# taz.de -- Deniz Yücel über die Absurdität der Haft: Klagt mich endlich an | |
> 271 Tage ist Welt-Korrespondent Deniz Yücel in Haft, ohne Anklageschrift. | |
> Er hat eine Einzelzelle, muss allein Fußball spielen und seinen Strom | |
> selber zahlen. | |
Bild: Als Deniz Yücel noch Meer sehen konnte | |
Doris Akrap darüber, wie [1][dieses Interview] entstand: „Am Dienstag sind | |
es neun Monate, die Deniz hinter Gittern verbringt. Als ich ihn das letzte | |
Mal in Istanbul besuchte, im Oktober 2016, musste er ins Krankenhaus, weil | |
ihm der Blinddarm entfernt wurde. Als ich ihn das letzte Mal sah, am 27. | |
Februar im Justizpalast von Istanbul, wurde ihm die Freiheit genommen. Nach | |
zweiwöchigem Polizeigewahrsam wurde er von sechs Wärtern vor das Büro des | |
Staatsanwalts geführt. Der Haftrichter entschied in dieser Nacht, Deniz | |
müsse in Untersuchungshaft. Die Vorwürfe: Terrorpropaganda und | |
Volksverhetzung. Die Begründung: zwei Texte, die in der Welt publiziert | |
wurden. Seitdem habe ich mit Deniz nicht mehr gesprochen. | |
Ich kenne ihn seit dem Abitur in den frühen Neunzigern. Als ich 2003 mein | |
erstes Interview für eine seriöse Zeitung führte (für die Jungle World, mit | |
dem türkisch-deutschen Rapper Killa Hakan) war Deniz mein Redakteur. Sein | |
wichtigster Rat: „Interviews sind auch ein Text. Du musst versuchen, eine | |
Geschichte zu erzählen“. Seitdem habe ich einige Interviews mit Leuten, die | |
irgendwas mit der Türkei zu tun haben, geführt. „Langsam hast du genug | |
zusammen für ein Buch: Doris’ lustige Türken-Interviews“, sagte Deniz | |
irgendwann. Ein Interview mit ihm selbst, weil er im Gefängnis sitzt, war | |
darin nie vorgesehen. | |
Dieses Interview ist auf ungewöhnliche Weise entstanden. Meine Fragen habe | |
ich schriftlich über Deniz’ Anwälte gestellt und Deniz hat sie über die | |
Anwälte schriftlich beantwortet. Meine Rückfragen und seine Antworten dazu | |
gingen dann auf demselben Weg noch zwei Mal hin und her. Dazwischen lagen | |
jeweils mehrere Tage. | |
Meine Fragen, so hoffe ich, sind auch die Fragen, die Leser interessieren, | |
die Deniz nicht so gut kennen. Sicher bleiben tausend Fragen offen. Vor | |
allem die, die ich nicht stellen konnte, weil er sie nicht beantworten | |
kann: Deniz, wann wirst du das Meer sehen?“ | |
taz am wochenende: Deniz, wie geht es dir? | |
Deniz Yücel: Och, ganz okay. Danke der Nachfrage. Obwohl noch immer keine | |
Anklageschrift vorliegt, weiß ich ja, weshalb ich eingesperrt bin: weil | |
ich, so meine ich mir einbilden zu können, meinen Job als Journalist | |
ordentlich gemacht habe. Und obwohl ich in Einzelhaft sitze, weiß ich, dank | |
der vielen Menschen, die sich für mich und für meine inhaftierten Kollegen | |
einsetzen, dass ich nicht alleine bin. Das hilft mir sehr. | |
Du hast im Juni in der Welt [2][beschrieben], dass es auch im Knast so was | |
wie ein Wochenende gibt. Alltag im Gefängnis – wie sieht der bei dir aus: | |
Gehst du jeden Abend um die gleiche Uhrzeit schlafen? Fragen die Wärter | |
dich morgens, wie es dir geht? Schneidest du so wie Paulie in deinem | |
Lieblingsfilm „Goodfellas“ den Knoblauch mit der Rasierklinge? | |
Silivri Nr. 9 ist ein Hochsicherheitsgefängnis; es gibt hier nichts, das du | |
aus „Die Verurteilten“ oder „Orange Is the New Black“ kennst – keinen | |
