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# taz.de -- Fall des Italieners Fabio V.: Vom G20-Gegner zum Hooligan
> Rund fünf Monate saß Fabio V. in U-Haft. Das verdankt er Richter Marc
> Tully. Der interpretiert eine Entscheidung des BGH höchst eigenwillig.
Bild: Kam gegen eine Kaution von 10.000 Euro frei: Fabio V.
Hamburg taz | Ein Richter macht Karriere, wenn er gewisse Bankmanager
laufen lässt, globalisierungskritische Jugendliche aber verknackt. Was wie
eine etwas simple Karikatur klingt, könnte in Hamburg eine ziemlich genaue
Beschreibung der Realität sein.
Rückblende: Im Sommer 2014 sprach die 8. Strafkammer des Landgerichts
Hamburg sechs Spitzenkräfte der hochverschuldeten staatseigenen
HSH-Nordbank frei, darunter den Ex-Vorstandsvorsitzenden Dirk Jens
Nonnenmacher und den früheren „Schiffsvorstand“ Peter Rieck. Die Manager
waren wegen schwerer Untreue und Bilanzfälschung angeklagt.
Die HSH-Nordbank hat den Ländern Hamburg und Schleswig-Holstein bis heute
mehr als 17 Milliarden Euro Schulden hinterlassen. Den Vorsitz beim
„größten Prozess, den es in Deutschland gegen Banker bisher gegeben hat“
(Handelsblatt) und der im vorläufigen Freispruch der Manager mündete,
führte der damalige Landrichter Marc Tully.
Das Urteil des Landgerichts Hamburg sei „rechtsfehlerhaft“, beschied der
Bundesgerichtshof im Oktober 2016 und kassierte den umstrittenen
Freispruch. Im kommenden Jahr soll der Prozess vor einer anderen
Wirtschaftsstrafkammer des Landgerichts neu aufgerollt werden.
Tullys Karriere tat das keinen Abbruch. Er stieg noch 2014 zum Vorsitzenden
des 1. Strafsenats des Hanseatischen Oberlandesgerichts auf. Damit ist der
50-Jährige ganz oben angekommen in der hamburgischen Gerichtsbarkeit.
## „Schwere der Schuld“ berücksichtigen
In dieser Position hatte Tully nun mit dem Fall des Italieners Fabio V. zu
tun, der wegen Landfriedensbruchs, versuchter schwerer Körperverletzung und
tätlicher Angriffe auf Vollstreckungsbeamte angeklagt ist.
Der junge Mann aus den Dolomiten war am Rande einer Demonstration kurz vor
dem G20-Gipfel am Morgen des 7. Juli festgenommen worden. Die Anklage wird
zwar vor dem Amtsgericht Hamburg-Altona verhandelt. Marc Tully hat jedoch
als Senatsvorsitzender am OLG bereits zweimal über die Untersuchungshaft
von Fabio V. zu entscheiden.
Am 21. Juli begründeten Tully und seine Beisitzer die Haft des damals
18-jährigen Beschuldigten mit der Fluchtgefahr, für die die „absehbar
empfindliche Freiheitsstrafe“ einen Anreiz darstelle. Gefängnis drohe dem
Italiener selbst dann, wenn Jugendstrafrecht angewandt werde. Anders seien
die „Anlage- oder Erziehungsmängel“ und die „tiefsitzende
Gewaltbereitschaft“ nicht zu beheben.
Man müsse nun mal die „Schwere der Schuld“ und den „Sühnegedanken“
berücksichtigen. Schließlich habe sich der Italiener an „schwersten
Ausschreitungen“ beteiligt und die „bürgerkriegsähnlichen Zustände“ be…
G20-Gipfel in Hamburg „mitverursacht“. Starker Tobak.
Kritiker wie der Bundesrichter a. D. und Strafrechtsprofessor Thomas
Fischer sahen in diesem Beschluss eine überzogene vorweggenommene
Strafzumessung, quasi eine unzulässige Vorverurteilung.
Das Kuriose: Die Staatsanwaltschaft wirft Fabio V. gar nicht vor,
eigenhändig Gewalt ausgeübt zu haben. Die Anklage beruht allein darauf,
dass der junge Italiener sich an einem Protestzug beteiligt haben soll, aus
dem heraus 18 Gegenstände in Richtung herannahender Polizisten geworfen
worden seien.
Die Demonstranten waren auf dem Weg in die Innenstadt, um dort eine
Sitzblockade abzuhalten. Bis dahin kamen sie nicht. Die Beamten lösten den
Protestzug auf, als er ein Industriegebiet im Westen Hamburgs durchquerte.
Kein Polizist wurde verletzt. Hingegen erlitten mehrere Demonstranten
Knochenbrüche.
## Fabio sei immer noch „dringend tatverdächtig“
Die „Ungleichheit“ in der Welt, die sich stetig verschärfe, die Anhäufung
der Gewinne durch einige wenige, Armut und Hunger von vielen, das habe ihn
bewogen, nach Hamburg zu kommen, erklärte Fabio V. vor dem Gericht. Kurz:
Er habe ein politisches Anliegen.
Vor einer Woche kam der Angeklagte nach viereinhalb Monaten
Untersuchungshaft [1][gegen Zahlung einer Kaution von 10.000 Euro frei.]
