# taz.de -- Präparat schützt besser vor HIV/Aids: Auch ohne Kondom | |
> Ein Medikament soll zu angstfreierem Sex verhelfen – wenigstens einem | |
> Teil der Bevölkerung. Die Pille bricht damit mit einem Tabu. | |
Bild: Gibt’s zur Vorsorge in der Blisterverpackung (genau abgezählt) und auf… | |
Berlin taz | Jeden Abend um 20 Uhr klingelt bei Jörn Valldorf das Handy. | |
„Es erinnert mich daran, die Pille zu schlucken“, sagt der 43-Jährige aus | |
Mannheim. Er nimmt täglich die Prä-Expositions-Prophylaxe PrEP, was so viel | |
wie „Vorsorge, bevor man sich einem Risiko aussetzt“, bedeutet. Damit ist | |
Valldorf einer von geschätzt 1.500 Menschen in Deutschland. „Mir hat PrEP | |
geholfen, ein angstfreies Sexleben zu haben“, sagt er. Das Medikament | |
verspricht, beim Geschlechtsverkehr wirksam vor einer Infektion mit dem | |
HI-Virus zu schützen – auch ohne Kondom. | |
„Ich hatte mein Coming-out in einer Zeit, als die Diagnose ‚HIV positiv‘ | |
noch für ein Todesurteil gehalten wurde“, sagt Valldorf. Seitdem war er | |
beim Geschlechtsverkehr immer besorgt, dass das Kondom abrutscht oder reißt | |
und er sich so mit dem tödlichen Virus infiziert. „Dass ich heute durch | |
PrEP sicheren Sex ohne Kondom haben kann, ist eine enorme Befreiung für | |
mich“, sagt Valldorf. | |
PrEP kommt zu einer Zeit, in der Aids immer noch gefährliche Krankheit ist, | |
aber längst nicht mehr – wie in den achtziger Jahren – zwangsläufig | |
lebensbedrohlich. In Deutschland sind nach Schätzungen des | |
Robert-Koch-Instituts rund 88.000 Menschen HIV-positiv, im Jahr 2016 haben | |
sich etwa 3.100 neu angesteckt. | |
Nun könnte PrEP wenigstens für eine Bevölkerungsgruppe eine neue sexuelle | |
Befreiung bedeuten: homosexuelle Männer, die besonders aktiv sind, mit | |
häufig wechselnden Partnern. Sie können mit dem Medikament Sex ohne | |
lästiges Gummi genießen, aber trotzdem sicher vor einer Ansteckung sein. | |
## Bislang war die Pille sehr teuer | |
Allerdings hatte das bislang einen stolzen Preis. Nachdem die | |
Weltgesundheitsorganisation im Jahr 2012 empfahl, PrEP als zusätzliches | |
Präventionsmittel zu benutzen, wurde das aus den USA stammende Medikament | |
Truvada der Firma Hexal im August 2016 in der Europäischen Union als erstes | |
PrEP-Mittel zugelassen. | |
Die Monatspackung kostete hierzulande rund 800 Euro – und musste aus | |
eigener Tasche bezahlt werden. Erst seit Oktober ist es zu einem moderaten | |
Preis von rund 50 Euro für eine Monatspackung verfügbar. Das liegt an Erik | |
Tenberken. Er betreibt die Birken-Apotheke in Köln, die schon seit 1993 | |
eine HIV-Schwerpunkt-Apotheke ist. Nach der EU-Zulassung hätten im letzten | |
Jahr viele Kunden nach dem Mittel gefragt, doch es sei für die meisten | |
unbezahlbar geblieben. Tenberken: „Ich habe eineinhalb Jahre lang nach | |
einem Weg gesucht, das Mittel legal und bezahlbar zu machen.“ | |
Schließlich fand sich ein rechtlicher Umweg: In der zu seiner Apotheke | |
gehörenden Firma verpackt er Generikamedikamente neu – statt 30 Tabletten | |
sind in seiner Monatspackung nur 28 Stück. Dieses Umpacken wird | |
Verblisterung genannt. Dadurch darf er das Mittel für den günstigeren Preis | |
von 50,50 Euro weiterverkaufen. Mittlerweile hat Tenberken ein eigenes | |
Vertriebsnetz aufgebaut und beliefert über 60 HIV-Schwerpunkt-Apotheken in | |
ganz Deutschland. | |
Trotzdem ist PrEP immer noch eine Frage des Geldes. Denn es reicht nicht, | |
täglich eine Tablette zu nehmen. Wer sie haben will, muss auch alle drei | |
Monate zu einer ärztlichen Kontrolluntersuchung gehen und diese privat | |
bezahlen. Dabei wird man auf HIV und weitere sexuell übertragbare | |
Krankheiten wie Syphilis und Hepatitis C getestet, die Leberwerte werden | |
ebenfalls überprüft. Das kann pro Untersuchung 30 bis 80 Euro kosten. | |
## 5.000 Teilnehmende in mehreren Ländern | |
Der Berliner HIV-Spezialist Heiko Jessen hat es sich zur Aufgabe gemacht, | |
PrEP bekannter zu machen. In seiner Arztpraxis in der Motzstraße werden | |
derzeit 700 Klienten mit PrEP behandelt. Der Arzt sieht in dem Mittel eine | |
„hocheffektive Präventionsmaßnahme“. Das Medikament funktioniere, weil es | |
das beim Geschlechtsverkehr übertragene HI-Virus im Körper daran hindert, | |
sich zu vermehren. | |
Dazu muss der PrEP-Wirkstoff allerdings in ausreichender Menge in den | |
Schleimhäuten und im Blut vorhanden sein. Deswegen muss das Medikament | |