gemeinsamen Hofgang, keine Gemeinschaftsduschen, keinen Essenssaal. Und | |
natürlich keine Rasierklingen. Es kommt auch niemand, um abends das Licht | |
abzuschalten, sodass ich wie gewohnt spät zu Bett gehe; meistens gegen zwei | |
Uhr nachts. Dafür muss ich den Strom selber bezahlen. | |
Wie bitte? Aber Miete musst du nicht bezahlen? | |
Nee, nur Strom. Einmal im Monat kommt die Rechnung. Die Aufseher schließen | |
morgens die Tür zu meinem kleinen Hof, nehmen Anträge und Einkaufslisten | |
entgegen und schauen natürlich nach, ob noch alle da sind. Dann sind sie | |
immer in Eile, ebenso, wenn sie abends zum Abschließen und Nachschauen | |
kommen. Bei anderen Gelegenheiten plaudern wir schon, etwa wenn sie mich | |
zum Anwaltsgespräch begleiten. Wenn ich mir aus den wöchentlichen Einkäufen | |
im Knastladen etwas Warmes zu essen zubereiten oder das Gefängnisessen | |
aufbessern möchte, bleibt mir nur der Dampf aus dem Wasserkocher und ein | |
Gurkenglas. Hier würden auch Paulies Kochkünste an ihre Grenzen stoßen. | |
Apropos: Wenn du selber als Geisel genommen wirst, vergeht dir die Lust auf | |
Mafiageschichten. | |
Als du am 1. März ins Gefängnis von Silivri überstellt wurdest, sagte mir | |
dein Anwalt Veysel Ok, dass es dir dort besser gehen werde als in dem | |
Schmuddelknast Metris in Istanbul: „[3][Er kann dort Freunde finden.]“ Hast | |
du welche gefunden? | |
Meine Anwälte leisten unter auch für sie persönlich schwierigen Bedingungen | |
großartige Arbeit. Aber Veysel konnte nicht ahnen, dass ich in Einzelhaft | |
kommen würde. Dafür gibt es nämlich sonst kein anderes Beispiel; in | |
Istanbul bin ich der einzige Journalist in Einzelhaft. Normalerweise | |
bedeutet Einzelhaft übrigens auch keine völlige Isolation, es gibt Sport in | |
größeren Gruppen, und für einige Stunden in der Woche kann man sich mit | |
anderen Gefangenen seiner Wahl zusammenschließen lassen. Mit dem | |
Ausnahmezustand wurden diese Dinge abgeschafft. Immerhin: Seit Mai werden | |
im Gefängnis Silivri Nr. 9 die Gefangenen in Einzelhaft für eine Stunde in | |
der Woche auf den kleinen Sportplatz gelassen. | |
Du kannst jetzt also Fußball spielen? | |
Nein. Denn anders als meine Nachbarn – meist ehemalige Richter und | |
Polizeioffiziere – bin ich sogar dort alleine. Vorteil: Ich verlasse den | |
Platz stets als Sieger – könnte auch für den HSV oder die türkische | |
Nationalmannschaft ein interessantes Modell sein. Ich glaube, stattdessen | |
habe ich draußen viele neue Freunde gefunden. Hier drinnen aber nur einen: | |
den Richter in der Nachbarzelle, mit dem ich mich brüllend von Hof zu Hof | |
unterhalten kann, ohne dass wir uns je sehen würden. | |
Ist der Richter noch da? | |
Ja. Er hat zwölf Monate auf seine Anklageschrift gewartet und weitere vier | |
auf die Prozesseröffnung. Eines muss ich dazu sagen: Ich halte nicht alle | |
4.500 Richter und Staatsanwälte, die seit dem Putschversuch entlassen | |
wurden und von denen etwa die Hälfte verhaftet wurde, für unschuldig. So | |
manche haben sich als Anhänger der Gülen-Organisation in den politischen | |
Verfahren des Amtsmissbrauchs schuldig gemacht und gehören tatsächlich auf | |
die Anklagebank – zusammen mit den Verantwortlichen in der Regierung, die | |
diese Prozesse gefördert und unterstützt haben. Anderseits sitzen viele | |
Richter in Haft, die mit alledem nichts zu tun hatten. Das gilt auch für | |