Unter dem Beschluss steht wieder der Name des OLG-Richters Marc Tully.
Einerseits rudert der 1. Strafsenat des OLG zurück. Tully und Kollegen
schlagen vor, zwei Anklagepunkte fallen zu lassen und das Verfahren auf den
Vorwurf des Landfriedensbruchs zu „beschränken“. Andererseits hält das OLG
eine Verurteilung des Angeklagten wegen Landfriedensbruchs in einem
besonders schweren Fall nach wie vor für „wahrscheinlich“. Er sei immer
noch „dringend tatverdächtig“. Das Strafmaß erstreckt sich von 6 Monaten
bis 10 Jahre.
Aber wie den dringenden Tatverdacht erklären? Das ist eine Herausforderung,
wenn man dem Angeklagten keine eigenen Gewalttaten nachweisen kann. Eine
bloße Anwesenheit bei einer Demo, aus der heraus einige Teilnehmer Steine
und Rauchtöpfe werfen, ist nach geltendem Recht kein „Landfriedensbruch“.
Marc Tully hat eine Lösung. Er verweist auf eine Leitentscheidung des
Bundesgerichtshofs vom vergangenen Mai. Darin bestätigen die Bundesrichter,
dass „ostentatives Mitmarschieren“ in einer geschlossenen gewaltbereiten
Gruppe für eine Verurteilung wegen Landfriedensbruchs ausreiche. Der Täter
leiste so „psychische Beihilfe“, weil er die Solidarität innerhalb der
gewaltbereiten Gruppe stärke.
## Hooligan? – einfach falsch zitiert
So weit, so gut. Wenn man nachschlägt, stellt man fest: Die Zitate sind
korrekt. Das haben die Karlsruher Richter wirklich geschrieben. Aber es
lohnt ein genauerer Blick: Die von Tully zitierte Leitentscheidung befasst
sich gar nicht mit einer politischen Demonstration, sondern mit einem
gezielten Überfall von Fußballhooligans auf Anhänger eines gegnerischen
Clubs.
Die Hooligans waren in Dreierreihen auf ihre Opfer zumarschiert, „um einen
militärischen Eindruck zu erwecken“, und hatten dann losgeprügelt. Hier
seien auch Teilnehmer der Gruppe schuldig, die nicht selbst zugeschlagen
haben, so der BGH.
Und dann grenzen die Karlsruher Richter ihren Hooligan-Überfall
ausdrücklich von politischen Demonstrationen ab: „Alle Teilnehmer der
Menschenmenge verfolgten einzig das Ziel, geschlossen Gewalttätigkeiten zu
begehen. Dadurch unterscheidet sich dieser Fall der
‚Dritt-Ort-Auseinandersetzung‘ gewalttätiger Fußballfans von Fällen des
‚Demonstrationsstrafrechts‘, bei denen aus einer Ansammlung einer Vielzahl
von Menschen heraus Gewalttätigkeiten begangen werden, aber nicht alle
Personen Gewalt anwenden oder dies unterstützen wollen.“
Was machen Tully und seine Beisitzer hier? Sie verweisen insgesamt sieben
Mal auf die BGH-Entscheidung, um zu erklären, warum der G-20-Gegner Fabio
V. schuldig ist. Aber sie unterschlagen das Entscheidende: dass es in dem
zitierten Text um Fußball-Rowdys geht und nicht um eine politische
Demonstration. Sie verschweigen, dass der BGH sogar ausdrücklich vor der
Übertragung des Hooligan-Falles auf eine politisch motivierte Demo gewarnt
hat.
## Juristisch alles andere als „brillant“
„Eine total abwegige Technik des Zitierens“, sagt der erfahrene
Rechtsanwalt Fred Hullerum aus Lüneburg, ein Studienkollege von
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier. Das sei entweder „Dummheit“ oder
„böser Wille“. Hullerum hat auf Anfrage der taz sowohl den Beschluss des
Hanseatischen OLG als auch die zitierte BGH-Entscheidung geprüft.
„Mit dieser Zitiertechnik setzt sich das OLG über die verfassungsrechtlich
geschützte Demonstrationsfreiheit hinweg“, empört sich Fabios Verteidigerin
Gabriele Heinecke. „Das ist wie im Absolutismus.“
Die taz hat das OLG um eine Stellungnahme zu den Vorwürfen gegen Tully und
seine Kollegen gebeten. Über das Wochenende war jedoch keine Antwort zu
erhalten. Die Erklärung für den OLG-Beschluss könnte allerdings recht
simpel sein: Möglicherweise sind in den Augen Tullys G20-Gegner, die gegen
den globalen Kapitalismus und seine Auswüchse demonstrieren, gleichzusetzen
mit prügelnden Fußball-Rowdys. Dann wäre seine Argumentation wieder
„juristisch sauber“.
Wie auch immer es sei: Das Bemühen um Härte im Fall Fabio kontrastiert
merkwürdig mit der Milde im Fall der HSH-Manager vor vier Jahren. Beides
erscheint juristisch alles andere als „brillant“.
4 Dec 2017
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[1] /Prozess-gegen-G20-Gegner-in-Hamburg/!5466197
## AUTOREN
Stefan Buchen
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