täglich eingenommen werden und nicht nur vor und nach dem Sex. PrEP wirke | |
zuverlässig bei allen, die das Medikament vorschriftsmäßig einnehmen, sagt | |
Jessen. | |
Gibt es Nebenwirkungen? Einige wenige Männer klagten über Übelkeit, | |
Durchfall oder Kopfschmerzen. Zudem kann PrEP die Leistungsfähigkeit von | |
Organen wie der Niere beeinträchtigen, weshalb man das Medikament wohl kaum | |
über Jahre hinweg nehmen kann. | |
In Jessens Praxis können Patient*innen derzeit an einer Studie teilnehmen, | |
mit der das weiterentwickelte PrEP-Medikament Descovy getestet wird. Es sei | |
schonend für die Leber, verspricht der Hersteller Gilead. Ob das stimmt, | |
überprüft die Studie mit 5.000 Teilnehmenden in mehreren Ländern. | |
## Es dient dem großen Ziel | |
Für Jessen ist PrEP nicht nur eine Alternative zum Kondom, sondern Teil | |
einer globalen Strategie, Aids zu bekämpfen. „Um das Ziel der Vereinten | |
Nationen zu erreichen, die HIV-Ansteckungsraten weltweit bis zum Jahr 2020 | |
und darüber hinaus dramatisch zu senken, brauchen wir die PrEP“, sagt er. | |
Schließlich ist es das hehre Ziel der Vereinten Nationen, Aids bis 2030 | |
auszurotten. Jessen: „Die steigenden Infektionszahlen in den vergangenen 15 | |
Jahren haben gezeigt, dass die Kondompropaganda nicht mehr funktioniert. Es | |
gibt also keinen Grund, sich auf die Schulter zu klopfen.“ | |
Wer PrEP nimmt, bei dem sollen durch die vierteljährlichen Untersuchungen | |
auch andere sexuell übertragbare Infektionen schnell zu erkennen und zu | |
behandeln sein. Ohne Kondom wächst die Gefahr, sich etwa mit Tripper, | |
Chlamydien und Hepatitis C anzustecken. | |
PrEP ist aber nicht nur für schwule Männer, die keine Lust auf das Kondom | |
haben, geeignet. Jessen: „Wenn jemand durch das Kondom Erektionsprobleme | |
bekommt, beeinträchtigt das die Lebensqualität.“ PrEP sei dann eine gute | |
Alternative. | |
Doch gerade die steigende Nachfrage nach PrEP bei Menschen mit vielen | |
Sexpartner*innen führt dazu, dass das Mittel weiterhin skeptisch betrachtet | |
wird. Als „Fickschlampe“ werden in der schwulen Community die bezeichnet, | |
die offen damit umgehen, dass sie PrEP benutzen – eine neue Form der | |
Diskriminierung, wie Aktivist*innen meinen. „Das hat sicher auch mit | |
Ängsten vor einer entfesselten, unkontrollierten Sexualität zu tun“, sagt | |
Holger Wicht, Sprecher der Deutschen Aids-Hilfe. „Schwule Männer haben in | |
den letzten 30 Jahren gelernt, dass man nur mit Kondomen Safer Sex hat. Man | |
bricht jetzt ein Tabu, wenn geschützter Sex ohne Kondom möglich sein soll.“ | |
So ist es umstritten, ob Krankenkassen für PrEP und die dazugehörigen | |
Untersuchungen zahlen sollen. Kritiker*innen sagen, dass die Allgemeinheit | |
nicht für den hedonistischen, promiskuitiven Lebensstil einer kleinen | |
Gruppe aufkommen soll. Befürworter*innen halten dagegen, PrEP helfe, die | |
Ausbreitung von HIV einzuschränken. | |
## Noch kaum auf dem Land | |
In San Francisco und London beobachten Ärzt*innen einen deutlichen Rückgang | |
der Neuinfektionen, seit PrEP dort zugelassen ist. Deshalb denkt HIV-Arzt | |
Jessen, dass die Krankenkassen durch die Kostenübernahme für die | |
vorsorgliche PrEP sogar finanziell entlastet würden; die Therapie für | |
HIV-positive Menschen ist ungleich teurer. | |
Doch seit ihrer Einführung ist die PrEP ein Großstadtphänomen geblieben. In | |
kleineren Städten und auf dem Land gibt es kaum spezialisierte Ärzt*innen. | |
„Wir kennen nicht einen Arzt in Sachsen-Anhalt, der das verschreibt“, sagt | |
Sven Warminsky von der Aids-Hilfe in Magdeburg. Um das Medikament bekannt | |
zu machen, will Warminsky ab Januar eine eigene PrEP-Sprechstunde in den | |
dortigen Räumen der Aids-Hilfe einrichten. „Dafür suchen wir aber gerade | |
noch nach einem Arzt.“ | |
Eine Lösung könnte ein Präparat sein, das am heutigen Freitag deutlich | |
günstiger auf den Markt kommt. Seitdem der Apotheker Tenberken das Mittel | |
preiswerter vertreibt, stehen die Pharmakonzerne unter Wettbewerbsdruck. | |
Emtricitabin/Tenofovir-ratiopharm 200 mg ist nun in allen Apotheken für | |
69,90 Euro bestellbar, nicht nur in den HIV-Schwerpunkt-Apotheken. Einen | |
Arzt, der das Mittel auf Rezept auch in ländlichen Gebieten verschreibt, | |
brauchen sie weiterhin. Die Aids-Hilfen bemühen sich daher, Ärzt*innen zu | |
sensibilisieren. | |
1 Dec 2017 | |
## AUTOREN | |
Markus Kowalski | |
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