meinen Nachbarn. | |
Du wartest seit über acht Monaten auf deine Anklageschrift. Sind die | |
Staatsanwälte überfordert oder lassen sie sich absichtlich Zeit? | |
Türkische Staatsanwälte haben in den vergangenen Monaten gezeigt, dass sie | |
beides können: sowohl seriöse Anklageschriften als auch fantastische | |
Literatur. In den Verfahren gegen die unmittelbar am Putschversuch | |
beteiligten Militärs und Zivilisten haben sie – soweit ich das aus der | |
Medienberichterstattung beurteilen kann – nicht nur überzeugende Beweise | |
für die individuelle Tatbeteiligung vorgelegt, sondern auch für die | |
federführende Rolle der Gülen-Organisation. Dennoch sind viele Fragen im | |
Zusammenhang mit dem Putschversuch unklar. Grob gilt: Je mehr sich die | |
Anklageschriften von den Vorgängen in jener Nacht entfernen, umso dünner | |
werden sie. In den Anklageschriften gegen Journalisten, oppositionelle | |
Politiker und kurdische oder linke Aktivisten zählen rechtsstaatliche | |
Prinzipien oder bloß Logik und Vernunft wenig. Die Fantasie ist so groß wie | |
die Schamgrenze niedrig. An Überforderung kann es also nicht liegen. | |
Allerdings liegt die Initiative auch nicht bei der Staatsanwaltschaft. Ein | |
Wort vom Chef und Anklageschrift, Prozesseröffnung und Freilassung laufen | |
in Rekordzeit, wie wir das bei Peter Steudtner und den anderen | |
Menschenrechtsaktivisten gesehen haben. | |
Du meinst, Freilassung ist Chefsache? | |
Ja. Schließlich hatte sich der Staatspräsident öffentlich zum Chefankläger | |
aufgeschwungen. Dasselbe hat er bei mir gemacht, bei den | |
Oppositionspolitikern, etwa Selahattin Demirtaş, und zuletzt beim | |
Unternehmer und Bürgerrechtler [4][Osman Kavala]. | |
Sind die Spatzen, die im Frühjahr in deinem Hof genistet haben, noch da? | |
Die Spatzen haben ihr Nest in der Sicherheit eines | |
Hochsicherheitsgefängnisses gebaut. Und als die Brut groß genug wurde, sind | |
sie ausgeflogen. Die sind ja nicht doof, die Spatzen. | |
Sind die Wärter überrascht, dass du immer noch da bist? | |
Silivri Nr.9 ist eine Art Promiknast; die meisten Häftlinge, für die sich | |
eine größere Öffentlichkeit interessiert, sitzen hier. Vor ein paar Jahren | |
waren hier İlker Başbuğ, der vormalige Generalstabschef der türkischen | |
Armee, und andere ranghohe Militärs inhaftiert. Heute sitzt hier zum | |
Beispiel Hüseyin Avni Mutlu, während der Gezi-Proteste 2013 Gouverneur | |
von Istanbul. Ich glaube, die Aufseher in Silivri Nr. 9 wundern sich über | |
gar nichts und haben noch mehr als alle übrigen Bürgerinnen und Bürger | |
dieses Landes folgende Wahrheit verinnerlicht: Das hier ist Türkiye, hier | |
kann jederzeit alles passieren. Insgesamt habe ich den Eindruck, dass die | |
Aufseher Angst haben, etwas falsch zu machen. Ein Angstregime richtet sich | |
nicht allein gegen Kritiker, sondern umfasst auch die Angehörigen des | |
Unterdrückungsapparats. Vollzugsbeamte, Richter, hohe Beamte, sogar | |
Regierungspolitiker – jeder hat Angst. Nur einer nicht. Oder besser: Er hat | |
noch mehr Angst als alle anderen, weil er weiß, was ihm blüht, falls er die | |
Macht verlieren sollte. Und darum unterwirft er eine ganze Gesellschaft | |
seinem Angstregime. | |
Im Juli hast du [5][in einem Text] für die Welt geschrieben: | |
„Türkei-Korrespondent müsste man jetzt sein.“ Wie viel von dem, was | |
