgekämpft, sie das schöne Saale-Tal in | |
| Thüringen hinaufgetuckert war, um anschließend endlich ganz entspannt nach | |
| Oberfranken hinunterzubremsen – da war Nürnberg nicht nur die Aussicht, | |
| dass es nun nicht mehr gar so weit zum Zielpunkt Münchner Hauptbahnhof sein | |
| würde: Nein, ausgerechnet in Nürnberg lockten noch ganz andere | |
| Versuchungen. | |
| Denn schon vor dem löblichen Rauchverbot in den Zügen der Deutschen Bahn | |
| saß ich mit meinen Söhnen natürlich in einem Nichtraucherwagen. Und die | |
| vielen Jahre lang – Jahre, die ich heute schon wieder vermisse –, als sie | |
| noch klein waren, bettelte ich meine Söhne an, Teil der Rauchergemeinschaft | |
| sein zu dürfen, der in Nürnberg endlich ausreichend Gelegenheit geboten | |
| wurde, sich ihr Nervengift und ein paar hundert Giftstoffe reinzuziehen. | |
| ## Die eigentliche Revolution | |
| Meine Söhne haben das immer abgelehnt, aus der Urangst heraus, dass sich | |
| die Türen selbstständig schließen und sie von ihrer verzweifelt gegen die | |
| Scheiben des abfahrenden Zuges klopfenden Bezugsperson getrennt werden | |
| könnten. | |
| Also hielt ich durch – die nach Fahrplan mindestens sechs, gern auch | |
| sechseinhalb oder sechsdreiviertel, mit Verspätungen dann auch mal sieben | |
| bis hin zu acht Stunden, seit 18 Jahren jetzt, jedes Jahr vier- bis | |
| sechsmal Berlin–München–Berlin. Zwischenzeitlich probierte ich es mit | |
| Schnupftabak, bis mich meine Mutter am Bahnhof immer als Erstes darauf | |
| ansprach, was mir da Widerliches aus der Nasen hängen würde, ob das etwa | |
| ein „Schmeizler“ sei. | |
| Wenn ich jetzt die Zahlen 3:58 lese, diese lächerlichen paar Minütchen, die | |
| ab kommenden Sonntag im besten Fall zu verdaddeln sind, auf der | |
| Neubaustrecke der Bahn zwischen meinem Wohnort Berlin und meinem Geburts -, | |
| Eltern und Freundewohnort München – dann lässt mich das offen gesagt kalt. | |
| Denn die eigentliche Revolution bei der Kinderlandverschickung „auf der | |
| deutsche Eisebahne“ ist nicht die Fahrzeitverkürzung; die eigentliche | |
| Revolution war das iPad. | |
| ## Werde ich die langen Stunden vermissen? | |
| Seit mir unsere Geschäftsführung ein iPad praktisch [1][geschenkt] hat, | |
| habe ich von meinen Söhnen nicht mehr so viel mitbekommen beim Zuckeln. Und | |
| als sie dann ihre eigenen iPads hatten, war der Einzige, der in diesen | |
| langen Stunden zwischen Berlin und München oft nicht recht wusste, was er | |
| tun sollte, ich. Meistens bin ich dann ein Weißbier trinken gegangen, habe | |
| manchmal melancholisch mein Lieblingsbilderbuch von Richard Scarry, das | |
| Memory-Spiel, das Magnetschach oder die Schafkopfkarten mitgenommen. Aber | |
| niemand hat im Bordbistro mit mir spielen oder sich von mir was vorlesen | |
| lassen wollen. Und dann habe ich eben ein zweites Weißbier getrunken, was | |
| nicht so gut war, wenn im Zug mal wieder die Toiletten ausgefallenen waren. | |
| Aber es hat auch Spannung reingebracht. | |
| Werde ich die langen Stunden auf der alten Bahnstrecke Berlin–München | |
| vermissen? Ich hab sie mit Liebeskummer abgesessen, und verkatert, habe | |
| ganze Romane gelesen und Hunderte von Zeitungen und Zeitschriften und | |
| DB-Magazinen durchgeblättert. Ich habe Geschichten, Gedichte und Artikel in | |
| ihnen geschrieben und Tausende von SMS. Ich habe die Bahn oft verflucht und | |
| viel zu selten gelobt, die netten Schaffnerinnen und Schaffner und das | |
| Personal im Bistro, dieser Umschwung in der Stimmung, wenn Personalwechsel | |
| war und sich mit dem Dialekt auch der Habitus änderte, die Stimmung im | |
| ganzen Zug. Die einzige Nacht, die ich wegen Schneechaos auf der Strecke | |
| Berlin–München verbringen musste, saß ich übrigens im Auto ab (und Fliegen? | |
| Ist ja so was von öde und unbequem!). | |
| Ich bin nie in Jena Paradies ausgestiegen, nie in Saalfeld oder | |
| Lichtenfels. | |
| Ich grüße die Schokoladenfabrik Stollwerck, ein wirklicher Meilenstein auf | |
| dem langen Weg nach Süden, auf den ich meine kleine Tochter gern noch | |
| hingewiesen hätte. Und fahre jetzt in einen langen, dunklen Tunnel ein. | |
| 9 Dec 2017 | |
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| Ambros Waibel | |
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