deutsche Medien über die Türkei schreiben, kriegst du mit? | |
Ich freue mich, dass die deutsche Öffentlichkeit weiterhin so großen Anteil | |
an den Geschehnissen in der Türkei nimmt. Und ich bin meiner Zeitung, der | |
Welt, und den Kolleginnen und Kollegen in allen deutschen Redaktionen | |
dankbar, die mich nicht vergessen. Die deutschen Medien verfolge ich eher | |
indirekt über die türkischen. Meine Anwälte bringen mir manchmal wichtige | |
Artikel mit. | |
Von den Zeitungen, die du derzeit abonniert hast: Welche hat den besten | |
Sportteil? | |
Unabhängig von der politischen Ausrichtung und egal, ob sie nur eine oder | |
gleich fünf Sportseiten haben – die türkischen Zeitungen sind alle sehr | |
fußballistisch, wie es mein Freund und früherer Tischnachbar Jan Feddersen | |
formulieren würde. Sportfeuilleton, das ich gerne lese, gibt es so gut wie | |
gar nicht. Dafür habe ich die 11 Freunde, die mir mein Freund Imran | |
regelmäßig schickt. Die gefällt sogar der „Bildungskommission“, die alle | |
Druckwerke überprüft, die mir geschickt werden. Die einzige deutsche | |
Zeitung, die ich regelmäßig erhalte, ist die taz. (Dass ich jemals in den | |
Genuss eines taz-Knastabos kommen würde, hätte ich auch nicht gedacht, | |
vielen Dank dafür. Und liebe taz-Leserinnen und -Leser, vielen Dank für | |
[6][die Geburtstagsgrüße]!) Außerdem schickt mir Chefredakteur Tim Wolff | |
regelmäßig die Titanic. Beim ersten Mal waren die Aufseher sehr | |
misstrauisch. Ich habe dann gesagt: „Das sind ein paar Jungs aus Frankfurt, | |
die machen immer so Witze.“ Das hat die Wärter überzeugt. Seither läuft die | |
Übergabe reibungslos. | |
Du hast dir von deiner Schwester Ilkay vor ein paar Monaten Leo Tolstois | |
„Krieg und Frieden“ mitbringen lassen. Hast du extra dick bestellt, weil | |
man nie weiß, wie lang so ein Gefängnisaufenthalt dauern kann? | |
So ungefähr. Allerdings muss ich gestehen, dass ich das Buch noch immer | |
nicht angefangen habe zu lesen. Vielleicht ein Fehler. Denn womöglich | |
verhält es sich so wie mit der Zigarette beim Warten auf den Bus: Zündest | |
du sie dir an, kommt er sicher. | |
Die mächtigsten Krieger, heißt es in „Krieg und Frieden“, sind Zeit und | |
Geduld. Du musst sehr viel Zeit rumkriegen und Geduld aufbringen. Was an | |
deiner Situation in der Einzelhaft macht dir am meisten Sorgen? | |
Isolationshaft ist Folter. Auch wenn ich eigentlich guter Dinge bin, kann | |
ich nicht absehen, welche langfristigen Folgen das haben wird. Nur eine | |
Folge ahne ich bereits: Ich werde jeden vollquatschen, der mir über den Weg | |
läuft. Am meisten wird das natürlich Dilek ausbaden müssen. Dabei tut sie | |
jetzt schon so unendlich viel für mich. Und ich glaube, diese | |
Haftbedingungen haben auf alle eine ähnliche Wirkung, auch auf weniger | |
gesprächige Menschen. | |
Trotzdem: Immer wieder fragen mich Leute, ob Einzelhaft gerade für jemanden | |
wie dich, der so gerne redet, besonders hart ist. | |
Das wirst du mir vielleicht nicht glauben, aber ich habe mal gelernt: Man | |
muss ja nicht immer reden. Ansonsten schreibe ich lange Texte. Anfang | |
kommenden Jahres wird in der Edition Nautilus mein neues Buch erscheinen. | |
Titel: „Wir sind nicht zum Spaß hier“. Eine Auswahl aus meinen Texten in | |
der Welt, der taz und der Jungle World. Dazu zwei neue Beiträge und einen | |
Beitrag von meiner Frau Dilek. | |
Und du hast ja noch deine Anwälte, richtig? | |
Oh ja. Und zum Glück unterlagen meine Gespräche mit den Anwälten nie | |
irgendwelchen Beschränkungen. Zu mir kommen nicht nur meine eigenen, | |
sondern auch Anwälte, die hier andere Mandanten betreuen, setzen mich | |
regelmäßig auf ihre Besuchslisten. Und manche fahren nur aus Solidarität | |
achtzig Kilometer nach Silivri, auch wenn sie im engeren Sinne mit keiner | |
Verteidigung betraut sind. Die Anwälte sind die stillen Heldinnen und | |
Helden dieser Epoche der türkischen Geschichte. Soweit mir bekannt, hat die | |
schwierigsten Haftbedingungen der Journalist Nedim Türfent zu ertragen. Der | |
Mitarbeiter der inzwischen per Erlass geschlossenen prokurdischen | |
Nachrichtenagentur Diha sitzt seit 17 Monaten im Gefängnis, ein Jahr davon | |
in Einzelhaft; lange Zeit bekam er weder Zeitungen noch Bücher. Für seinen | |
Fall würde ich mir eine größere internationale Aufmerksamkeit wünschen. Der | |
nächste Prozesstag ist am 17. November in Hakkari im äußersten Südosten des | |
Landes. #FreeNedim. | |
Dein Anwalt hat in deinem Namen vor dem [7][Europäischen Gerichtshof] für | |
Menschenrechte Beschwerde über deine Inhaftierung eingelegt. Das Gericht | |
hat den Fall mit Vorrang behandelt und der Türkei eine letzte | |
Fristverlängerung für ihre Stellungnahme bis zum 28. November gewährt. Was | |
erhoffst du dir von diesem Gericht? | |
Nach all der Verschleppungstaktik der türkischen Seite hoffe ich, dass der | |
Gerichtshof nun zügig handelt. Also dass der Gerichtshof für die | |
überschaubare Anzahl von Journalisten und Abgeordneten, deren Klagen er | |
bevorzugt zu behandeln beschlossen und in deren Fällen er die türkische | |
Regierung zur Stellungnahme aufgefordert hat, ein Urteil zur Inhaftierung | |
spricht. Und danach werde ich gespannt sein, ob die türkische Regierung ein | |
Urteil aus Straßburg zur Haftentlassung befolgen wird. Das türkische | |
Verfassungsgericht hat sich ja komplett abgemeldet. In anderen aktuellen | |
Verfahren hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte bislang | |
zugunsten der türkischen Regierung entschieden – etwa im Fall der | |
zehntausenden entlassenen Lehrer und anderer Beamter. Die hat man auf eine | |
Kommission in der Türkei verwiesen. Das hat viele türkische Oppositionelle | |
enttäuscht. Ich verstehe diese Enttäuschung. Doch ich weiß auch: Der | |
Europäische Gerichtshof für Menschenrechte wurde gegründet, um einzelne | |
Menschenrechtsverletzungen zu korrigieren; nicht, um das Abdriften eines | |
Landes in den Faschismus aufzuhalten. | |
„Der Witz hat einen Bart. Beenden Sie diese Komödie“, hat Musa Kart, der | |
angeklagte Karikaturist der Cumhuriyet, in seiner Verteidigung [8][den | |
Richtern gesagt]. Als was, glaubst du, werden die derzeitigen | |
Gerichtsverfahren gegen Journalisten in der Türkei in die Geschichte | |
eingehen? | |
Als Schande. Wie die mit gefälschten Beweisen geführten Prozesse der | |
Gülenisten-Justiz in den Jahren 2007 bis 2011. Oder die Prozesse der | |
Militärjunta nach dem Putsch von 1980, in denen man mit systematischer | |
körperlicher Folter Geständnisse aus den Angeklagten herauszupressen | |
versuchte. Die Frage ist nicht, ob ein autoritäres Regime zusammenbricht; | |
die Frage ist, welche womöglich irreversiblen Schäden es bis dahin am | |
Schicksal Einzelner, an der Gesellschaft, an der Natur und am kulturellen | |
Erbe anrichtet. | |
Der beste Präsident wo gibt hat in einem Interview mit Giovanni di Lorenzo | |
in der Zeit [9][über die Deutschen gesagt]: „Sie gehen schlafen, Sie wachen | |
auf und sagen: Deniz“. Er hat recht. Sollten wir besser die Klappe halten, | |
damit er das Interesse an dir verliert? | |
Eine berechtigte Frage. Aber ich glaube, die Antwort lautet: nein. In den | |
letzten Monaten hat er sich kaum noch über mich geäußert. Trotzdem hat sich | |
an meiner Lage nichts verändert. Darüber, was in den Köpfen anderer Leute | |
vorgeht, können wir nur spekulieren. Aber ich weiß, wie es mir gehen würde, | |
wenn die Öffentlichkeit mich vergessen würde: nicht so gut. | |
Du hast kurz nach dem Putschversuch Ende Juli 2016 in der Welt [10][einen | |
Kommentar geschrieben], der den Titel trug: „Vielleicht fällt Erdoğans | |
Diktatur ja doch aus.“ Hast du dich geirrt? | |
Dilek meinte damals, ich würde die Dinge nur deshalb rosig sehen, weil ich | |
in sie verliebt sei. Das weise ich natürlich zurück – also nicht das | |
Verliebtsein, sondern dass ich mich in meinen politischen Einschätzungen | |
von solchen persönlichen Gefühlen leiten lasse. In diesem Text Anfang | |
August 2016 habe ich Indizien in aller Vorsicht zusammengetragen. Das Wort | |
„Vielleicht“ stand nicht zufällig in der Überschrift. | |
Anfang Oktober hast du in deiner Dankesbotschaft für den Leipziger Preis | |
für die Freiheit und Zukunft der Medien von einem „teilzeitfaschistischen | |
Regime“ gesprochen. Auf welche Kraft sollte man setzen, damit sich die | |
politische Situation wieder in Richtung Teilzeitdemokratie entwickelt? | |
Die große Frage lautet, ob sich die unterschiedlichen, teils | |
gegensätzlichen politischen Kräfte – Sozialdemokraten, säkulare | |
Nationalisten, Kurden, Liberale, Sozialisten, Kemalisten, Islamisten | |
außerhalb der AKP – auf ein gemeinsames Minimalprogramm verständigen | |
können, das meines Erachtens lauten muss: eine neue Verfassung, mit der das | |
Referendum rückgängig gemacht wird und die das Erbe des Putsches von 1980 | |
ersetzt. Das ist natürlich eine viel schwierigere Aufgabe, als wenn nur | |
jeder für sich „Nein“ sagt. Eine nicht minder wichtige Frage lautet, ob in | |
diesem Land unter diesen Umständen noch halbwegs freie und faire Wahlen | |
stattfinden und eine einwandfreie Auszählung der Stimmen möglich sein wird. | |
Wird Erdoğan im Fall einer Niederlage seine Macht einfach abgeben? | |
Darauf wird die Opposition eine Antwort finden müssen. Doch wenn sie sich | |
nicht zusammenrauft und eine Dynamik entfaltet und eine Erzählung | |
entwickelt, die auch einen Teil der bisherigen AKP-Wähler anspricht, gerade | |
das Heer der Armen und Arbeitslosen, dann wird sich diese Frage nicht | |
stellen. Dann wird Erdoğan mit einem unsauberen Wahlkampf, aber mit einer | |
sauberen Auszählung die wichtigste Wahl der türkischen Geschichte gewinnen. | |
Welche Farbe haben eigentlich die Wände deiner Zelle? | |
Beige. Und die drei Stahltüren (zum Flur, in den Hof und ins Bad), der | |
Fensterrahmen samt Stahlgitter und das Stahlbett: dunkelbraun. | |
Dunkelbraun sitzt jetzt auch im Bundestag. Schwarz-Gelb-Grün könnten die | |
Farben der nächsten Bundesregierung sein. Gut oder schlecht für die | |
Beziehungen Deutschland/Türkei? | |
Joschka Fischer sagte kurz nach der Bundestagswahl 1998: „Es gibt keine | |
grüne Außenpolitik, sondern nur eine deutsche Außenpolitik.“ Türkischen | |
Oppositionspolitikern und vielleicht sogar so manchem AKP-Politiker muss | |
ein solches Diktum geradezu traumhaft erscheinen. Denn die Türkei unter | |
Erdoğan wollte einst nach Europa. Dann gab sie sich Träumereien von einem | |
neuen Osmanischen Reich hin. Und seit Neuestem schwimmt sie in | |
„eurasischen“ Gewässern. Eigentlich gibt es aber gar keine türkische | |
Außenpolitik. Mit wem man sich gerade fetzt und mit wem man sich wann | |
wieder versöhnt, folgt allein kurzfristigen innenpolitischen Erwägungen. | |
Als Zustandsbeschreibung halte ich Fischers Satz für zutreffend, auch wenn | |
er die Frage aufwirft, wer denn die deutsche Außenpolitik bestimmt, wenn | |
nicht die durch demokratische Wahlen legitimierten Parteien. Ein weiterer | |
deutscher Außenminister, Frank-Walter Steinmeier, hat in seinen letzten | |
Tagen in diesem Amt den sehr richtigen Satz gesagt: „Wir können es nicht | |
verhindern, dass die Türkei in eine Diktatur abdriftet. Wir müssen dem aber | |
auch nicht tatenlos zusehen.“ Die entscheidende Frage lautet also, was kann | |
Deutschland, was kann Europa tun? | |
Wie lautet deine Antwort? | |
Ganz wichtig: die Zivilgesellschaft stärken. Und natürlich Druck ausüben. | |
Aber das muss sitzen. Die EU-Beitrittsverhandlungen nicht abzubrechen, war | |
zum Beispiel eine richtige Entscheidung. Das Einfrieren von EU-Geldern | |
hingegen ist reine Symbolpolitik. Eine ganz schlechte Idee ist Starksprech | |
– das ist etwa so erfolgversprechend, als würde man die Türken im Autokorso | |
herausfordern anstatt im Biathlon. Auch keine gute Idee: Maßnahmen, die | |
allein die Bevölkerung treffen wie der Visa-Beschluss der USA. Zuvor muss | |
man aber die Frage beantworten, ob man bereit ist, auch bei den eigenen | |
politischen und wirtschaftlichen Interessen Abstriche zu machen. | |
Der deutsche Außenminister [11][behauptet], Exkanzler Gerhard Schröder hat | |
mit dem türkischen Präsidenten über die Freilassung von Peter Steudtner | |
verhandelt. Wenn du dir aussuchen könntest, wer über deine Freilassung | |
verhandelt, wen würdest du wählen? | |
Ich will einen fairen Prozess. Und den am besten gleich morgen. Nicht mehr. | |
Nicht weniger. | |
Es gibt zwar keine Märchenfee, die den Gefangenen drei Wünsche erfüllen | |
kann, trotzdem: Was sind die drei wichtigsten Dinge, die du dir wünschst? | |
Ich nehme nur einen Wunsch: Gerechtigkeit. Alles weitere ergibt sich | |
daraus. Und die beiden übrigen Wünsche hebe ich für später auf, | |
einverstanden? | |
11 Nov 2017 | |
## LINKS | |
[1] /Inhaftierter-Journalist-in-der-Tuerkei/!5461876 | |
[2] https://www.welt.de/politik/ausland/article165310698/Selbst-im-Knast-gibt-e… | |
[3] /Deniz-Yuecel-im-Hochsicherheitsgefaengnis/!5385963 | |
[4] /Repression-in-der-Tuerkei/!5453882 | |
[5] https://www.welt.de/politik/ausland/article166994264/Tuerkei-Korrespondent-… | |
[6] /Happy-Birthday-Deniz/!5446176 | |
[7] /Fall-Yuecel-vor-dem-EGMR-in-Strassburg/!5457294 | |
[8] /Prozess-gegen-Cumhuriyet/!5446454 | |
[9] http://www.zeit.de/2017/28/recep-tayyip-erdogan-g20-gipfel-interview/komple… | |
[10] https://www.welt.de/kultur/article157367496/Vielleicht-faellt-Erdogans-Dik… | |
[11] /Wie-Schroeder-Peter-Steudtner-half/!5455832 | |
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